Kapitel 18: Um Sorge und Zwielichtigkeit
„Geht es dir wirklich gut?"
Das wiederholte Nachfragen meines Vaters nervt langsam. Er macht sich Sorgen um mich, nachdem ich mit aufgeschlagenen Knien, blutenden Handflächen und Kratzspuren im Gesicht heimgekommen bin. Ich kann von Glück sprechen, dass er weder die blutenden Ellenbogen, noch die Beule an meinem Hinterkopf bemerkt hat. Tyke ist einfach verschwunden. Er wollte nicht noch mit reinkommen. Als hätte er Angst meinem Vater zu begegnen. Wenigstens ist Pok bei mir. Er schmollt. Aus irgendeinem Grund nimmt er es mir wieder übel, ihn beim Kampf gegen die Schattenkrieger darum gebeten zu haben, Tyke das Leben zu retten. Jedoch scheint er noch genervter davon zu sein, dass ich auf dem Heimweg erneut den Ruhm für die Rettung eingeheimst habe. Dabei war ich einfach zu perplex, um Tyke darauf hinzuweisen, dass eigentlich dem grauen Monster zu danken ist. Immerhin hat er den Dolch geworfen und dem Jungen somit die Chance zum Weiterkämpfen gegeben. Ich dachte, nachdem Tyke uns den Zaubertrick mit seinen Tattoos gezeigt hat, ist wenigstens dieser Streitpunkt für das Monster vergessen.
Scheinbar nicht.
„Ja mir geht's gut Dad," murmele ich jetzt leise vor mich hin, während mein Vater mein Kinn zwischen seinen Fingern hält und aufmerksam die oberflächlichen Schnittwunden auf meiner Wange mustert. Der Schattenkrieger hat wohl fester zugepackt als bemerkt. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, dass mein Vater die Verletzungen sehen kann. Bedeutet das, dass die Schattenkrieger real sind? Oder heißt das nur, dass ich immer mehr den Bezug zur Realität verliere und mir schon selbst für Verletzungen eine Geschichte ausdenke. „Wir müssen das desinfizieren!" murmelt mein Vater und leise seufze ich auf. „Dad es ist wirklich okay," rede ich mit mehr Nachdruck auf ihn ein und entziehe ihm mein Gesicht. Die Schnittwunden auf meiner Haut schmerzen noch immer mit einem monotonen Pulsieren. Jedoch ist das Brennen inzwischen erträglich geworden. Ich atme tief durch und fahre mir durch die ungemachten und verfilzten Haare. Ich kann die Sorge in den Gesichtszügen meines Vaters erkennen. Er scheint zu überlegen, ob er mir glauben und es auf sich beruhen lassen soll, oder ob der Verbandskasten trotz meiner Wiederworte nötig ist. „Und wie genau ist das nochmal passiert?" Er scheint sich für Option eins und penetrantes Nachfragen entschieden zu haben. „Äh...," mein Kopf ist wie leergefegt und mir möchte keine Ausrede einfallen. „Erzähle ihm, du hattest eine Schlägerei. Oh," Pok springt aufgeregt neben mir her, „oder erzähle ihm, dass du gegen einen T-Rex kämpfen musstest." Ich erinnere mich daran, gestern mit dem kleinen Monster Jurassic World angeschaut zu haben. „Ich...äh...," stammele ich ratlos, während Pok neben mir noch immer weiterredet. Bei jedem weiteren Atemzug hat er eine neue Ausrede parat. Unmöglicher und ausgedachter als die davor. „Du weißt du kannst mir alles erzählen, Erin." Ich hasse den fürsorglichen Unterton in der Stimme meines Vaters. Es gibt mir ein bedrückendes Gefühl, als wäre es meine Schuld, dass mein Kopf so kompliziert und meine imaginären Freunde so real sind.
