Kapitel 23: In Wut und Rage

Mit schnellen Schritten stürme ich aus dem Büro von Dr. Mykon, die mir beherzigt nachruft. Tyke hingegen folgt mir direkt. Meine rennenden Schritte hallen laut im Treppenhaus wieder und ich eile so schnell um die Ecke, dass ich auf den glatten Fliesen fast ausrutsche. Meine Sohle rutschen quietschen über den Boden und ich überspringe in meiner Eile die nächsten zwei Stufen. Mein Kopf ist leer und gleichzeitig voller verwirrender Gedanken. Tyke ist sehr wohl real. Die eindrücklichen Worte von Dr. Mykon hallen in meinem Kopf wieder und mein Blut rauscht laut in meinen Ohren. Er ist ein Mensch wie du und ich. Er ist real. Diese Tatsache möchte ich noch immer nicht ganz realisieren. Es ist wie im Matheunterricht, wenn man glaubt die Formel endlich verstanden zu haben und dann eine neue Aufgabe, mit anderen Zahlen, kommt und man wieder ganz am Anfang ist.

Ich verstehe nichts mehr.
Fühle mich wie ein kompletter Idiot.
Tyke ist real.

Ich kann den dunkelhaarigen Jungen dicht hinter mir die Treppe heruntereilen hören. Auch seine Turnschuhe quietschen auf den Fliesen. Er ist noch ein Stockwerk über mir. Aber er hat längere Beine als ich, ist größer und kräftiger. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er mich einholt. Dieser Gedanke treibt mich weiter an und ich zwinge mich dazu, schneller zu rennen. Mein Herz schlägt mit einem ungesunden Tempo gegen meine Brust und ich spüre, wie der schnelle Schlag einen stechenden Schmerz in meinem Körper auslöst. Meine Oberschenkel fangen an zu brennen und als ich in meiner Hektik falsch auftrete zieht ein stechender Schmerz durch mein Fußgelenk. Doch dieser Schmerz ist nichts gegen die Hitze in meinem Körper und die wirren Gedanken in meinem Kopf. In meinen Venen wütet ein Feuer. Ein pulsierendes Feuer, dass sich durch meine Muskeln zieht und sie zwingt, sich anzuspannen. Weiter zu rennen. Das Adrenalin rast durch meinen Körper und ich kann das unkontrollierte Zittern in meinen Fingern spüren.

Tyke hat mich fast eingeholt und als ich einen überprüfenden Blick zurückwerfe, stolpere ich über meine eigenen Füße und falle fast die letzten drei Stufen bis zum nächsten Stockwerk herunter. Nur meine Hand, die sich geistesgegenwärtig um das Geländer krallt, verhindert, dass ich stürze. Brennende Schmerzen ziehen sich durch meinen Arm, der für wenige Sekunden das Gewicht meines ganzen Körpers tragen muss. Ich komme stolpernd wieder auf die Füße und eile weiter. Mein Herz rast. Meine Oberschenkel brennen. Meine Schritte hallen laut in dem Treppenhaus wieder und meine Atmung ist ein ungleichmäßiges Luftschnappen. Die Geräusche scheinen von allen Seiten auf mich einzubrechen. Alles dröhnt. Meine Gedanken - ein Chaos.

Der dunkelhaarige Junge hat mich nun eingeholt und passt sich mit Leichtigkeit meinen schnellen Schritten an. Obwohl ich versuche schneller zu laufen, lässt er sich nicht von mir abhängen. Er bleibt auf meiner Höhe und tänzelt dabei sogar noch leichtfüßig neben mir her. Ihm ist keine Anstrengung anzusehen und das macht mich noch viel wütender. Ich stürme so schnell die Treppen hinunter, dass ich die sieben Stockwerke in einer Rekordzeit von wenigen Minuten schaffe. Ich wäre fast stolz auf mich, wenn meine Gedanken nicht noch immer bei Dr. Mykon's Worte hängen würden. Tyke ist sehr wohl real. Ich überspringe die letzten Stufen und lande mit einem lauten Patschen im breiten Eingangsbereich. Die Mittagssonne fällt in sanften Strahlen durch die Glastüre in das Innere des Gebäudes und bringt die hellen Fließen zum Glänzen. Er ist ein Mensch wie du und ich. Das Dröhnen in meinem Kopf möchte nicht aufhören. Mit schnellen Schritten steuere ich die Eingangstüre an, doch Tyke drängelt sich geschickt vor mich. Mit seinem Körper blockiert er den Ausgang und lässt mir somit keine andere Wahl als stehen zu bleiben.

