Kapitel 17: In einer anderen Welt

Erschöpft lässt sich Tyke neben mich sinken. Er fällt regelrecht auf den Waldboden und als ich ihm einen kurzen Seitenblick zuwerfe, kann ich ihm ansehen, wie kraftraubend der Kampf auch für ihn war. Dabei habe ich nicht gedacht, dass überhaupt irgendetwas die Energie des Jungens rauben kann. Er fährt sich mit einer Hand durch die verschwitzten Haare, die daraufhin wild nach oben stehen. Der Schweiß klebt wie ein dünner Vorhang auf seinem Gesicht und lässt seine Haut leicht glänzen. An seinem Hals kann ich dunkle Verfärbungen erkennen und die Ärmel an seinem Pullover sind stellenweise zerrissen. Dunkles Blut färbt den hellgrauen Stoff seiner Jeans langsam schwarz und nervös kaue ich auf meiner Unterlippe.

„Das hat Spaß gemacht," versucht der Junge einen Witz zu reisen und grinst mich leicht an. Doch selbst jetzt schafft er es nicht ganz seine Mundwinkel so unbeschwert hochzuziehen wie sonst. In meinem Körper pulsieren noch immer monotone Schmerzen und das aufrechte Sitzen lässt meine Schulterblätter unangenehm pulsieren. „Wir sind fast gestorben," meldet sich Pok zu Wort und lässt sich neben mir in das Laub plumpsen. „Es war echt knapp," stimme ich meinem kleinen imaginären Freund zu und fahre durch meine Haare. Sie sind zerzaust und immer wieder verheddern sich meine Finger in ihnen. Ich fische lose Blätter und Schmutz aus ihnen und atme tief durch. Innerhalb weniger Tage zweimal fast zu sterben ist eine Erfahrung, die ich eigentlich nie machen wollte.

„Ach was hat doch super geklappt," Tyke grinst und dieses Mal wirkt sein Lächeln ehrlicher, „Du hast das mit dem Dolch echt spitze gemacht." „Äh vergisst er da nicht etwas?" wendet Pok eingeschnappt ein und verschränkt die Arme vor der Brust. „Wie du ihn einfach nur mit deinen Gedanken bewegt hast," er klingt begeistert, „Das hätte selbst ich nicht besser hinbekommen!" Mir fällt auf, dass er mit seinen Dolchen gekämpft hat, nicht jedoch mit seiner Vorstellungskraft. Als er die Waffen verloren hat, schien er machtlos. Dabei hatte er noch wenige Minuten zuvor selbst behauptet, dass Fantasie alles ist, was man braucht um die Schattenkrieger zu besiegen. „Warum?" die Frage rutscht mir schneller über die Lippen, als ich darüber nachdenken kann. Tyke hebt überrascht den Kopf und Pok lehnt sich neben mir etwas weiter nachvorne, um den dunkelhaarigen Jungen sehen zu können. „Warum was?" An Tyke's Stimme höre ich, dass ihn meine Frage verwundert. Ich bemerke, dass ich die Schlussfolgerung nur in meinen Gedanken gezogen habe und die Frage in diesem Moment nur für mich Sinn ergibt. Auf der anderen Seite ist auch Tyke nur in meinem Kopf.

„Warum du mit Dolchen kämpfst."

Der schwarzhaarige Junge wirkt überrascht von der Frage. Er fährt sich durch die Haare und meidet für wenige Sekunden meinen Blick. Dabei bemerke ich, dass er die Dolche nicht länger bei sich trägt. Zumindest nicht in Sichtweite. „Es ist einfacher," Tyke zuckt mit den Schultern und mein Blick landet auf seinem Gesicht, „Und ich bin gut darin." Es ist nicht wirklich die Antwort auf die ich gewartet habe. Tyke jedoch zuckt erneut mit den Schultern und meidet meinen Blick, indem er seine Augen auf seine Hände richtet. Er reibt mit der einen Hand sanft über das Handgelenk der Anderen und mir fallen die roten Druckspuren auf, die der Griff des Schattenkriegers auf seiner Haut hinterlassen hat. „Frage genauer nach," fordert Pok neugierig und kann nicht ruhig neben mir sitzen bleiben. Er ist aufgeregt und seine Ohren wippen wild auf und ab. Ich werfe dem kleinen Monster einen kurzen Blick zu, bevor ich seiner Aufforderung nachkomme und Tyke eine weitere Frage stelle: „Warum kämpfst du nicht mit deiner Fantasie?"

