Kapitel 1
Lucinda
Seine Finger glitten beruhigend über meinen Rücken. Immer wieder. Auf und ab. Er sagte nichts, sondern lag neben mir und ließ mich sein Hemd mit Rotz und Tränen besudeln. Wimmernd drängte ich mich gegen ihn, meine flauschige Kuscheldecke umhüllte uns - sein Kopf guckte noch hervor, während der weiche Stoff mich komplett zudeckte und von der bösen Außenwelt abschirmte. Ich würde nie wieder auf diesem Bett aufstehen. Niemals. Das Gefühl, nur hier unter der Decke in seinen Armen vor dem Leben da draußen und meinen Gedanken sicher zu sein, klammerte sich wie eine panische Katze an mich.
Sein Geruch stieg mir in die Nase, während ein heftiges Schluchzen mich durchschüttelte. Hilflos krallte ich mich in den dünnen Stoff seines Hemdes, wissend, dass ich ihm vermutlich in die Brust kniff. Doch er beschwerte sich nicht, sondern hielt mich einfach fest und ließ mich weinen.
Und ich war dankbar dafür.
Immer wieder strömten die Bilder von vorhin auf mich ein, egal, wie sehr ich auch versuchte, sie zu vertreiben. Mein Inneres fror erneut Zelle für Zelle ein und jenes Gefühl beschlich mich, welches ich gespürt hatte, als mir das Ausmaß meiner Geschichte bewusst geworden war - als mir bewusst geworden war, das Lorenzo und Alejandro ebenfalls hier waren. Es war eigentlich unmöglich, schließlich hatte ich ja nicht ein blödes Portal geschrieben, dass alle hinüberwandern konnte. Dass Álvaro sich hier befand, war schon verrückt genug.
Vielleicht hatte ich mich ja auch getäuscht.
Ja, getäuscht, das glaubst du doch selbst nicht!, spottete eine kleine Stimme in mir.
Und sie hatte recht. Bei Álvaros Erscheinen hatte ich gezweifelt, viel zu unlogisch war die Situation. Doch nach und nach hatte ich mich damit abgefunden und gelernt, damit umzugehen. Schließlich war mir keine Wahl geblieben. Hätte ich nicht so schnell gehandelt, wäre der Vampir vermutlich elendig verhungert. Zwar war es kaum zu glauben, aber es war wirklich Álvaro gewesen. Mein Álvaro. Der Mann, dem ich eine Welt, ein Leben und Familie gegeben hatte. Freunde. Fähigkeiten. Einen wunderschönen Charakter. Sein atemberaubendes Aussehen. Sein Schicksal. Ich hatte ihn Glück spüren lassen, aber ebenso sehr auch den Schmerz. Und meine Álvaro würde ich überall wiedererkennen.
So auch die anderen beiden Vampire.
Das Vibrieren eines Handys riss mich aus meinen Gedanken.
Mein einziger Halt richtete sich seufzend auf und tastete nach dem Smartphone. »Hey. Was gibt’s?«, fragte Logan und zog mich mit seiner freien Hand behutsam enger an sich.
»Hey, wie geht es Lucinda?«, konnte ich Ashs Stimme dumpf am anderen Ende der Leitung hören. Er klang besorgt. »Ihr ward ja recht schnell weg, und du hattest in die Gruppe geschrieben, dass ihr schlecht ist.«
Hatte Logan das? Vermutlich ja. Nur noch vage konnte ich mich daran erinnern, wie ich perplex ohne etwas zu sagen erst rückwärts von Alejandro zurückgewichen war, dann hatte ich mich umgedreht und war zu meinem besten Freund gestolpert. Mit fahrigen Fingern hatte ich unser Zeug versucht, zusammen zu raffen, während sich alles um mich gedreht hatte. Erst als Logan mich panisch gefragt hatte, was denn los war, hatte ich gemerkt, dass ich weinte. Ich muss hier weg. Mehr war nicht über meine bebenden Lippen gekommen. Und ich war mehr als nur dankbar, dass mein bester Freund ohne Gegenfragen genau dafür gesorgt hatte.
Jetzt lagen wir hier.
