Kapitel 11
Logan
»Was meinst du mit er sah nicht gut aus?«
Ich seufzte und blickte meine beste Freundin an. »Ich weiß nicht genau, Álvaro war heute irgendwie ziemlich blass und so. Vielleicht hast du mitbekommen, dass er sich heute in Sport schwerer getan hat als sonst, obwohl ihm die Übungen mehr als leicht hätten fallen sollen.«
Lucinda schwieg, während wir uns nach Literatur zu Mathematik aufmachten.
»Vielleicht hat er sich auch nur eine Grippe oder so eingefangen«, mischte sich Ash jetzt ein.
»Er hat weder Schnupfen noch Husten«, hielt ich dagegen.
Meine beste Freundin stoppte an ihrem Spind an. »Aber was ist dann mit ihm?«, fragte sie, irgendwie klang die Kleine verzweifelt.
Die letzten drei Tage waren eigentlich so gut wie gleich abgelaufen. Shira und Álvaro saßen beim Mittagessen neuerdings immer bei uns, und Shira hatte ihre Schüchternheit etwas abgelegt. Natürlich war sie nicht der Typ Mädchen, der durch und durch redete, aber die Kleine sah zumindest nicht mehr so oft zu Boden. An und für sich schien Shira sich bei uns wohlzufühlen und ich fragte mich, wieso wir uns jetzt erst so fanden, sie passte gut in unsere Clique.
Ash hingegen war mit ihrer Anwesenheit jedoch nach wie vor gnadenlos überfordert. Wenn sie bei uns war, verlor er sämtliche Ruhe und Gelassenheit, die mein bester Freund sonst normalerweise ausstrahlte. Heute hatte Ash sogar seine Wasserflasche im Eifer des Gefechts umgeworfen, als er sich hektisch Lucindas Mischgemüse klaute. Eigentlich hatte er es nur seinen ausgezeichneten Reflexen zu verdanken, dass Shira nicht noch einmal Lucindas Notfallshirt anziehen musste; im letzten Moment hatte Ash die Flasche aufgefangen. Auch die zarte Röte, die sich anschließend über seine Wangen zog, war ein seltenes Phänomen.
»Naja wenn ich jetzt so drüber nachdenke, Álvaro war heute beim Essen wirklich noch etwas ruhiger als sonst«, überlegte Lucinda laut und strich sich eine ihrer silbern glänzenden Strähnen hinters Ohr, während sie in ihrem Spind kramte. »Wo hab ich nur meinen Taschenrechner hingepackt?«
Ich schlang ihr sanft von Hinten meine Arme um den Bauch und beugte mich ein Stück zu der Kleinen runter, um mein Kinn auf ihre Schulter zu legen. »Guck mal unter deinem Corpus Delicti nach«, murmelte ich.
Lucinda hob den Roman hoch, den sie für Deutsch lesen musste. »Ah, dort ist er ja«, freute das Mädchen sich, den Kopf tief im Spind, und legte den Rechner auf den Stapel, den sie in der Hand hatte. »Aber wo habe ich mein Tafelwerk ...«
Ich lachte. »Ach Lucinda.« Eine ihrer Strähnen kitzelte mich. Sie roch nach Mango. Gott, wie ich das liebte.
»Im Ernst, ich brauche das, sonst bin ich am Arsch«, gummelte meine beste Freundin. »Ich bin froh, wenn ich die Formeln nicht aus dem Kopf wissen muss.«
»Ist ja gut, du hast recht«, grinste ich und knuddelte sie.
Ash hatte sich neben uns seitlich an die Schließfächer gelehnt und beobachtete uns schmunzelnd, die Arme vor der Brust verschränkt, während Lucinda hektisch in ihrem Spind wühlte. »Guck mal unter deinen Taschenrechner.«
Sie erstarrte in der Bewegung und blickte auf den Stapel, den sie bereits auf dem Arm hatte. »Oh«, machte meine beste Freundin. »Huch, da ist es ja, ich hatte mich schon gewundert.«
»Hat dir schon einmal jemand gesagt, dass du verpeilt bist?«, lachte ich.
»Ich bin nicht verpeilt«, widersprach Lucinda entsetzt, aber ein Lächeln schlich sich auf ihre zarten Lippen.
»Nein, überhaupt nicht.« Sanft knuffte ich ihr in die Seite.
»Nein, überhaupt nicht.« Meine beste Freundin blickte mich an, während sie sich dabei fast den Hals verdrehte, weil ich nach wie vor noch hinter ihr stand und mein Kinn auf ihre Schulter gelegt hatte.