„Ich wurde...," ich kann die panische Hitze in meinem Körper spüren die mir langsam zu Kopfe steigt. Das nächste Wort rutscht mir unüberlegt über die Lippen: „...überfallen!" Die Augenbraune meines Vaters ziehen sich verwundert zusammen. Seine Augen weiten sich leicht und die Sorgfalten in seinem Gesicht scheinen tiefer zu werden. „Du wurdest...überfallen?!" Ich nicke bedrückt und bemerke nebensächlich, das Pok aufgehört hat zu reden. Stattdessen ist er neben mir zum Stehen gekommen und lässt den Blick aufmerksam zwischen mir und meinem Vater herschweifen. Ich kann nahezu hören, wie er kurz davor ist, mich für diese blöde Ausrede auszuschimpfen. Immerhin war die Idee mit dem T-Rex natürlich viel besser.
„Wer war das Erin?" Ich zucke hilflos mit den Schultern und meide seinen Blick. Ich hasse es, ihn so dreist anzulügen. Normalerweise schweige ich einfach. So muss ich ihn nicht anlügen und er muss nicht so tun, als würde er meinen Worten glauben. Auch wenn er es in diesem Moment scheinbar tatsächlich tut. „Ich habe sie nicht erkannt," das nervöse Lächeln auf meinen Lippen müsste mich eigentlich verraten, „Es ging alles so schnell." „Erzähl ihm es war ein Junge. Mit schwarzen Haaren und Tattoos. Oh und vergiss die Narbe am rechten Auge nicht," wirft Pok jetzt unruhig hüpfend ein und mir entgeht nicht, wie er versucht Tyke zu beschreiben. Ich glaube er nimmt es mir auch übel, dass er mit dem Wald verschwinden musste, während der dunkelhaarige Teenager mich bis Nachhause begleitet hat. „Alles gut, Erin," mein Vater zieht mich in eine Umarmung, „Das ist nicht deine Schuld. Hauptsache dir geht es gut." Ich spüre seine kräftigen Arme an meinem Rücken. Er tätschelt behutsam meine Schulterblätter, die noch immer von dem zu vorigen Sturz schmerzen. Ich kann sein süßliches Aftershave riechen und sein kratziges Kinn auf meinem Haaransatz spüren. Sein Körper ist mir so nah, dass ich mich unwohl fühle. Körperkontakt ist nicht so meins. Trotzdem lasse ich es kommentarlos zu, schaffe es jedoch nicht, die Umarmung ansatzweise zu erwidern. Ich bin froh, als er sich nach wenigen Minuten endlich wieder von mir löst.
„Am besten du legst dich erstmal hin," er streicht mir sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ich zwinge mir ein schwaches Lächeln auf die Lippen. Irgendwie hoffe ich, dass Tyke oben auf mich wartet. Ich habe noch einige Fragen an ihn. „Ich rufe in der Schule an," mein Vater schenkt mir ein beruhigendes Lächeln, „Du kannst morgen zuhause bleiben." Ich bin überrascht über diese verständnisvolle Geste und fühle mich sofort noch schlechter. Ich wurde nicht überfallen. Zumindest nicht in der Realität. „Danke Dad," murmele ich trotzdem leise, bevor ich mich an ihm vorbeidrücke und mit schnellen Schritten die Treppe hochstürme. Pok kann ich hinter mir empört aufrufen hören. Dass ich nicht auf ihn warte, stört ihn. Doch in dieser Sekunde kann ich nicht länger den besorgten Blick meines Vaters ertragen. Also flüchte ich in mein Zimmer, wo ich alleine zurückbleibe. Tyke ist nirgends zu sehen und ich weiß nicht, ob ich darüber erleichtert oder enttäuscht sein soll.
