Kapitel 12

Lucinda

Mit zittrigen Fingern zog ich meinen Schal aus der Schublade für Mützen, Tücher und Handschuhe. Mein Herz schlug viel zu schnell und das Adrenalin schoss wie eine Droge durch meine Adern.

Ich musste das jetzt durchziehen, sonst würde ich es definitiv bereuen.

Meine Mom hatte immer noch Spätdienst, daher würde sie mein Fehlen nicht so schnell bemerken.

Hastig knuddelte ich mich in meinen flauschigen Schal, streifte mir meine Jacke über und schlüpfte in meine flachen, schwarzen, ausgelatschten Chucks. Anschließend griff ich noch nach meinen Schlüsseln, überprüfte, ob ich mein Handy in meiner rechten Arschtasche hatte und verließ die Wohnung. Fahrig stolperte ich das Treppenhaus nach unten, immer zwei Stufen gleichzeitig nehmend. Doch als mir dann doch ziemlich warme Nachtluft entgegenschlug, als ich die Haustür öffnete, hielt ich inne.

Vielleicht war das mit dem Schal doch keine so gute Idee.

Seufzend kehrte ich um und stapfte die Treppen wieder nach oben. Die Schlüssel klimperte laut, als ich die Wohnungstür aufschloss. Mit ein paar Schritten war ich bei der Kommode und stopfte den Schal wieder in die Schublade zu dem pinken Handschuh, dessen Partner ich vor drei Jahren verloren hatte. Aber ich brachte es nicht übers Herz, den anderen, armen Opferhandschuh zu entsorgen; Logan hatte sie mir damals zu Weihnachten geschenkt und ich schämte mich immer noch in Grund und Boden, weil ich den einen verloren hatte.

Ich wischte die Erinnerung aus meinen Kopf und machte mich erneut auf den Weg.

Der Schlüsselbund verschwand in der Tasche meiner dünnen, schwarzen Strickjacke und ich machte den Reißverschluss zu, damit er nicht rausfiel. Anschließend fummelte ich meine Kopfhörer aus meiner Jackentasche und friemelte sie auseinander. Es war erstaunt, wie viele Knoten im Kabel waren, nur von einmal in die Tasche stecken. Während ich sie entwirrte, ging ich die Straße entlang.

Eigentlich wusste ich nicht einmal, wohin ich lief.

Der Himmel über mir war pechschwarz, dicke Wolken drängten sich unheilvoll aneinander. Doch selbst wenn die Nacht sternenklar gewesen wäre, man hätte keinen Mond gesehen, es war soweit ich wusste Neumond. Oder zumindest war es kurz davor, konnte auch morgen erst sein.

Dann endlich, als ich unter einer Laterne durchlief, die gefährlich flackerte, hatte ich meine Kopfhörer entfitzt und steckte sie sowohl in mein Handy als auch in meine Ohren. Flink glitten meine Finger über das Display, als ich Jeans Nummer raussuchen. Ich drückte auf Anrufen.

Gott, ich konnte nur hoffen, dass er mir helfen konnte.

»Lucinda?«, erkundigte sich Jean nach drei Ruftönen.

Ich atmete tief durch. »Hi, kann ich kurz mit dir reden?«

»Du, das ist grade eigentlich blöd, ich hab hier gerade ein junges Ehepaar, das dringend darauf wartet, dass wir anfangen«, erklärte er entschuldigend. »Der Chef bringt mich um, wenn ich jetzt nicht mit helfe.«

»Bitte, nur ganz kurz«, bettelte ich. »Eigentlich wollte ich nur fragen, ob du zufälligerweise weißt, wo Álvaro wohnt.«

Jean seufzte. »Leider nein. Ich hab nicht einmal seine Nummer, sonst hätte ich längst noch einmal mit ihm gesprochen. Wieso fragst du?«

»Nur so«, sagte ich schnell. »Das war eigentlich alles. Danke dir trotzdem.«

»Kein Ding.« Ich konnte seine Verwirrung förmlich hören, aber er tat, als wäre nichts. »Ich mache dann mal weiter. Bis dann.«

»Bis dann.«

Wir legten auf.

Nur schwer konnte ich meine Enttäuschung verdrängen. Jetzt war ging die Wahrscheinlichkeit gegen Null, dass ich Álvaro fand.

Willkürlich machte ich mir irgendein Lied an.

Gestern in Mathe war er zusammengebrochen. Zwar hatte der Vampir sich kurz darauf wieder erholt und standhaft dagegen gewehrt, einen Krankenwagen rufen zu lassen, trotzdem hatte man ihn nach Hause geschickt.