Ash zog eine Augenbraue hoch. »Lucinda.«
»Was?« Sie grinste engelsgleich.
»Gib es schon zu«, forderte ich und deutete an, sie kitzeln zu wollen. Meine Finger glitten über ihre Taille und ich konnte eine der feinen Rippe durch den dünnen Stoff ihres Pullovers spüren.
Die Kleine erkannte meine Absichten und quietschte. »Okay, okay, du hast Recht, ich bin verpeilt«, stimmte sie atemlos zu.
Das Grinsen auf meinen Lippen war mehr als triumphierend.
Ash lachte dieses leise Lachen, welches die Mädchen alle so liebten. »Ich fragte mich echt, was Gott sich dabei gedacht hat, euch zwei verschiedenen Mütter zu geben.«
»Eine Mutter hätte uns nicht ertragen«, kicherte Lucinda, ich stimmte mit ein.
Ash schüttelte den Kopf. »Geht schon vor, ich muss nochmal auf's Klo.«
Wir nickten ihm zu. »Mach das.«
Er wandte sich um und lief den Gang hinunter. Elegant verschwand Asher Gray um die Ecke.
»Jetzt brauche ich nur noch meinen Hefte«, murmelte Lucinda und begann wieder, in ihrem Spind zu wühlen.
Ich seufzte. »Mal ein ganz anderes Thema«, sagte ich nach kurzem Zögern. »Was ist mit dir los?«
Meine beste Freundin erstarrte fast unmerklich. »Wie meinst du das?«
»Komm schon, tue nicht so«, murmelte ich leise in ihr Ohr. »Du weißt genau, was ich meine.«
»Nein, eben nicht«, beharrte sie stur und zog den blauen Mathehefter unter ihrem Sportzeug hervor.
Ich gab mich geschlagen. »Du bist die ganze Woche schon so komisch. Irgendwie wirkst du völlig zerstreut und als wärst du permanent mit den Gedanken im Nirvana.«
Kurz schwieg Lucinda. Fast so, als hätte ich sie auf frischer Tat ertappt. Doch dann fasste das Mädchen sich relativ schnell. »Weißt du, ich habe einfach nur über ein YouTube-Video nachgedacht, was ich Anfang der Woche gesehen habe«, erklärte sie fachmännisch. »Sagt dir das Paradoxon von Schrödingers Katze etwas?«
Seufzend schüttelte ich den Kopf. »Lucinda ...«
»Also, es wird von der Quantenphysik ausgegangen«, plapperte sie munter weiter. »In eine Kiste wie ein Uranatom getan und durch Mechanismus mit einem Hämmerchen verbunden. Zerfällt das Uranatom, wird das Hämmerchen ausgelöst und zerschlägt ein Reagenzglas mit Gift. Außerdem ist eine Katze mit in der Kiste. Und so lange man nicht in die Kiste guckt und sie verschlossen ist, ist nach der Quantenphysik das Atom gleichzeitig zerfallen und nicht zerfallen und die Katze ist gleichzeitig tot und ...«
»Lucinda, wir wissen beide, dass das nicht der wahre Grund ist«, unterbach ich sie sanft.
Das Mädchen starrte in den Spind, bewegungslos lag ihre rechte Hand unter ihrer Kunstmappe, während die andere Hand den Stapel mit den Mathesachen fest umklammert hielt. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Komm schon, es ist sogar mir aufgefallen.« Ich verdrehte die Augen. »Und Ash ebenso, er hat mich gestern darauf angesprochen. Wahrscheinlich hat Ash uns deswegen auch gerade allein gelassen; ich glaube, er hat gehofft, dass du vielleicht wenigstens mit mir redest.«
Meine beste Freundin schwieg. In ihr schien es zu arbeiten.
»Wir wissen, dass irgendetwas nicht stimmt«, fuhr ich leise fort. »Und ich hoffe, du weißt, dass du immer zu uns kommen kannst, wenn dich etwas bedrückt. Aber weder Ash noch ich zwingen dich, okay?«
Stumm nickte sie.
Zärtlich drückte ich meine beste Freundin noch einmal sanft an meine feste, flache Brust. »Ich hab dich lieb. Und jetzt komm, wir müssen zu Mathe.«
Lucinda lächelte schwach. »Ich dich auch.« Doch sie sah mich nicht an, sondern schlug stattdessen ihre Spindtür geräuschvoll zu. Ungern ließ ich das Mädchen los.