Als wir meine Wohnung betreten hatten, hatte Logan schließlich gefragt, was genau los war. Viele Worte waren nicht nötig gewesen, um ihm meine bescheidene Lage zu beschreiben. Während ich mich also unter meiner Decke vergrub und hilflos vor mich hin flennte, hatte er sich meinen Hefter zur Hand genommen und war die Seiten mit den Buchstaben durchgegangen. Es hatte sich herausgestellt, dass das Z zu Lorenzos Namen gehörte; da, wo wir dachten, Álvaros Name beginne erneut, fehlte der Akzent auf dem A und bei genauen nachschauen, kam nach dem AL ein E. Nach und nach hatten wir dann auch die Runen gefunden, zumindest als ich mich dann zumindest mit dem Kopf unter meiner Decke hervorgewagt und ihm geholfen hatte.
Es war erschreckend, doch kurz darauf hatten wir den Aufbau meines Romans vollständig. Von den einhundertfünfundsechzig Seiten waren acht nur zur Hälfte beschrieben und fielen somit raus. Es begann mit neunundzwanzig meiner dreiunddreißig Runen, je eine pro Seite, wobei die für Leben, Mond, Schatten und Licht fehlten. Ersteres jedoch folgte und anschließend kam Álvaros voller Name, wieder pro Seite ein Buchstabe und für jedes Leerzeichen stand jeweils die Rune für Mond - die Rune, welche genau über seinem Herzen tätowiert war. Auf der nächsten Seite, quasi als Trennung, war wieder die Rune für Leben. Anschließend kam der volle Name von Alejandro, diesmal trennte das Schriftzeichen für Schatten die Wörter voneinander ab. Danach wiederholt die Lebensrune, anschließend Lorenzos voller Name, unterteilt von der Rune für Licht. Das Ganze endete mit dem Schriftzeichen für Leben und abschließend folgten die neunundzwanzig Rune vom Anfang in umgekehrter Reihenfolge.
Die Tatsache, dass ich das alles geschrieben hatte, ohne darauf zu achten, die Wörter so anzuordnen, dass die Leerzeichen Runen und Buchstaben in schönster, geschwungener Form hervorbrachten, machte mir eine Heidenangst. Ich hatte doch nur meine Idee von dem wunderschönen Jungen zu Papier bringen wollen, die mir im Kopf herumspukte. Und vielleicht mein dummes Hirngespinst an einen Verlag geben und ein bisschen Taschengeld dazuverdienen. Das war alles gewesen. Nicht mehr. Wobei die Sache mit dem Verlag schon utopisch war.
Doch dieses Chaos, was sich hier und jetzt ergeben hatte, war niemals meine Absicht gewesen. Und inzwischen fragte ich mich, ob es nicht besser gewesen sei, wäre das alles nie passiert. Hätte ich doch nicht angefangen zu schreiben.
»Ich bin bei ihr zu Hause«, erklärte Logan und holte mich in die Realität zurück. »Ihr ist schlecht geworden, wahrscheinlich hat sie das Mittagessen oder so nicht vertragen. Aber mach dir keine Sorgen, es geht ihr schon wieder etwas besser. Vermutlich bleibe ich heute Nacht bei ihr, falls was ist.«
Ich unterdrückte ein Schluchzen. Es war lieb, dass Logan für mich log. Und wenn man es ganz genau sah, dann war mir ja wirklich schlecht. Nur der Grund war ein anderer.
Denn Lorenzo war da. Lorenzo. Der Mann, den Álvaro liebte. Und nichts gegen mein Selbstwertgefühl, doch ich war mir fast sicher, dass Álvaro ihn mir vorziehen würde. Schließlich wusste ich, was die beiden füreinander empfanden. Und das vermutlich besser als sie selbst.
Doch schon bei dem Gedanken, Álvaro zu verlieren, drehte sich wieder alles in mir um und ich schmiegte mich hilflos enger an Logan. Ich musste nicht aussprechen, was genau der Grund für meinen Schmerz war. Er wusste es sicher. Und ich vermutete auch, tief drin freute mein bester Freund sich auch. Ganz tief drin. Mir war auch klar, dass es ihm unangenehm war und er sich schämte, so zu denken, aber sicherlich war da Hoffnung.
Ich konnte es ihm nicht verübeln.
»Okay, dann ist gut. Wenn irgendwas ist, sag Bescheid«, bat Ash. »Shira ist heute vermutlich bei mir, aber sie hat auch schon nach Lucinda gefragt.«
»Ja, alles gut, viel Spaß euch«, sagte Logan. »Bis Morgen.«
»Jo, bis Morgen. Gute Besserung ihr.«
Logan legte auf. Und ich begann wieder zu schluchzen. Mein Herz tat weh. So weh. Ich wollte zu Álvaro, zu dem Mann, den ich liebte. Ohne das wissen, dass Lorenzo noch lebte. Auch wenn es durchaus selbstsüchtig war. Aber das Gefühl, mich an ihn zu schmiegen, seinen betrörenden Duft zu riechen und seine Lippen zu kosten, würde ich nie vergessen - schon bei dem Gedanken daran zersprang mein armes Herzchen fast vor Sehnsucht.
