Kapitel 3: Mit Fremden und Freunden

„Was hast du dir dabei gedacht?"

Die vorwurfsvolle Stimme meines Vaters dringt durch meine Kopfhörer und wortlos schaue ich zu ihm herauf. Da ich sitze ist er wesentlich größer als ich und schirmt teilweise das gleißend helle Licht der Deckenlampe ab, sodass ein dunkler Schatten auf mich fällt. Ich habe keine Ahnung was ich auf die Frage meines Vaters antworten soll, weshalb ich peinlich berührt schweige. Ich hatte noch nie ein Händchen für soziale Konversationen, vor allem dann nicht, wenn es darum geht Probleme aus der Welt zu schaffen. Erneut bewegen sich die Lippen meines Vaters, doch dieses Mal kommen seine Worte gar nicht erst in meinem Kopf an. Die Kopfhörer dämpfen noch immer die Umgebungsgeräusche und wortlos starre ich an meinem Vater vorbei, in der Hoffnung irgendwo Pok erkennen zu können. Doch das graue Monster ist wieder einmal spurlos verschwunden und meine Finger bohren sich langsam in den Stoff meiner Hose.

„Erin hörst du mir zu?" Dieses Mal dringt die fragende Stimme meines Vaters sehr wohl zu mir durch. Ich schaue auf und starre ihm ins sonnengebräunte Gesicht. Ich sehe die Sorge in seinen Augen und das kurze Zucken seiner Finger. Ich bin mir sicher, dass er in diesem Moment bereits mit dem Gedanken spielt Doktor Mykon anzurufen. Doch irgendetwas scheint ihn davon abzuhalten. Anstatt dass er auf meine Antwort wartet, dreht er sich plötzlich von mir weg und eilt nach sekundenlangem Blickkontakt mit einer Arzthelferin zum Empfangstresen des Krankenhauses. Perplex starre ich ihm nach und realisiere erst nach wenigen Sekunden, dass die junge Krankenschwester ihn zu sich gerufen haben muss. Sie gibt ihm eine kleine Karte zurück und er scheint etwas unterschreiben zu müssen.

„Hey."
Die tiefe Stimme ertönt direkt neben mir und obwohl ich meinen Blick überrascht auf meinen Sitznachbarn richten möchte, starre ich weiterhin meinem Vater nach. Ich möchte den jungen Mann neben mir nicht anschauen, aus Angst, er könnte mit seiner kurzen Begrüßung tatsächlich mich meinen. Doch warum sollte er? Mir fällt kein logischer Grund ein und doch kann ich seine Augen drückend schwer auf mir hängen spüren. „Ich weiß, dass du mich hören kannst." In der Zwischenzeit bin ich mir ziemlich sicher, dass er mich meint und doch versuche ich überall verbissen hinzuschauen, nur nicht in seine Richtung. Wer ist dieser Typ? Plötzlich taucht Pok neben mir auf. Sein graues Fell schimmert im grellen Licht der Deckenbeleuchtung und in dem Glanz seiner dunklen Augen, kann ich die verschwommene Spieglung des Mannes erkennen. Ich bin unglaublich froh, meinen kleinen Freund wiederzusehen.

Ich glaube er redet mit dir," stellt Pok jetzt mit ruhiger Stimme fest und legt den Kopf leicht schräg. Dabei übernehmen seine Ohren die Bewegung und wippen leicht auf und ab. „Ach komm schon," dieses Mal ertönt erneut die Stimme des Fremden, „Du weißt, dass ich mit dir rede, Erin." Verbissen lasse ich meinen Blick auf Pok gerichtet und ignoriere die verschwörerische Stimme des jungen Mannes neben mir. Er ist etwas näher zu mir gerutscht, sodass sich unsere Knie fast berühren. Ich möchte wegrutschen, doch die Bank ist zu kurz dafür. Ich möchte aufstehen, doch habe Angst, die Aufmerksamkeit meines Vaters zu erregen. Die Flucht vor einem Fremden würde ihn nicht weniger davon überzeugen, dass ein Anruf bei Doktor Mykon von Nöten ist. „Er kennt deinen Namen E," ich richte meine Augen vorwurfsvoll auf Pok und forme ein lautloses 'Dein Ernst' in seine Richtung. Das kleine Monster zuckt daraufhin ahnungslos mit den Schultern und tapst näher an mich heran. „Du solltest mit ihm reden." „Nein sollte ich nicht," murmele ich Pok zwischen zusammengebissenen Zähnen zu und versuche meine Stimme so leise wie möglich zu halten. Mit der Luft zu reden kommt selbst bei Freunden nicht sonderlich gut an, geschweige denn in einem Krankenhaus voller fremder Leute. „Doch solltest du," langsam fängt Pok an mich zu nerven und wäre das nicht schon genug, meldet sich nun auch wieder der junge Mann neben mir zu Wort.

„Komm schon, rede mit mir."
Er redet nicht mit mir.
„Ich weiß, dass du keine Musik hörst."
Okay vielleicht redet er doch mit mir.
„Erin."
Okay vielleicht redet er doch ganz sicher mit mir.