Heute war Álvaro nicht in der Schule gewesen.

Ich hatte letzte Nacht kaum geschlafen, weil ich mir so schreckliche Vorwürfe gemacht hatte. Mir war das Herz stehengeblieben, als er umgekippt war. Ich meine, ich vermutete immer noch, dass er täglich Blut brauchte und das nicht bekommen würde, weil er nur freiwillig gegebenes trinken konnte. Und ich war mir fast sicher, dass er sterben würde.

Deshalb hatte es mich auch so beunruhigt, dass er heute nicht da gewesen war.

Wir hatten morgen Wochenende, daher hatte ich heute Nacht Zeit, ihn zu suchen, selbst wenn ich die ganze Nacht brauchen würde. Ich war schließlich dafür verantwortlich, dass Álvaro hier war und sterben würde.

Vorausgesetzt er brauchte wirklich Blut. Ein einziger Teil in mir hoffte immer noch, dass er zwar der Mann aus meinem Roman war, aber die vampirischen Eigenschaften abgelegt hatte. Dass er ein Mensch war und kein Blut brauchte.

Und vielleicht wirklich nur krank war.

Aber um die Gewissheit zu haben, musste ich ich ihn finden. Zumindest das war ich ihm schuldig.

Wahllos bog ich nach links ab.

Ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wo ich überhaupt anfangen sollte zu suchen. Álvaro konnte wirklich überall sein. In jeder Wohnung, in jedem Haus.

Dennoch sagte mir mein Gefühl irgendwie, dass er nicht drinnen sein würde. Ich kannte ihn. Hatte ihn geschrieben. Und er war nicht der Typ, der sich in einem Raum verkroch. Er liebte die Natur, die Stille der Nacht, ab und an durchbrochen durch den Schrei einer Eule oder den launische Flügelschlägen einer verirrten Fledermaus.

Da wir hier aber in einer kleinen Stadt waren, wenn auch einer wirklich sehr kleinen, würde Álvaro so eine Stille hier nicht bekommen. Dazu musste er raus aus den Straßen, an den Strand, oder zu den kleine Bergen, die unsere Heimat säumten.

Oder vielleicht an die Klippen, in welche der Strand nach Norden und Süden irgendwann mündete.

Ich nahm mir vor, die Straßen abzusuchen, dem Stand einen kurzen Besuch abzustatten und um die Stadt den Wald ein Stück abzulaufen.

In der Hoffnung, ihn zu finden.

Mir war durchaus bewusste, dass die Möglichkeit bestand, dass ich hier stundenlang umherirrte und nach einer gefühlten Ewigkeit nach Hause zurückgekehren musste, ohne irgendwie weiter zu kommen.

Sollte das der Fall sein, zog ich in Erwägung, Logan einzuweihen.

Die Sache war, dass wir uns eigentlich alles erzählten. Zwar wusste mein bester Freund, warum er nicht lesen durfte und hatte mir damals hoch und heilig versprochen, mein Buch auf jeden Fall zu kaufen, wenn ich es veröffentlichen würde, aber als ich es ihm gesagt hatte, hätte ich mir im Traum nicht ausmalen können, dass der Protagonist meines Romanes einmal vor mir stehen würde. Denn das änderte alles.

Ein weiteres Problem war, dass mich die Sache mit Álvaro ziemlich mitnahm. Die ganze Woche schon war ich völlig durch den Wind, zum Einen, weil Álvaro eigentlich nicht hier sein sollte, zum Anderen, nun ja, er war perfekt. Und verdammt noch mal genau mein Typ.

Und ich hatte definitiv Gefühle für ihn.

Auch wenn ich damit besser klar kam als Ash.

Der war immer noch mit Shira völlig überfordert. Heute auf dem Mädchenklo hatte sie mich sogar gefragt, ob er immer so schräg drauf war. Ich hatte mir das Lächeln nicht verkneifen können und war froh, als Shira mit eingestimmt hatte. Anschließend hatte ich ihr vage gesagt, dass mein Ex sich normalerweise nicht so benahm. Ich vermutete sogar, dass sie ihn auch mochte. Auch wenn Shira es um Längen besser verstecken konnte als Ash.

Es war nicht so, dass ich das hier tat, weil ich Gefühle für Álvaro hatte, nein. Okay, zumindest nicht nur. Der andere große Grund war, dass an seiner Situation Schuld war.