Das Lächeln, dass sich daraufhin auf seinem Gesicht ausbreitet, zeigt mir, dass er stolz auf mich ist. Ich scheine anzufangen, die richtigen Fragen zu stellen. Er hebt den Blick und schaut mich an. „Ich habe einen anderen Bezug zur Fantasie als du," er krempelt langsam die Ärmel seines Pullovers hoch und entblößt damit seine volltätowierten Arme. Die Muster ziehen sich über seine Haut und neugierig verfolge ich mit meinen Augen die geschwungenen Linien. Die bunte Tinte - schwarz, rot, blau und gelb - beginnt an seinen Handgelenken und zieht sich bis zu seiner Ellenbogenbeuge, wo sie unter den Pulloverärmeln verschwinden. An seinem rechten Unterarm ist eine Sanduhr und eine blaue Rose abgebildet. Auf der Höhe des Ellenbogens schlängelt sich eine Schlange um ein graues, in sich verwobenes, Symbol. An seinem linken Unterarm pragt das Bild eines goldgelben Dolches, der die Blütenblätter einer roten Rose durchsticht. Hinter dem Dolch ist ein blaues Mosaikfenster abgebildet, um das sich gräuliche Muster ziehen, die mich an gebrochene Glasscherben erinnern. Pok drängt sich vor mich. Auch er möchte einen guten Blick auf die Tattoos erhaschen, doch ich schiebe ihn unsanft zur Seite.

Gemecker.
Ich ignoriere ihn.

„Siehst du die Tattoos?" Tykes Stimme reist mich aus meinem konzentrierten Betrachten und ich bemerke, wie er seine Augen von seinem Arm zu meinem Gesicht schweifen lässt. Obwohl es mir schwer fällt meinen Blick ebenfalls von den vielen Tattoos zu lösen, hebe ich den Kopf und nicke ihm kurz zu. Er sieht es als Zeichen zum Weitersprechen: „Sie sind meine Verbindung zur Realität." Demonstrativ fährt er mit der rechten Hand sanft über den linken Unterarm. Seine Finger streichen über das gestochene Dolchmotiv und ich frage mich, wie sich die Tinte wohl unter seinen Fingerspitzen anfühlen muss.

Ich beobachte den Jungen dabei, wie er seine gesamte Handfläche über die Tattoos legt und tief durchatmet. Seine Augen sind geschlossen und seine langen Wimpern liegen sanft auf seiner Haut. Ich kann Pok neben mir unruhig tänzeln hören. Er hat aufgehört sich über mein raues Zur-Seite-Schieben zu beschweren und hat seinen Blick genauso gespannt auf Tyke gerichtet, wie ich. Dieser löst in dieser Sekunde die Hand von seinem Arm und die Haut scheint dieser Bewegung auf magischer Weise zu folgen. Die Kanten des gestochenen Dolches zeichnen sich plötzlich deutlich auf seinem Arm ab und scheinen sich langsam von seiner Haut zu lösen. Verwundert blinzele ich. An der Stelle, wo gerade noch der Dolch auf seiner Haut gepragt hat, löst sich nun glänzendes Metall aus seinem inneren Unterarm und bevor ich mich versehe hält Tyke einen echten Dolch in seinen langen Fingern. Die scharfen Kanten glänzen gefährlich im Licht der Sonne. Der symmetrische Griff nimmt nach außen hin eine geschwungene Wendung und das Metall wirkt gelblich-golden. Ich schnappe nach Luft und starre abwechselnd den echten Dolch und das tätowierte Abbild auf seinem Arm an. Dieses pragt noch immer unverändert auf seiner Haut.

Ich verstehe die Welt nicht mehr. 

„Wie...," meine Frage ist nur ein fasziniertes Stottern und ich schaffe es nicht, meinen Blick von dem Dolch und dem identischen Tattoo zunehmen. „Er kann zaubern," ruft Pok aufgeregt und springt neben mir wild auf und ab. Obwohl er bei jedem Sprung unsanft gegen mich stößt, nehme ich das kleine Monster nur am Rande meiner Aufmerksamkeit wahr. Zu sehr hat mich der Anblick des Dolches im Griff. Die Stichwaffe, die Tyke in den Händen hält ist ein unheimlich genaues Abbild von dem Tattoo auf seiner Haut. Hätte ich nicht gerade beobachtet, wie sie aus der permanenten Körperbemalung entstanden ist, hätte ich darauf schwören können, dass der Tätowierer genau diesen Dolch als Vorlage für das eigentliche Tattoo genutzt hat. Meine Hand zuckt. Ich würde unglaublich gerne den Dolch in meinen Händen halten, einfach nur um zu überprüfen, ob er tatsächlich echt und nicht nur eine optische Täuschung ist. Genauso gerne würde ich über Tyke's Arme streichen. Mit meinen Fingern seine zahlreichen Tattoos nachfahren und fragen...

Sind die echt?"

Natürlich spricht Pok die Frage in meinem Kopf laut aus. Er ist aufgeregt und ich kann mich nicht erinnern das kleine Monster jemals so begeistert gesehen zu haben. Seine Ohren haben die wippende Bewegung seines Körpers angenommen und seine Augen glänzen vor ungläubiger Faszination. Ich hingegen zweifele an meiner Zurechnungsfähigkeit.