Ich spüre Pok's besserwisserischen Blick auf mir, als würde das Monster beweisen wollen, dass es Recht hat. Doch ich ignoriere ihn gewissenhaft und drehe mich stattdessen dem jungen Mann zu, der bei einem genaueren Blick überraschend jung wirkt. Um genau zu sein, jung genug um in meine Klasse gehen zu können. Außerdem sieht er gut aus und erneut zweifele ich daran, dass er gerade mit mir reden möchte. Vielleicht gibt es noch eine andere Erin hier. Mein Blick schweift für wenige Sekunden hoffnungsvoll an ihm vorbei. Doch weder neben, noch vor ihm, versteckt sich ein anderes Mädchen mit meinem Vornamen. „Na endlich," der Junge scheint erleichtert und ein kleines Lächeln umspielt seine schmalen Lippen. Dabei entblößt er eine Reihe weißer Zähne und verunsichert ziehe ich einen meiner Kopfhörer aus meinen Ohren. Dadurch dringen die Umgebungsgeräusche nicht länger gedämpft an mein Ohr und das Gefühl, alles unbemerkt beobachten zu können schwindet. Ich fühle mich plötzlich schwer und beängstigend präsent.

„Ich bin Tyke," der Junge streckt mir die Hand entgegen und wortlos starre ich sie an. Ich habe keine Ahnung was ich tun soll. Allen voran, weil ich den Teenager nicht wiedererkenne. Umso mehr verwirrt mich seine Offenheit und sein Verhalten. Denn im Gegensatz zu mir, scheint er zu glauben wir würden uns kennen. „Kennen wir uns?" frage ich jetzt mit zögerlicher Stimme nach und mustere den Jugendlichen ein weiteres Mal. Er hat schwarze Haare, die an den Seiten kurzgeschoren sind ihm oberhalb jedoch trotzdem strähnig ins Gesicht fallen. Seine Augen sind grün und als ich bemerke, dass er sie auf mich gerichtet hält, wende ich meinen Blick schnell von seinem kantigen Gesicht. „Nein," der Junge schüttelt den Kopf, „aber ich kenne dich." Sein Lächeln erscheint mir freundlich. Zu freundlich für einen hübschen Jungen, der freiwillig mit mir redet. Zufällig streifen meine Augen die schwarze Tinte auf seiner Haut, die sich unter seinem Pullover hervorschält. Tattoos. „Frag ihn, woher," ertönt jetzt die piepsige Stimme von Pok neben mir und genervt werfe ich ihm einen kurzen Seitenblick zu. Anschließend forme ich mit meinen Lippen ein lautloses 'Verschwinde', woraufhin sich mein kleines Monster augenverdrehend in Luft auslöst. Ich möchte mich gerade wieder dem Jungen zuwenden, als sich die Stimme meines Vaters einmischt.

„Erin bist du bereit zum Gehen?"

Überrascht ihn zu hören, schaue ich auf und bemerke, dass er schon längst vor mir steht. Er hält ein paar unausgefüllte Unterlagen in der Hand, scheint jedoch alles soweit in Ordnung gebracht zu haben, sodass wir nach Hause fahren können. Ihn scheint es noch nicht einmal zu interessieren, dass ich in einem - ungewollten - Gespräch gefangen bin. Etwas überrumpelt von der Frage meines Vaters nicke ich als Antwort, werfe Tyke jedoch noch einen kurzen Blick zu. Ich bin neugierig auf den hübschen Jungen, der es aus irgendeinem Grund darauf angelegt hat, mich anzusprechen. Er verhält sich mysteriös und behauptet, mich zu kennen. Ich möchte wissen woher. Doch als mein Blick neben mir auf die Bank schweift, sehe ich nur einen leeren Platz. Der Junge mit den schwarzen Haaren ist spurlos verschwunden und verwundert fahre ich mir selbst durch die Haare.

„Ist was?"

Die Stimme meines Vaters dringt erneut zu mir durch und blinzelnd schaue ich zu ihm auf. Es ist verwunderlich, dass er nicht nach dem Jungen neben mir fragt. Sonst möchte er auch immer alles aus meinem Leben wissen, vor allem dann wenn es um meine sozialen Kontakte geht. Meistens, weil ich keine habe und er sich Sorgen macht. „Nein," ich schüttele langsam mit dem Kopf, „Alles okay." Ich setze ein leichtes Lächeln auf und stehe von der Bank auf. Ich lasse mir nicht anmerken, dass mir das spurlose Verschwinden des Jungens Sorgen bereitet. Nicht nur scheint er mich zu kenne und Interesse an mir zu haben, sondern er scheint auch viele Ähnlichkeiten mit Pok zu haben. Auch bei ihm fing es mit einem ungewöhnlichen Gespräch und anschließendem spurlosem Verschwinden an. Nur damals habe ich mit meinem Vater darüber geredet, was mit Überfürsorge und einem Besuch bei Doktor Mykon geendet hat. Deshalb beiße ich mir jetzt schweigend auf die Unterlippe und verzichten darauf meinen Vater nach einem grünäugigen Jungen zu fragen. Denn ich habe bereits das unangenehme Gefühl, ihn bald in meiner Einsamkeit wiederzusehen.

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