Ich weiß, ich weiß, ich sagte das andauernd, aber es war nun einmal fundamental.

Es hätte nur einen anderen Satz gebraucht und Álvaro hätte es um einiges leichter gehabt. Aber meine, ich musste es ja so machen.

Toll, Lucinda.

Ich konnte eigentlich noch froh sein, das ich nicht auf die bekloppte Idee gekommen war, den Vampir laktoseintolerant zu machen. Jean hätte mir eigenhändig den Hals umgedreht, so wie er Käse liebte.

Erneut kam ich an einer Kreuzung an. Ohne groß nachzudenken lief ich geradeaus. Mit jedem Schritt wurde der Weg schmaler und sandiger, bis ich schließlich ein paar Minuten später auf der Düne zum Strand war. Nach und nach wurde ich langsamer und hielt dann an. Starr zog ich mir meine Kopfhörer aus den Ohren. Bis hier her konnte ich die Wellen rauschen hören. Wild schlugen sie gegen den Strand und zogen den Sand Stück für Stück mit sich zurück in die weiten, kalten Tiefen der Ozeane.

Noch eine Weile lauschte ich der Stille der Nacht, die doch nicht so still war, wie man es sich vorstellt. Es waren kleine Dinge.

Doch dann steckte ich mir wieder meine Kopfhörer in die Ohren, sodass das Lied der Nacht verstummte und Ed Sheeran Bloodstream anstimmte. Mit ein paar Schritten war ich am Strand, musste jedoch leider feststellen, dass ich hier mutterseelenallein war. Der Wind strich über den Sand, streichelte die Dünen und riss gewaltsam einige Körner mit.

Ich kehrte um.

Schon irgendwie wütend stapfte ich durch den Sand und verfluchte die zwei offenen Ösen auf den Innenseiten meiner Chucks. Toll, jetzt hatte ich die feinen Körner zwischen den Zehen. Kaum war ich wieder auf der festen Straße, da hielt ich an der nächstbesten Laterne an, umständlich zog ich mir erst den rechten, dann den linken Schuh aus, und schüttete den Sand grob aus. Die kleinen Körnchen purzelten auf den Asphalt.

An der nächsten Kreuzung ging ich nach Nordosten, weg vom Meer, und bog in eine dunkle Gasse ein. Die Häuser hatten alle zwei bis drei Etagen, die Wohnungen darin waren klein. Eng drängten sich die Haustüren an die Gasse, das Pflaster wirkte gedrückt.

Ich war nicht gerne hier, besonders alleine. Wenn Logan wüsste, dass ich hier ohne Begleitung entlang streifte, würde er ausrasten. Er passte auf mich auf wie auf eine kleine Schwester. Selbst wenn wir nachts unterwegs waren, uns mit den Anderen trafen oder so, mein bester Freund brachte mich fast immer bis zur Haustür. Wahrscheinlich würde er es sich nicht verzeihen, wenn mir etwas passieren würde.

Umso wütender würde er werden, wenn ich mich hier allein herumtrieb und mir etwas zustieß.

Aber solange ich hier unbeschadet raus kam, musste Logan es ja nicht wissen.

Lautlos schlich ich weiter, inzwischen hatte ich die Kopfhörer lieber rausgemacht, es fühlte sich einfach sicherer an. Ich schaltete sogar mein Handy komplett aus um nicht von irgendwelchen Tönen erschreckt zu werden.

Irgendwo bellte ein Hund. Ich zuckte zusammen und sah mich um. Aber ich war alleine.

Hastig lief ich die Gasse entlang und hoffte stark, dass es sich lohnen würde und ich Álvaro fand.

An der nächsten Weggabelung bog ich nach rechts und betete, dass ich heute noch nach Hause fand. Notfalls mit Google Maps. Aber hier schlafen wollte ich nicht.

Ich lief endlos weiter. Schritt für Schritt, Stunde für Stunde. Wahllos ging ich nach rechts oder links, manchmal bog ich gar nicht ab. Inzwischen war mir kalt, meine Beine schmerzten und mein Bauch knurrte. Außerdem wurde ich langsam ziemlich müde. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Niemals würde ich Álvaro finden. Die Stadt war viel zu groß dafür.

Und wer sagte überhaupt, dass der Vampir noch lebte? Wenn er wirklich so dringend Blut brauchte, konnte Álvaro auch schon tot sein.

Schlagartig drehte sich mein Magen um und es stiegen mir die Tränen in die Augen. Sofort hatte ich Panik. Nein, Álvaro konnte nicht tot sein. Das durfte einfach nicht passieren.