„Die Tattoos helfen mir beim Fokussieren," Tyke zuckt mit den Schultern und macht eine schnelle Handbewegung nach rechts. Der Dolch verschwindet einfach aus seiner Hand und zurück bleibt goldener Staub, der rieselnd auf seine Hose niederfällt. Dort bleibt er liegen und reflektiert funkelnd die hellen Sonnenstrahlen. „Wie...?" wiederhole ich erneut ungläubig meine zu vorige Frage und beobachte den Jungen fasziniert dabei, wie er den Staub mit einer lockeren Handbewegung von seiner Hose klopft. Ihm ist die Faszination nicht anzumerken. Er wirkt so, als wäre es dieser Zaubertrick das Normalste der Welt und jeder Mensch könnte nach Belieben seine Tattoos in die Realität holen. Pok hat aufgehört zu springen. Und zu reden. Er steht einfach nur neben mir und starrt verwundert an die Stelle, an der Tyke gerade noch den Dolch in den Fingern gehalten hat. 

„Da wo ich herkomme," der schwarzhaarige Junge zuckt leicht mit den Schultern und richtet seinen Blick auf mich. Ich kann endlich meine Augen von seiner leeren Hand lösen und seinen Blick aufmerksam erwidern. Ein gedankenverlorenes Glänzen hat sich über seine Pupillen gelegt und mit der Zunge leckt er sich langsam über die Unterlippe. „Da ist das mit der Fantasie irgendwie," er zögert kurz, als müsste er nach dem richtigen Wort suchen „leichter," erneutes Schulterzucken. Sein Blick verliert das abwesende Glänzen und blinzelnd richtet er seine Augen in die Ferne, „Dort hat jeder Fantasie. Jeder benutzt sie. In meiner Welt ist Fantasie wie Atmen." Für wenige Sekunden vergesse ich Pok neben mir. Ich bin gefangen von Tyke's Erklärung und klebe regelrecht an seinen Lippen. „Hier hingegen ist alles viel schwerer," er lächelt leicht, „Mit den Tattoos schaffe ich es, mir die Dinge besser vorzustellen." Ich ringe mich zu einem kurzen Nicken durch. Seine Wörter hängen in meinem Kopf nach und scheinen jeden möglichen Denkraum einzunehmen. Am liebsten würde ich genauer nachfragen, doch ich habe zu viele Gedanken, die sich in diesem Moment um meine Aufmerksamkeit streiten. Zu viele Fragen auf einmal tummeln sich in meinem Kopf und mir fällt es schwer, mich für eine zu entscheiden. Auch Pok ist überraschend wortkarg. Er scheint genauso sprachlos.

„Ich glaube wir sollten gehen," Tyke rappelt sich abrupt auf und klopft sich locker den Dreck von der Hose. Er krempelt die Ärmel seines Pullovers nach unten, sodass die bunte Tine unter dem Stoff verschwindet. Anschließend reicht er mir seine Hand. Ich starre sie an, bis Pok mir unsanft den Ellenbogen in die Rippen knallt. „Jetzt ergreife sie doch," raunt er mir augenverdrehend entgegen und ich spüre die Hitze in meinem Gesicht aufsteigen. Ich realisiere, dass ich Tyke sekundenlang schweigend angestarrt haben muss und ich kann nahezu sehen, wie das hitzige Gefühl der Peinlichkeit meine Wangen rot färbt. Mit einem nervösen Lächeln ergreife ich Tyke's Hand und lasse mich von ihm auf die Beine ziehe. Erst als ich stehe, bemerke ich das leichte Kribbeln in meinem Po und das unangenehme Brennen in meinen Knien.

„Und jetzt?" frage ich ratlos und streiche mir nervös die Haare aus dem Gesicht. Bei der Bewegung breiten sich pulsierende Schmerzen von meinem Ellenbogen über meinen Arm bis hin zu meinem Nacken aus. Ich erinnere mich an meinen Sturz. „Schließe die Augen," fordert mich Tyke auf und gehorsam folge ich seinem Befehl. Ich schließe die Augen und atme tief durch. Die Luft scheint kühler zu werden und der frische Geruch des Waldes scheint zu schwinden. Als ich Tyke's flüchtige Berührung an meinem Oberarm spüre, öffne ich blinzelnd meine Augen. Der Wald, in dem wir gerade noch gestanden haben, ist verschwunden. Mit ihm die strahlende Sonne. Stattdessen ziehen nun dicke Regenwolken über den dunklen Himmel. Ich ziehe verwundert die Augenbrauen zusammen und drehe mich um mich selbst. Auch in meinem Rücken sind die hohen Bäume, der weiche Waldboden und die wärmenden Sonnenstrahlen verschwunden. Stattdessen stehen wir wieder auf der großen Wiese und in nicht allzu weiter Ferne kann ich die Häuser der Nachbarschaft erkennen.

„Ich würde sagen, wir bringen dich Nachhause," Tyke grinst mich leicht amüsiert an. Mein überraschter Blick scheint ihm zu gefallen. Er reicht mir seine Hand und dieses Mal zögere ich nicht, bevor ich sie ergreife. Zusammen setzen wir uns in Bewegung und erst als wir bereits einige Schritte gelaufen sind, fällt mir auf, dass sich nicht nur der Wald in Luft aufgelöst hat, sondern auch Pok.

Er ist genauso spurlos und lautlos verschwunden wie der ausgedachte Wald.

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