„Morgen keine Schule," trällert Pok, der plötzlich neben mir im Zimmer auftaucht. Ich zucke bei dem Klang seiner Stimme überrascht zusammen. Manchmal vergesse ich, dass er nur in meinem Kopf existiert und genauso schnell überall auftauchen und wieder verschwinden kann, wie meine Gedanken selbst. „Das war nicht der Plan," murmele ich leise vor mich hin. Das bedrückende Gefühl in meinem Bauch lässt mich schuldig fühlen. „Egal keine Schule," Pok zuckt locker mit den Schultern und klettert etwas unbeholfen auf mein Bett, „Vielleicht sollten wir ihm öfter sowas erzählen." Ich werfe dem kleinen Monster einen strafenden Blick zu, den er jedoch gekonnt ignoriert. Er lässt sich mit dem Rücken auf das Bett fallen und breitet die kurzen Arme aus. Er hat den Blick nach oben an meine Zimmerdecke gerichtet, während seine Füße leicht auf und ab wippen. Ich kann ihm ansehen, dass er gerne weiterreden würde. Doch meine eigenen Gedanken sind zu laut. „Was zur Hölle ist heute passiert?" falle ich ihm deshalb ins Wort und fahre mir erschöpft durch die Haare. Ich spüre die Beule an meinem Hinterkopf und bei der Armbewegung scheinen die Schürfwunden an meinen Ellenbogen heftiger zu pulsieren. Leichte Schmerzen durchfahren meinen Körper und langsam lasse mich neben meinem imaginären Freund auf der Bettkante nieder. Meine Gedanken sind laut und verwirrend. Sie fliegen wie tausend kleine Murmeln durcheinander und mir fällt es schwer, mich auf einen Aspekt des heutigen Tages zu konzentrieren.
„Wir haben gemeinsam gefrühstückt. Das war lecker. Dann hatten wir Schule," Poks Stimme nimmt beim letzten Wort einen genervten Unterton an und obwohl ich in diesem Moment mit dem Rücken zu seinem Gesicht sitze, kann ich mir sein Augenverdrehen bildlich vorstellen, „Ziemlich langweilig. Dann hatten wir ein Gespräch bei Dr. Mykon, bei dem du wieder einmal nicht zugegeben wolltest, dass ich da bin." Ich werfe meinem imaginären Freund einen matten Blick zu. Eigentlich hatte ich mit meiner Frage nicht diesen Teil des Tages gemeint. Zudem hat Pok keinen Grund sauer auf mich zu. Dass ich vor Dr. Mykon sein regelmäßiges Auftauchen verschweige, hat eigentlich nur den Sinn, dass er weiterhin auftauchen kann. Ich finde es schon schwer genug, meinen Vater immer wieder aufs Neue anzulügen, dass ich meine Medikamente nehme. Ich mag die Tabletten nicht. Sie machen mich müde und meine Gedanken langsamer. Dann fühlt es sich für eine Weile so an, als wäre mein Kopf mit dickflüssigem Kaugummi gefüllt. Wenn die Pillen anfangen zu wirken, ist Pok meistens da. Wenn die Wirkung dann stärker wird, fängt er an zu flackern. Wie ein Glitch taucht er dann immer wieder flackernd neben mir auf, bevor er sich wieder in Luft auflöst.
Irgendwann bleibt er dann verschwunden.
„Du und der Junge seid heute fast draufgegangen," meldet sich Pok jetzt wieder überraschend zu Wort und ich werde aus meinen Gedanken gerissen. „Du hast Tyke das Leben gerettet," bemerke ich jetzt mit leiser Stimme und lege eine besondere Betonung auf den Namen des Jungen. Als würde es Pok interessieren, wie mein zweiter imaginärer Freund heißt. „Unfreiwillig," wendet mein kleiner Freund jetzt patzig ein und hebt dabei warnend die Pfote. „Unfreiwillig," bestätige ich augenverdrehend seine Worte. Im selben Moment kann ich die verschwörerische Stimme meines Vaters hören. Er muss am Fuße der Treppe stehen. Dort wo das Schnurtelefon an der Wand hängt. Meine Mom war verliebt in solche alten Spielereien. Mein Vater war bereit ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Trotzdem war er es am Ende, der verlassen wurde.