Ich stolperte weiter.

Inzwischen hatte ich genug und machte mich frustriert auf den Weg nach Hause. Doch als ich nach links abbiegen wollte, nahm ich im Augenwinkel etwas in der Gasse vor mir war. Ich wurde langsamer.
Tatsächlich, da war was. Ich trat näher.

Holy fuck.

Es war ein Mensch, der da zusammengekrümmt am Rande einer Hauswand lag. Alles in mir zog sich zusammen. Ich bekam Angst, dass es irgendein Penner war und ich gleich ein Messer an der Kehle hatte. Dennoch hielt ich nicht an.

»Álvaro?«, flüsterte ich zaghaft.

Die Gestalt bewegte sich nicht. Nach ein paar Schritten erkannte ich seine dunklen, langen Haare und die Runen, die unter seinem offenen weißen Hemd hervorschimmerten.

Sein regloser Anblick schnürte mir die Kehle zu und ich spürte, wie das Blut aus meinem Gesicht wich. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich mich zaghaft neben ihn kniete. Mein Puls flatterte wie die zerbrechlichen Flügel eines Kolibris.

Álvaro zeigte keine Regung, obwohl ich irgendetwas erwartet hatte; er war so eine verdammt wachsame Person. Nach ein paar Sekunden merkte ich, wie flach er atmete.

Scheiße.

Ein winziger Teil in mir war immer noch davon überzeugt, dass er nur krank war.

Dann erst nahm ich die Blutflecken auf dem Ärmeln seines blütenweißen Hemdes wahr. Schlagartig rutschte mein Herz noch weiter runter, als es ohnehin schon war, und eine weitere Möglichkeit über seinem Zustand schlich sich zwischen meine Gedanken.

Was, wenn er versucht hatte, sich das Leben zu nehmen? Weil er es ohne Lorenzo nicht mehr ausgehalten hatte?

»Álvaro?« Ich stupste ihn panisch an, doch er rührte sich nicht.

Okay, Lucinda, ganz ruhig. Mit zittrigen Fingern schob ich den blutgetränkten Stoff von seinen Armen hoch. Ich schnappte entsetzt nach Luft.

Und sofort verabschiedete sich der Gedanke, dass Álvaro nur krank war.
Seine leuchtend rot verschmierten Unterarme waren komplett durch Bissspuren entstellt, zwar bluteten sie nicht mehr allzu sehr, aber die Wunden sahen schlimm aus. Das Blut klebte feucht auf seiner hellen Haut und fleckte sie hässlich.

Wobei ich allerdings stark bezweifelte, dass ein Tier ihn angegriffen hatte, dafür sahen die Gebissabdrücke zu menschlich aus. Außerdem hätte sich ein Tier nicht nur auf seine Arme beschränkt.

Woraus zu schließen war, dass er sich das selbst angetan haben musste. Was allerdings wahrscheinlich höllisch wehgetan haben musste. Und normale Menschen konnten meines Wissen nicht einfach so solche Bisswunde fabrizieren.

Mir war schlecht. Álvaro war also wirklich ein Vampir, was auch bedeutete, dass er Blut brauchte. Sollte er dann noch an die Naturgesetze aus meinem Roman gebunden sein, würde er es freiwillig brauchen, und das von jemandem dem, der über ihn Bescheid wusste.

Weswegen er seit fünf Tagen keinen Tropfen Blut bekommen hatte, obwohl er es täglich brauchte.

Und sollte ich jetzt nicht handeln, würde er sterben.

Ich bekam Panik und meine Atmung beschleunigte. Verdammt, was sollte ich nur tun? Álvaro brauchte Blut, und ich war die Einzige, die es ihm geben konnte. Aber schon bei dem Gedanken an das Gefühl, wie seine scharfen Zähne sich in meine dünne Haut bohrten, drehte sich in mir alles um und ich tendierte unbewusst zum Hyperventilieren. Ich hasste es, wenn irgendwas meine Haut durchbrach, egal ob die Nadeln beim Impfen oder bei Schürfwunden der Boden. Mich beißen zu lassen, schied damit aus.

Hilflosigkeit tanzte bunt gezackt durch meinen Körper. Mit einem Mal hatte ich das dringende Bedürfnis, zu schreien. Ich wollte das hier nicht.