„Was ist denn los, Erin?" fragt er verwundert und jetzt macht sich ein unangenehmes Brennen in meinen Lungenflügel bemerkbar. Bei jedem Atemzug strömt die Luft in meinen hitzigen Körper und fühlt sich dabei wie brennendes Schleifpapier an, das über meine Lungen schabt. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich so voller Wut und Adrenalin, dass mir die Anstrengung fast entgangen ist. Meine Augen landen auf Tyke, der ehrlich verwirrt aussieht. Ihm hängen die Haare leicht ins Gesicht und seine Augen glänzen in einem hellen grau. Seine Lippen sind leicht geöffnet und seine Hand zuckt. Er scheint meine aufgebrachte Reaktion tatsächlich nicht zu verstehen. Ich verziehe mein Gesicht und drücke mich wortlos an ihm vorbei. Dabei nutze ich seine Überraschung, um seinen erstarrten Körper mit aller Kraft zur Seite zu stemmen und nach draußen zu eilen. Hier begrüßt mich die kalte Luft wie ein Feuerlöscher. Während die Glastüre hinter mir ins Schloss fällt legt sich die frische Kälte der Umgebung augenblicklich auf meine hitzige Haut. Sie dringt mit jedem weiteren Atemzug in meinen angespannten Körper und reinigt meine Gedanken, die sich laut in einem Kopf überaschlagen. Das Blut rauscht in meinen Ohren und ich kann spüren wie die aufgebrachte Hitze der Wut langsam meinen Körper verlässt. Ich atme tief durch und schließe für wenige Sekunden die Augen.

Einatmen.
Ausatmen.

Die sich anbahnende Ruhe wird schlagartig zerbrochen, als ich Tyke erneut dicht hinter mir spüren kann. Er ist mir nach draußen gefolgt, obwohl ich gehofft habe ihn mit meinem abweisenden Verhalten vertrieben zu haben. Irgendwie habe ich gehofft, dass er sich wie so oft einfach in Luft auflöst und verschwindet. Stattdessen steht er nun hinter mir und ich kann seinen Körper spüren. Er legt seine warme Hand auf meinen Oberarm und hindert mich erneut daran, vor ihm und meiner eigenen Dummheit zu flüchten. Ich weiß noch nicht einmal was mein Plan war. Ich weiß noch nicht einmal wo ich hätte hingehen wollen. Zuhause ist keine Option und Pok ist mein einziger Freund. Doch durch Tyke's festen Griff bin ich gezwungen stehen zu bleiben und meine Wut ist schlagartig zurück. Schwungvoll drehe ich mich zu ihm um und werfe ihm einen wütenden Blick zu. Dabei peitschen mir meine Haare fest ins Gesicht und der kurzlebige Schmerz fächert meine brennende Wut wie frisches Benzin an.

„Warum bist du sauer?"

„Du hast gesagt du bist in meinem Kopf," antworte ich aufgebracht auf Tyke's verständnislose Frage und presse meinen Kiefer zusammen. Ich spüre wie sich die Muskeln in meinem Gesicht verkrampfen und meine Zähne fest aufeinandergepresst werden. Knirschen. Mein Herz prallt mit jedem weiteren Schlag fest gegen meinen Brustkorb und stechende Schmerzen ziehen sich mit jedem Pulsieren durch meinen angespannten Körper. Ich kann seine Lügen in meinem Kopf hören. Ich kann dieses einengende Gefühl in meiner Brust spüren, als hätte eine Hand mein Herz ergriffen und es einfach aus meinem Körper gerissen. Ich fühle mich dumm. Naiv. Tyke's verständnisloser Blick macht alles nur noch schlimmer. Er scheint noch immer nicht verstehen zu können, warum mich dieses kleine Detail so wütend macht.

„Das habe ich nie behauptet," natürlich wiederspricht er mir, „Ich habe dir nur nie widersprochen!" Es hat keinen Sinn mit ihm zu diskutieren. Er ist genauso stur und eigensinnig wie ich. Klar, er ist ja auch in meinem Kopf. Nein ist er nicht. Ich schüttele meinen Kopf um diesen Gedanken zu vertreiben. Ich werde noch eine Weile brauchen um Tyke nicht länger als meinen imaginären Freund zu sehen. Oder überhaupt als Freund. Scheiße. Ich habe ihm einfach vertraut. Ich habe noch nicht einmal nachgefragt, als er vor wenigen Tagen neben mir im Krankenhaus aufgetaucht ist. Mir wird schlecht. Ich möchte mich erneut aus dem festen Griff des Jungens losreisen und davon stürmen. Fliehen. Doch er hat seine Hand starr um meinen Oberarm gelegt, sodass ich keine andere Wahl habe, als ihm wütend in die Augen zu starren.

„Es war zu deiner eigenen Sicherheit," versucht sich der Junge zu verteidigen und empört schnaube ich auf. Ich kann seinen eisernen Griff an meinem Arm spüren. Seine Finger sind warm und liegen fest auf meiner Haut. Er tut mir dabei nicht weh, doch schon allein die Berührung brennt in diesem Moment wie ätzende Säure auf meiner Haut. Ich möchte, dass er mich loslässt. Dass seine Hand von meinem Arm verschwindet. Dass er mich nicht länger berührt. Nicht länger mit seinen grünen Augen verständnislos ansieht. Dass er mich nicht länger anlügt. Ich möchte ihn nicht länger sehen. Er hat mich angelogen und mir bewusst eingeredet, verrückt zu sein.