Ich folgte ihr, als die Kleine den Gang hinunter lief, immer in Richtung des Mathezimmers. Unsere Schritte hallten laut, wir waren die Letzten auf den Fluren.
Als meine beste Freundin allerdings um die Ecke bog, erstarrte sie jäh. Als ich das Mädchen nur wenige Sekunden später eingeholt hatte, wusste ich auch, warum.
Álvaro saß in einer Nische zwischen den Schließfächern. Die Beine angewinkelt, die Ellenbogen auf den Knien aufgestützt und das Gesicht in den Händen vergraben. Und er sah nicht gut aus. Seine dunklen, zart gelockten Haare wirkten zerzaust.
Vorsichtig ging ich auf ihn zu und hockte mich vor ihn. »Hey, Álvaro, ist alles okay bei dir?«, fragte ich.
Als er nicht reagierte, stupste ich ihn leicht an.
Quälend langsam hob er den Kopf und starrte mich an. Doch er sagte nichts. Auf eine Art und Weise, die ich nicht genauer definieren konnte, wirkte er noch mitgenommener als in der Mittagspause oder in Sport. Seine Haut wirkte fahl und ich hatte das Gefühl, dass der Neue durch mich hindurch sah.
Es dauerte einige Sekunden, in denen Lucinda besorgt hinter mich trat, bis Álvaro blinzelte und mich wieder richtig wahrnahm. »Ja, alles gut«, murmelte er.
»Was machst du noch hier?« Meine beste Freundin kniete sich neben mich. »Die Stunde fängt gleich an, und Ms Edwards flippt aus, wenn du zu spät kommst.«
»Ich war in Gedanken«, rechtfertigte Álvaro sich leise, fuhr sich mit den Fingern übers Gesicht und vergrub sie in seine dunkelbraunen Haaren.
Schwerfällig versuchte er jetzt, aufzustehen. Allerdings dauerte es länger, als ich es von ihm gewohnt war. Als der Neue endlich stand, griff er umständlich nach seiner Tasche, welche die ganze Zeit neben ihm gelegen haben musste.
Wir beiden erhoben uns ebenso. »Komm, lass uns gehen, bevor es noch klingelt«, bat Lucinda. »Ich möchte ungern zu spät kommen.« Sie setzte sich in Bewegung.
Álvaro nickte. Als er sich jedoch leicht von der Wand abstieß, um dem Mädchen zu folgen, schwankte er plötzlich.
Reflexartig packte ich seinen Oberarm und stabilisierte Álvaro so wieder. »Bist du sicher, dass alles okay ist?«, hakte ich nach.
»Ja, mach dir keine Sorgen.« Seine Muskeln unter meiner Hand bebten.
Lucinda hatte angehalten und blickte ihn schon fast besorgt an. »Vielleicht ist es besser, wenn du nach Hause gehst und dich ein bisschen ausruhst«, schlug sie vor.
Mit einem Mal wurden Álvaros dunkle Augen sehr schmal. »Ich sagte, es ist alles okay.« Er riss sich grob von mir los und warf sich seine Tasche über die Schulter. »Kommt ihr?«
Lucinda und ich blickten uns noch einmal an, folgten ihm dann jedoch stumm.
In der letzten Sekunde betraten wir den Mathematikraum. Hastig rutschten meine beste Freundin und ich neben Gael, während Álvaro seine üblichen Platz ganz hinten einnahm.
Nur einen Wimpernschlag später ertönte das Stundenklingeln und Ms Edwards stürmte in den Raum. Ohne auch nur eine Sekunde an die Begrüßung zu verschwenden, knallte sie ihre Unterlagen auf den Lehrertisch und sah uns genervt an. »Zu Beginn der Stunde werde Sie diese Aufgaben im Kopf lösen.« Ruckartig öffnete unsere Lehrerin die Tafel und zum Vorschein kamen an die fünfzig, kleingeschrieben Aufgaben, hauptsächlich Kettenaufgaben mit hochgradigen Exponenten, Wurzeln und komplizierten Divisionen. »Mr Gray, Ihnen gehören die ersten fünf. Kommen Sie nach vorn.«
Ash neben Lucinda erhob sich und ging betont langsam an die Tafel. Gleichgültig nahm er sich ein Stück Kreide, zerbrach es in der Mitte und legte eine Hälfte wieder auf die Tafel. Gott, das hatte sie lange nicht gemacht. Ich hoffte nur, dass ich nicht dran war, denn wenn man eine einzige Aufgabe nicht konnte, machte sie Einen richtig fertig. Und wie gesagt, in Mathe war ich jetzt nicht so gut.