Aber ich hatte mich darauf eingelassen, als ich ihn heute Abend suchen gegangen war. Außerdem, was hatte ich erwartet? Dass Álvaro einen Schnupfen hatte und meine Zuwendung brauchte? Ein kleiner hoffnungsvoller Teil vielleicht schon, doch im Großen und Ganzen war von Anfang an klar gewesen, worauf es hinauslaufen würde.

Mit zittrigen Finger strich ich ihm die dunklen Strähnen hinters Ohr, die Álvaro übers Gesicht gefallen waren. Gott, sie waren so weich. Warum hatte ich ihn eigentlich so perfekt gemacht?

Der Vampir hätte auf eine Art und Weise sogar friedlich ausgesehen, wenn die fahle Haut um seine Mund nicht ebenfalls blutverschmiert gewesen wäre. Ich musste mich höllisch zusammenreißen, nicht zu kotzen, erst jetzt bemerkte ich den metallischen Geruch von Blut, der in der Luft lag. Ein Wunder, dass mir das nicht früher aufgefallen war.

Dann, ganz langsam, schob ich den Ärmel meiner dunklen Jacke hoch. Ich hatte keine andere Wahl. Ein glitzernder Schauer strich über meinen Rücken, als mein rechtes Handgelenk seine seidigen Lippen streiften. Tränen standen mir in den Augen und ich atmete viel zu unregelmäßig. Gegen meine Willen drückte ich meine Hand näher seine spitzen Zähne. Ein Wimmern entfuhr mir, ich wollte das hier nicht, aber Álvaro hatte es verdient zu leben.

Es lag in meiner Hand. Wortwörtlich.

Der Vampir zuckte leicht zusammen, als ich das Geräusch von mir gab, und ritzte somit unbewusst in meine Haut. Dumpf brennender Schmerz durchflutete meinen Unterarm und die Hand. Kaum eine Sekunde später biss er zu.

Ich schluchzte auf, weniger weil es wehtat, sondern weil ich ihm am liebsten mein Handgelenk entrissen und die Verletzung ungeschehen gemacht hätte. Doch ich zwang mich eisern, mich nicht zu rühren. Er brauchte mein Blut freiwillig, sonst würde es nichts bringen und alles wäre umsonst.

»Trink«, flüsterte ich, während die ersten Tropfen der roten Flüssigkeit über seine blassen Lippen lief. Ich wusste, dass bereits der Kontakt zu seiner Schleimhaut reichen würde, um etwas von meiner Lebensessenz in seinen Kreislauf zu bringen, weil diese Blut schnell aufnahmen.

In etwa so, wie das bei uns mit dem Traubenzucker war.

Und dann endlich. Ich sah, wie sein Kehlkopf hüpfte, als er schluckte. Erleichtert atmete ich aus, ich hatte nicht gemerkt, dass ich bis jetzt die Luft angehalten hatte. Schwach hob er seine Hand zu der Meinen und umfasste langsam mein Handgelenk.

Als er jedoch plötzlich knurrte und fest zupackte, erschrak ich heftig und sofort blockierten meine Gedanken den Wunsch, ihm mein Blut zu geben. Ich war schlichtweg nicht auf so eine Reaktion vorbereitet gewesen und hatte es nicht erwartet. Ehrlich gesagt machte es mir auch Angst. Wobei allerdings nicht viel nötig war, um mich von meinem Wollen abzubringen, ihm meine Lebensessenz zu geben.

Folglich war mein Blut nicht mehr freiwillig.

Álvaro ließ mein Handgelenk los, als hätte er sich daran verbrannt. Augenblicklich begann er zu würgen und spuckte den letzten Schluck Blut, den er gerade im Mund hatte, wieder aus.

Mein Herz schlug bis zum Hals, als ich mich instinktiv aufrappelte, zurückwich, bis ich mit dem Rücken gegen die Hauswand gegenüber von dem Vampir stieß, und hielt mein blutiges Handgelenk fest umklammert. Uns trennten vielleicht zweieinhalb Meter. Dennoch zitterten meine Knie stark und ich hatte damit zu tun, stehen zu bleiben.

Auch Álvaro setzte sich langsam auf, das Husten wurde schwächer, bis er sich beruhigt hatte. Jetzt erst öffnete der Vampir seine Augen. Sie waren fast schwarz, was ich auf die Nacht schob. Die rote Farbe, welche die Iris beim Trinken normalerweise besaß, hatte sich schon wieder verflüchtigt.

»Ich brauche mehr«, hauchte er erstickt. Schwerfällig kam er auf die Beine, wankte und stützte sich wie gestern an der Wand ab. »Bitte.«

Ich sagte nichts. Noch immer war ich stark an der Grenze zum Hyperventilieren und meine Herz hatte jeglichen Rhythmus verloren.

