Kapitel 4: Zwischen Tür und Angel

„Die Polizei glaubt, dass ein paar jüngere Schüler das Feuer absichtlich gelegt haben," die Stimme meines Vaters dringt langsam zu mir durch, während ich schweigend aus dem Fenster starre. Ich sitze schon seit einiger Zeit auf der Fensterbank und beobachte die Menschen außerhalb meines Zuhauses. Das junge Ehepaar im Haus gegenüber streitet sich schon das dritte Mal innerhalb einer Stunde. Interessant, wie sich Menschen, die sich eigentlich lieben, so oft aneinandergeraten können. Pok ist seit der Begegnung mit dem fremden Jungen nicht mehr aufgetaucht. Wahrscheinlich ist er beleidigt, weil ich ihn bei dem Gespräch so unfreundlich vertrieben habe.

„Hörst du mir zu Erin?" Ich reagiere nicht auf die auffordernde Frage meines Vaters und richte meine Augen stattdessen auf ein kleines Mädchen, dass mit ihrem Hund auf dem Gehweg spielt. Ihre braunen Haare wehen wild im Wind und der kleine Hund springt erfreut an ihr herauf. Ich hatte mir schon immer einen Hund von meinen Eltern gewünscht. Stattdessen hatte ich Pok bekommen. „Erin?" Auf dieser Welt gibt es zwei Arten von Menschen, die bei einem solchen deutlichen Ausruf keine Reaktion zeigen. Die einen, die den Ausruf tatsächlich nicht hören, weil sie in ihren Gedanken versunken sind. Und dann gibt es noch Personen wie mich. Personen, die ganz genau wissen, dass man gerade mit ihnen spricht und die auch jedes einzelne Wort hören. Die jedoch nicht antworten um...ja wieso eigentlich nicht? Selbst ich, kann mir diese Frage nicht beantworten.

„Ich mache mir Sorgen um dich, Schatz," die besorgte Stimme meines Vaters ist nähergekommen und dieses Mal schaue ich auf. Mein Vater hat seinen Platz am Türrahmen verlassen und hat die wenigen Meter zwischen uns überbrückt. Somit steht er ungefragt in meinem Zimmer, obwohl er genau weiß, wie sehr ich es hasse, wenn er ohne zu Fragen mein Schlafzimmer betritt. Doch ich kann ihm ansehen wie ihm die Situation zu schaffen macht also schlucke ich meine Proteste herunter. Ein Streit ist das Letzte, was wir beide wollen. „Ich weiß," murmele ich nun leise vor mich her, meide jedoch seinen Blick. Ich wünschte Pok wäre hier, doch sein Auftauchen kann ich nicht wirklich kontrollieren. „Warum bist du nicht aus dem Raum geflohen?" Ich spüre den besorgten Blick meines Vaters auf mir hängen und beiße mir nervös auf die Unterlippe. „Du hättest jetzt Tod sein können."

Dein Vater hat Recht," ertönt plötzlich die Stimme meines kleinen Freundes und ich bin erleichtert ihn im Schatten meines Schrankes zu erkennen. Ich hatte schon erwartet ihn stundenlang nicht mehr zu sehen. Denn wenn Pok einmal beleidigt ist, ist es nicht gerade einfach sich wieder mit ihm zu vertragen. „Wäre das denn so schlimm?" frage ich nachdenklich an Pok gewandt und beobachte das kleine graue Monster dabei wie es den Kopf leicht schräg legt und meinen Gedanken scheinbar selbst verfolgt. „Erin," die empörte Stimme meines Vaters mischt sich zwischen mich und Pok, „Natürlich wäre es das."
Mit wenigen Schritten steht er direkt vor mir und anstelle von Pok sehe ich nun in das Gesicht meines Vaters. Er hat seine Augen leicht aufgerissen und starrt mich fassungslos an. Aus der Nähe erkenne ich seinen 3-Tage Bart und den leichten Ansatz an dunklen Sommersprossen auf seiner Nase. Ein paar Haarsträhnen fallen ihm ins Gesicht und mir fällt auf, dass sich die Falten um seine Augen herum in den letzten Wochen verstärkt haben. Er wird älter.

„Ich möchte nicht, dass du so über dich selbst denkst," Pok tapst mit langsamen Schritten hinter meinem Vater hervor und stellt sich mit etwas Abstand neben ihn. Meine Worte waren eigentlich nur für ihn gedacht. Mein Vater macht eine zu große Sache daraus. Ich hätte den Mund halten sollen.
„Erin du bist das Beste was mir passiert ist und ich liebe dich für die Person, die du heute bist," mein Vater hat angefangen zu Lügen und ich fange erneut damit an, vorzutäuschen in meine Gedanken zu versinken. Ich weiß, dass er glaubt seine Reaktion ist in diesem Moment die Richtige. Jeder möchte doch hören wie wichtig er im Leben eines anderen ist, doch ich weiß auch, dass sein Leben ohne mich um einiges besser verlaufen wäre. Höchstwahrscheinlich hätte ihn meine Mutter dann auch nie verlassen.

Hört er denn nie auf zu reden?"