Logans Herzschlag an meiner Stirn beruhigte mich auf irgendeine Weise. Ich fühlte mich beschützt und geborgen.
»Ach, Luz«, seufzte mein bester Freund und streichelte mir die Rippen. »Sieh es so, Álvaro hasst dich jetzt nicht mehr, weil Lorenzo tot ist.«
»Er war gerade dabei, mir zu verzeihen«, jammerte ich. Ich verbot mir, an gestern zu denken.
Er schlug die Decke etwas zurück, sodass mein Kopf hervorkam. Bockig blinzelte ich mit meinen tränenverschmierten Augen in das Licht. Dabei konnte ich froh sein, dass es draußen langsam dunkel wurde, sonst wäre ich jetzt sicher geblendet worden.
Allerdings wurde es ohne die Decke kalt. Und das, obwohl draußen eigentlich angenehme Temperaturen herrschten und man problemlos in T-Shirt und kurzer Hose herumlaufen konnte. Aber ohne Decke fehlte irgendetwas.
Grummelnd kuschelte ich mich enger an Logan. »Mach die Decke wieder rum.«
Er lachte. »Hey, da hat ja jemand auf gehört zu weinen.«
Unwillkürlich entwich mir ein Glucksen. »Ja, aber wenn du nicht sofort die Decke rumklappst, fange ich gleich wieder an«, schniefte ich.
Aber er hatte ja recht. Zwar tat es nach wie vor noch weh, aber es fühle sich an, als hätte ich mich ausgeweint. Logans Nähe hatte mehr als gedacht dazu beigetragen. Denn auch, wenn mein bester Freund anders empfand, er war wie ein großer Bruder für mich. Das war schon immer so und so würde es auch immer bleiben.
»Ach Luz«, seufzte Logan und ich konnte an seiner liebevollen Stimme hören, dass er grinste. Sanft lege er die Decke wieder über meinen Kopf.
Während ich meine Augen schloss und mich wieder an ihn schmiegte, löste mein bester Freund eine Hand von mir und kramte damit in meiner Nachttischschublade. Dabei zappelte er natürlich dementsprechend herum, was mir ein unwilliges Knuckern entlockte.
Doch schon kurz danach wurde er ruhiger und die Hand hielt mir blind ein Taschentuch hin. »Hier.« Der Zipfel kitzelte ab meiner Wange.
Ich rührte mich nicht. Auch wenn mir bewusst war, dass es gut tun würde, wenn ich mir mein Gesicht abwischte und die Nase putzte. Aber es war gerade so schön bequem. Allerdings bewegte mein Nichthandeln ihn dazu, die Decke erneut zurückzuschlagen, mich von sich zu schieben und mir das Gesicht eigenhändig abzuwischen.
»Hey, lass das«, beschwerte ich mich und versuchte verzweifelt mit zugekniffenen Augen, meine Arme wieder um seinen Oberkörper zu schlingen und mein Gesicht an seiner wärmenden Brust zu vergraben. Erst jetzt fiel mir erst auf, wieso ich so von einer Wärme angezogen wurde. Mir war schlichtweg kalt. Innerlich kalt. Die Situation mit Álvaro, seinem Bruder und seinem Ex war schlichtweg zu viel für mich.
Logan ließ erst wieder von mir ab, als er die ganzen Tränen weggewischt hatte. »So ist's doch bestimmt besser, oder?« Das Taschentuch flog neben das Bett und er mummelte mich wieder zärtlich in die Decke.
»Hm«, grummelte ich und sog seinen herb würzigen Duft ein, der sich so sehr von Álvaro unterschied, mich aber nicht minder geborgen fühlen ließ.
Álvaro.
Erneut kamen mir die Tränen. Ob ich je wieder in seinen Armen liegen würde? Mir war zwar durchaus bewusst, wie unglaublich pessimistisch ich an die ganze Sache ranging, aber mein panisch verwirrten Hirn konnte einfach nicht anders. Und wie gesagt wusste ich genau, wie intensiv der Vampir für Lorenzo empfunden hatte. Was er jedoch bei mir fühlte, konnte ich nicht sagen. Eine kleine, fiese Stimme in meinen Kopf schimpfte allerdings, dass es nicht annähernd so besonders war wie bei Lorenzo. Zumal Álvaro nun leider einmal das männliche Geschlecht präferierte, selbst wenn ich niemals ganz genau das Wort schwul benutzt hatte.