»Mr Gray, Sie dürfen beginnen.« Ms Edwards wandte sich anschließend an uns. »Und wehe, ich sehe jemanden von Ihnen mit dem Taschenrechner oder anderen Hilfsmitteln nachrechnen. Das wirkt sich ungemein auf Ihre Ermessensnote aus.« Ihre kalt grauen Augen wurden schmal.
Ich schluckte. Unauffällig ließ Lucinda neben mir ihren Rechner in die Tasche gleiten. Das riskierte sie anscheinend lieber nicht.
Ash hingegen blickte noch einmal kurz in Richtung Shira, dann drehte er sich zur Tafel und und widmete sich der ersten Aufgabe.
Ich konnte zumindest objektiv betrachtet nachvollziehen, was sie an ihm fand. Das helle Shirt schmiegte sich hervorragend an seinen v-förmigen Rücken, die schwarzen, zerstrubbelten Haare wirkten so weich, dass ich verstehen konnte, warum Lucinda so gerne durch sie durch gewuschelt hatte. Seine dunkle Hose saß ebenfalls angenehm eng und betonte die feinen Muskeln an seinen Beinen. Und auch wenn seine Sneaker schlicht und irgendwie ausgelatscht waren, passten sie perfekt zu ihm.
Ash hob die Kreide und begann das erste Ergebnis anzuschreiben. Das weiße Stück kratzte, verglichen mit der Totenstille im Klassenraum, laut über die Tafel. Bei der nächsten Aufgabe tippte er jede Zahl beim Rechnen mit der Kreide an, stumm mit den Zwischenergebnis im Kopf. Ash war nicht dumm, zwar verstand er in Mathe nicht allzu viel, doch die Grundrechenarten beherrschte er exzellent, ebenso wie das Kopfrechnen.
Nur zwei Minuten später legte er die Kreide zurück auf die Tafel und wischte sich die Hände an seiner Hose ab. »War's das?«, erkundigte Ash sich bei Ms Edwards herausfordernd.
Ihre Augen wurden, wenn möglich, noch schmaler, während sie seine Ergebnisse mit ihren Lösungen abglich.
Acht, Eintausendachthundertneununddreißig, Achthundertzwölf, Neunundzwanzig, Drei.
Doch da sie nichts sagte, schienen Ashs Ergebnisse korrekt zu sein.
»Sie dürfen sich setzen.« Kalt verfolgten ihre Augen, wie er sich wieder auf seinen Platz niederließ. Keine Sekunde später scannte sie den Raum nach ihrem nächsten Opfer ab. »Mr de Pregonas, die nächsten zehn warten auf Sie.«
Ich wandte mich um. Álvaro lag mit dem Kopf auf dem Tisch, die Arme benutzte er als Kissen. Allerdings konnte ich nicht sagen, ob der Neue schlief, oder sich nur ausruhte, gut sah er jedenfalls nach wie vor nicht aus. Aber in Ms Edwards Unterricht zu schlafen oder nur so zu tun war tödlich.
»Mr de Pregonas!«, fuhr sie ihn an.
Álvaro schreckte hoch. »Entschuldigen Sie.«
»An die Tafel, sofort«, zischte unsere Lehrerin wütend. »Wie können Sie es wagen, in meinem Unterricht zu schlafen? Schämen sollten Sie sich!«
»Es tut mir leid«, antwortete er ruhig und erhob sich erschreckend langsam. Álvaro schleppte sich vor an die Tafel. Mit zitternden Fingern griff er nach einem Stück weißer Kreide und starrte die für ihn erste Aufgabe an.
»Jetzt tun Sie doch nicht so, machen Sie hin, wir haben nicht ewig Zeit«, meckerte Ms Edwards.
Álvaro schreib das erste Ergebnis an die Tafel, seine Schrift wirkte stumpf, nicht annähernd so geschwungen, wie ich sie kannte. Vierhundertelf.
»Sagen Sie, haben sie denn überhaupt keine Vorstellung, was Mathematik bedeutet«, polterte sie jäh los, der Neue fuhr sich mit der einen Hand über das Gesicht, mit der anderen, in der er auch die Kreide hielt, stützte er sich an der Tafel ab. »Wie kann man nur so minderbemittelt sein? Das sind alles simple Aufgaben aus der Unterstufe, jeder hier im Raum ist in der Lage ...« Doch weiter kam sie nicht.
Denn genau in dem Moment brach Álvaro de Pregonas zusammen.
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