Pok redet weiter. Jedoch wird seine Stimme schnell zu einem monotonen Hintergrundgeräusch. Ich lasse mich von meinem Bett rutschen und schleiche mit leisen Schritten in Richtung meiner Zimmertüre. Obwohl mein Vater mit gesenkter Stimme spricht, sind die Wände in unserem Haus so dünn, dass ich ihn hören kann. Er scheint zu telefonieren und sein kameradschaftlicher Unterton klingt nicht so, als würde er mit dem Sekretariat meiner Schule reden. Mal davon abgesehen, dass es weit nach Sonnenuntergang ist und zu dieser Zeit niemand in der Schule sein dürfte. Meine Hand legt sich vorsichtig auf die Türklinge und während Pok sich weiterhin ungestört darüber auslässt, dass Tyke's Rettung total unfreiwillig und unnötig war, sein Zaubertrick mit den Tattoos aber ziemlich überraschend, drücke ich meine Zimmertüre vorsichtig auf. Bei der Bewegung quietschen die Scharniere und mit verkrampfter Mimik erstarre ich. Ich lausche. Doch mein Vater spricht weiter, als hätte er mich nicht gehört. Meine Muskeln entspannen sich leicht und vorsichtig lehne ich mich zwischen Tür und Türrahmen in den Gang. Von hier aus kann ich zwar die obersten Treppenstufen sehen, jedoch nicht das untere Ende. Ich habe keinen Blick auf meinen Vater oder den Eingangsbereich. Er kann mich auch nicht sehen. Ich halte den Atem an und lausche seinen Worten.
„Sie ist heute viel zu spät zurückgekommen," seine Stimme klingt besorgt und ich weiß, dass er über mich redet. Nur mit wem er redet, bleibt mir fraglich. Für wenige Sekunden schweigt er, als würde er seinem Gegenüber zuhören. Dann leises Seufzen. „Vielleicht. Ich weiß es nicht. Sie meinte sie wäre überfallen wollen. Cindy, sie hat all' diese Verletzungen." Wieder Schweigen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mein Vater Freunde hat mit denen er über mich redet. Seine Stimme ist eine Mischung aus Sorge und Lockerheit. Ich habe das Gefühl, dass er die Frau, mit der spricht, kennt. Gut kennt. Dabei hat mein Vater keine Freunde. Ein Punkt, bei dem wir uns überraschend ähnlich sind.
„Nein, ich glaube es war einfach keine gute Idee deinen Freund dazu zu holen," mein Vater klingt so, wie er immer klingt, wenn er nicht weiterweiß. Er klingt müde und erschöpft. Ich kann hören wie er sich haltsuchend gegen die Wand lehnt. Wahrscheinlich hat er den Telefonhörer fest gegen sein Ohr gedrückt, während seine andere Hand über sein müdes Gesicht reibt. In meinem Kopf sieht er genauso erschöpft und fertig aus, wie an dem Tag, an dem meine Mutter spurlos verschwunden ist. Als sie uns ohne ein Wort verlassen hat und er plötzlich alleine die Verantwortung für mich und meinen imaginären Freund tragen musste. Er hat damals eine Stunde gebraucht, um mir zu erklären, dass Mom wohl nie wiederkommen wird. Dass es jetzt nur noch uns zwei gibt.
„Das klingt zwielichtig," tönt plötzlich Poks Stimme neben mir, doch dieses Mal lässt mich das schlagartige Auftauchen meines besten Freundes nicht zusammenzucken. Ich ignoriere sein Kommentar. Lehne mich stattdessen noch etwas weiter in den Gang, um die nächsten Worte meines Vaters zwischen denen von Pok nicht zu überhören. „Ich habe Angst um sie, Cindy. Es ist nur noch eine Frage der Zeit bis meine Frau den Angriff wagt!"
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