Ein weiterer Gedanke drängte sich zwischen die Bilder in meinem Kopf: hier konnten die beiden völlig ungestört zusammensein. Aquila war nicht da, um ihnen den Kopf abzuhacken, und auch die gesellschaftlichen Normen ermöglichten den beiden eine Beziehung. Eine richtige. Mit allem drum und dran. Händchen halten in der Öffentlichkeit. Sich küssen. Sich necken, sich berühren. Sich zu lieben, ohne sich fürchten zu müssen, erwischt und gehangen zu werden.
Wieso sollte Álvaro mich also vorziehen? Lorenzo war alles, was er je wollte, und jetzt hatte er die Möglichkeit, so zu leben, wie er wollte. Vermutlich war der Vampir mir sogar dankbar dafür, dass er jetzt in dieser Welt weilen durfte, frei von den Zwängen seines Vaters.
Ich schluchzte auf.
»Ach Luz, ich hatte doch gerade alles abgewischt«, seufzte Logan und strich mir durch's Haar. »Magst du darüber reden?«
Statt einer Antwort schmiegte ich nur vor mich hin - bis sich jäh ein neuer Gedanke in meinen Kopf schlich, der mich erschauern ließ. Vor Schreck vergaß ich völlig, zu weinen.
Mein bester Freund bemerkte das. »Luz? Alles okay? Was ist los?«
»Lorenzo wird mich umbringen, wenn er herausfindet, dass ich ihn hab sterben lassen«, flüsterte ich entsetzt. »Und wenn ihm bewusst wird, wie sehr Álvaro darunter gelitten hat, erst recht.« Damit begann ich wieder zu weinen. Ich war echt ein Lappen. Ein elender Jammerlappen.
Logans Griff um meine Taille verstärkte sich. »Er wird dich nicht umbringen«, murmelte er.
»Álvaro war kurz davor, und der hatte vermutlich noch ein paar Gefühle für mich übrig«, jammerte ich leise in sein Hemd.
Grob gruben sich seine Finger in meinen Rücken. »Und noch immer könnte ich ihm dafür den Kopf abreißen«, knurrte Logan und ich konnte die Wut in seiner Stimme hören. Ebenso wie ich dachte er sicher gerade auch an die Wunden und die Würgemale. Dass Álvaro mich damals fast die Klippe runtergestoßen hatte, wusste er ja noch nicht einmal. War vermutlich auch besser so.
»Es war trotzdem nicht seine Schuld«, brachte ich hervor.
Mein bester Freund bebte. »Dennoch hatte er kein Recht dazu. Ebenso wenig hat es Lorenzo. Und ich schwöre dir, dass ich nicht zulassen werde, dass dir jemand wehtut.«
Ich nickte. Eine Antwort brachte ich nicht zustande, dafür war der Tränenkloß in meinem Hals zu groß. Stattdessen schmiegte ich mich enger an seine Brust. Logans Hand lockerte sich und er begann, beruhigend über meine Taille zu streicheln, während ich vor mich hin weinte. Hatte ich nicht vorhin noch gedacht, dass ich mich ausgeweint hatte?
Seine Finger strichen über meine Hüfte. Ganz zart. Hin und her. Kombiniert mit seinem Herzschlag gab es mir halt und Geborgenheit.
Als die Hand meines besten Freundes jedoch noch ein Stück runter rutschte und meinen Po streifte, erstarrte ich jäh. »Logan ...«, setze ich an.
Er zog seine Hand weg, als hätte er sich verbrannt. »Tut mir leid, ich ...«, stammelte mein bester Freund. Ruckartig löste er sich von mir und sprang förmlich auf. Die Decke begrub mich unter sich. »Ich mach dir etwas zu Essen, du bist sicher hungrig. Magst du Pudding haben? Bestimmt. Pudding hilft immer, wenn man traurig ist ...« Damit entfernten sich seine Schritte in Richtung Küche.
Ich blieb alleine unter der Decke zurück und Kälte machte sich in mir breit. Die Tränen begannen wieder zu fließen.
Dabei hatte ich doch nie Hunger, wenn ich gerade weinte.
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