Die Wut ist zurück.
Sie war nie weg.

„Klar, weil mich im Glauben zu lassen, dass ich noch einen imaginären Freund habe, mich vor allem Bösen der Welt beschützt." Meine Stimme trieft vor Sarkasmus und ich weiß nicht, wo plötzlich diese Energie herkommt. Normalerweise hasse ich Streit. Ich gehe ihm gekonnt aus dem Weg indem ich dem Gegenüber entweder einfach zustimme oder gar nicht erst auf seine Worte eingehe. Auch jetzt würde ich lieber fliehen und Tyke aus dem Weg gehen, bis sich meine Wut gelegt hat. Doch der Junge fordert mich mit seinem Griff geradezu dazu auf, wütend zu sein. Erneut hallen seine Worte in meinem Kopf wieder. Ich muss an die vielen Momente denken, in denen ich ihn gefragt habe, ob er in meinen Gedanken ist. Ob er real ist oder ein Teil von mir selbst. Er hat mir jedes Mal in die Augen gesehen und beteuert, so zu sein wie Pok. Ich habe ihm geglaubt.

„So hast du mir wenigstens vertraut," wendet Tyke in diesem Moment ein und kopfschüttelnd atme ich aus. Er versteht nicht, warum mich seine Lügen verletzen. Er versteht nicht, warum ich ihn nicht verstehen kann. „Natürlich habe ich dir vertraut. Ich dachte DU wärst ICH!" Ich balle meine Hände zu Fäusten und starre den Jungen aufgebracht an. Die Hitze in meinem Körper ist zurück und sie bringt mich in Rage. Sie rast durch meinen Körper und steigt mir zu Kopf. Meine Gedanken fangen an zu kreisen und die Wut präsentiert mir nur die Argumente, die ich in meiner Aufgebrachtheit hören möchte. „Hätte ich dir von Anfang an die Wahrheit erzählt, hättest du doch nie im Leben mit mir geredet," wendet Tyke jetzt ein und auch er scheint langsam von Wut und aufgebrachter Verständnislosigkeit beherrscht zu werden. Trotz meiner Wut muss ich ihm zumindest in diesem Punkt zustimmen. Hätte er von Anfang an gesagt, dass er echt ist, hätte ich wahrscheinlich kein Wort mehr mit ihm geredet. Ich rede nicht mit Menschen. Mit Fremden schon gar nicht. Trotzdem möchte ich Widerworte einwerfen und mich selbst verteidigen. Oder ihm wenigstens klarmachen, dass seine Lügen trotzdem nicht gerechtfertigt waren. Doch Tyke ist schneller. Er spricht weiter: „Es war nie Teil des Plans, dass du denkst ich wäre in deinem Kopf. Aber dann hast du damit angefangen und...," seine Hand rutscht langsam von meinem Arm und der Druck auf meiner Haut, sowie die Energie in seiner Stimme verschwindet, „...dir zu widersprechen wäre dumm gewesen. Es hätte den Schattenkriegern nur noch mehr Chancen gegeben um dich zu entführen."

„Du hast mich angelogen!"
„Ich habe dir nur einen Teil der Wahrheit verschwiegen!"
„Das IST Lügen!"
„Es war zu deiner eigenen Sicherheit!" „

„Ach fick dich doch," die wütenden Worte rutschen mir einfach so über die Lippen und in diesem Moment interessiert es mich nicht, dass ich solche Beleidigungen normalerweise nicht in den Mund nehme. Eigentlich bin ich nicht so. Ich streite nicht. Ich schreie nicht. Ich lasse Wut nicht meine Gedanken kontrollieren. Doch in diesem Moment hat die zerstörerische Hitze meinen Körper ergriffen. Wie eine Schlange hat sich die Wahrheit in meinen Körper gebissen und ihr Gift rauscht nun als pulsierender Zorn in meinen Venen. Ich drehe mich mit fliegendem Haar um und stürme mit hektischen Schritten davon. Dieses Mal lasse ich es nicht zu, dass Tyke mich aufhält. Als er noch einmal versucht seine Hand um meinen Oberarm zu legen, entreiße ich ihm meinen Arm. Ich ignoriere die daraufhin pulsierenden Schmerzen und eile stolpernd weiter. Tränen brennen in meinen Augen und erst jetzt bemerke ich, dass sich meine Wut langsam in verzweifelte Hilflosigkeit verwandelt.

„Erin!"

Tyke ruft mir verzweifelt nach und wäre ich nicht so aufgebracht, würde ich wahrscheinlich auch die Sorge in seiner Stimme besser wahrnehmen, „Die Schattenkrieger sind da draußen noch immer unterwegs. Du brauchst mich!" Ich ignoriere ihn. Ich ignoriere den besorgten Unterton in seiner Stimme und die wahren Worte, die er mir nachruft. Stattdessen wische ich mir wütend die Tränen aus den Augen. Ich stürme mit aufgebrachten Schritten weiter und lasse den dunkelhaarigen Jungen hinter mir auf dem menschenleeren Parkplatz zurück.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top