Pok rollt genervt mit den Augen und versucht die Arme vor der Brust zu verschränken. Gleichzeitig tapst er unbeholfen von einem Fuß auf den anderen. Mein Blick bleibt auf dem kleinen Monster hängen, auch wenn ich dieses Mal auf eine Antwort verzichte. Denn auch mein Vater würde diese problemlos hören können und so gerne ich auch mit Pok plaudere, ich möchte auf jeden Fall einen weiteren Besuch bei Doktor Mykon vermeiden. „Du solltest ausziehen," Pok hat angefangen ungeduldig durch den Raum zu laufen. Dabei hat er seine pfotenähnliche Hand nachdenklich an das spitze Kinn gelegt. „Nach Amerika," mit dem Daumen tippt er sich immer wieder gegen das weiche Fell in seinem Gesicht, „Oder noch besser: Kanada." Ich verdrehe bei diesem Vorschlag die Augen und bemerke, dass mein Vater schon längst weitergesprochen hat. Ich habe keine Ahnung, wie viel ich von seinem Gespräch verpasst habe. „Ich weiß, dass du sie nicht magst aber ich finde in dieser Situation," er macht eine kurze Sprechpause und blinzelnd kehrt meine Aufmerksamkeit zurück zu ihm, „ist es angebracht sie anzurufen."
„Sie?" frage ich verwundert nach und bemerke aus dem Augenwinkel das Pok noch immer gedankenverloren vor sich hinredet. Ich blende sein nachdenkliches Murmeln aus und richte meine Konzentration zurück auf meinen Vater.

„Doktor Mykon," an dem Blick meines Vaters erkenne ich, dass er von der Frage überrascht ist. Scheinbar hat er tatsächlich gedacht ich würde ihm aufmerksam zuhören. „Wir haben doch gerade darüber geredet." Ich nicke zustimmend, auch wenn ich in den letzten Minuten nur auf Pok geachtet hatte. Sein Vorschlag nach Kanada auszuwandern, klingt plötzlich nicht mehr so abwegig wie noch wenige Minuten zuvor. „Hast du mir denn überhaupt zugehört?" Vor dieser Frage habe ich mich am meisten gefürchtet. Mein Vater weiß die Antwort. Doch ich weiß, dass er sie laut hören möchte - damit er endlich einen Grund hat sauer auf mich zu sein. „Kein Stück. Aber ich dachte das hätte er bemerkt," ertönt jetzt erneut die Stimme von Pok, der den Worten meines Vaters anscheinend doch überraschend gut gefolgt ist. Gleichzeitig tapst er neben mich und stemmt die Hände in die Hüfte. Dort bleiben sie nur für wenige Sekunden, dann verlieren seine Pfoten an dem hellgrauen Fell den Halt und rutschen langsam an seinem dicken Bauch herunter.

„Erin!"
Mein Vater erhebt kaum merklich die Stimme und ich kann förmlich spüren wie sich seine Sorge in hilflosen Zorn verwandelt. Neben mir zuckt Pok unter der plötzlichen Strenge zusammen und auch ich rutsche kaum merklich vor meinem Vater zurück. Er erhebt selten die Stimme gegen mich, aber wenn er es tut, dann bereitet mir das Sorgen. „Du musst mit mir zusammenarbeiten," er atmet tief durch und scheint sich damit selbst etwas beruhigen zu können, „Ich möchte, dass es dir wieder besser geht Erin. Und nach dem letzten Gespräch bei Doktor Mykon hast du dich doch besser gefühlt, oder?"
Ich möchte bei dieser Frage mit dem Kopf schütteln. Doktor Mykon lässt mich nie besser fühlen. Sie redet mir nur ein, dass ich krank bin. Im Kopf. Und das Pok nicht echt ist. Dabei ist Pok momentan der einzige Freund, den ich habe.

„Du weißt, dass ich immer für dich da bin," murmelt mein Vater plötzlich und macht einen Schritt auf mich zu. Er hebt die Arme als würde er mich umarmen wollen und ich verspüre den plötzlichen Instinkt, vor dieser liebevollen Geste zu flüchten. Ich hasse Körperkontakt. Auch wenn er von meinem eigenen Fleisch und Blut kommt. Trotzdem bleibe ich bewegungslos auf der Fensterbank sitzen und lasse zu, dass mein Vater sanft die Arme um mich legt. Ich jedoch erwidere seine Umarmung nicht und lasse meine Hände nutzlos an meinem Körper herabhängen. „Ich bin auch da," mischt sich Pok nun aus dem Hintergrund ein und versucht sich in einem aufmunternden Lächeln. Ich werfe ihm über die Schulter meines Vaters einen kurzen Blick zu und sehe das kleine Monster, dass erneut leicht mit dem Kopf wackelt. Dabei wippen seine Ohren seitlich an seinem Kopf auf und ab und sein katzenähnlicher Mund verzieht sich zu einem erbärmlichen Versuch eines Lächelns. Ich atme tief durch und schließe erschöpft die Augen. Im selben Moment jedoch glaube ich den dunklen Schatten von Tyke hinter meiner Zimmertüre wahrzunehmen.

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