Vorsichtig, Schritt für Schritt, kam er auf mich zu. Álvaro sah schon um einiges besser aus, als gestern, und das nur von ein paar Schlucken Blut nach kaum zwei Minuten. Eigentlich erschreckend.

Trotzdem war der Vampir noch schwach. Unsicher setzte er einen Fuß vor den anderen, immer so bedacht, als würde Álvaro vermuten, gleich von einer Windböe erfasst zu werden. Seine dunklen Augen fixierten mich die ganze Zeit, bis er vor mir stand. Die Reflexionen des fernen Lichts einer Laterne tanzten auf der fast schwarzen Regenbogenhaut. Wenn man es ganz genau betrachtete, sah der Mann eigentlich zum Fürchten aus. Die schwarzen Runen auf seiner blasen Haut wirkten hier in der dunklen Gasse regelrecht derb, wie sie durch das halb geöffnete Hemd hervorschimmerten. Dazu kam, dass der blütenweiße Stoff an den Armen und am Ausschnitt dunkelrot gefleckt war. Ebenso blutig glänzten seine Hände, mit der rechten fuhr Álvaro sich gerade über den Mund und verschmierte die rote Flüssigkeit auf widerlichste Weise.

Doch trotzdem hatte sein Anblick irgendetwas an sich, das mich verdammt anzog. Vielleicht war es dieses Dunkle, Verletzte; vielleicht das Gefährliche.

Als er direkt vor mir stand und uns nur noch wenige Zentimeter trennten, stoppte der Vampir. Ich konnte seinen zarten Duft nach kalter, verregneter Winternacht mit einem Hauch Thymian riechen und hatte schlagartig noch mehr Probleme, aufrecht stehen zu bleiben. Wieder fiel mir auf, wie groß Álvaro eigentlich war und wie klein ich neben ihm wirkte.

»Bitte«, flüsterte er schwach.

Sanft strich der Vampir meine langen, silbernen Haare auf der linken Seite nach hinten auf meinen Rücken. Ich wehrte mich nicht, stattdessen wanderten meine Hände wie von selbst auf seine Brust und legten sich auf den weichen Stoff. Dass ich sein Hemd somit noch mehr mit Blut beschmierte, kümmerte mich herzlich wenig, es war sowieso schon versaut.

In diesem Moment hätte ich die Wahl gehabt, ihn wegzustoßen und zu verhindern, dass Álvaro mich noch einmal biss. Aber auch wenn es mich psychisch fertig machte, wenn er von mir trank, konnte ich seiner Nähe einfach nicht widerstehen. Dennoch sammelten sich die Tränen in meinen Augen, wenn ich an das Kommende dachte.

Aber Álvaro brauchte mein Blut, und nach allem, was ich ihm angetan hatte, war ich den Vampir zumindest das schuldig.

Trotzdem war ich überrascht, wie geradezu liebvoll Álvaro vorging. Ehrlich gesagt hatte ich erwartet, dass er schlicht und ergreifend seine Fänge in meine Haut schlug. Tödlich zart streiften seine weichen Lippen meine Kehle, ja, liebkosteten sie schon fast; mein Puls flatterte und eine Gänsehaut kribbelte erregt auf meinem Rücken. Sein kurzer Dreitagebart kitzelte.

»Vertrau mir.«

Und dann, ganz vorsichtig, drückte Álvaro Sileno Luar de Salvatore seine spitzen Zähne in meine Haut.

Ich bebte und krallte mich in sein Hemd. Mein Kopf sank wie von selbst gegen seine Schulter, als der Vampir begann, zu trinken. Wimmernd drängte ich mich gegen seine Brust, während die Tränen über meine Wangen liefen, auf sein Hemd tropften und sich mit seinem Blut vermischten.

Er muss trinken. Er braucht das. Er darf das. Er muss trinken. Er braucht das. Er darf das.

Immer und immer wieder sagte ich mir das in Gedanken - auf keinen Fall wollte ich riskieren, dass der Vampir meinetwegen wieder würgen musste.

Am Rande spürte ich, wie der Schmerz nachließ, dumpfer wurde, und Álvaro schneller trank und seine starken Arme um mich schlang, um mich zu halten. Sein Herz schlug schnell unter meiner Wange. Es beruhigte mich.

Er muss trinken. Er braucht das. Er darf das.

Dann wurde alles schwarz.

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