Kapitel 15: Durch Gedanken und Glauben
„Schließe die Augen. Atme tief durch und visualisiere den Schmetterling vor deinem inneren Auge. Sehe Details – umso genauer das Bild in deinem Kopf, umso einfacher wird es, ihn in die Realität zu holen," fordert Tyke mich auf und augenverdrehend folge ich seiner Anweisung. Seit gefühlten Stunden versucht er mir nun schon beizubringen, meine Fantasie zu kontrollieren. Was ich bisher gelernt habe? Ich habe kein Talent dafür, meine Einbildungen zu kontrollieren. Pok ist das beste Beispiel dafür. Er ist noch immer da. Dabei wäre ich zum ersten Mal in meinem Leben froh, das kleine Monster nicht an meiner Seite zu haben. Denn er hat sich auf einem flachen Stein niedergelassen und beobachtet mich und jeden meiner erbärmlichen Versuche aufmerksam. Jedes Mal wenn ich an einer Aufgabe von Tyke scheitere, kann ich das kleine Monster jammern hören. Er nörgelt oder verdreht die Augen. Obwohl er nur in meinem Kopf existiert und meine Frustration wahrscheinlich der Grund für sein genervtes Verhalten ist, macht er mich nervös. Ich glaube er hält das alles für einen dummen Spaß und wenn ich daran denke, dass Tyke nur in meinem Kopf existiert und ich alleine auf einem Feld stehe und Selbstgespräche führe, ist es das vielleicht auch.
Vielleicht war der Besuch bei Dr. Mykon doch angebracht. Oder hat er alles vielleicht nur noch viel Schlimmer gemacht?
„Du musst dich konzentrieren, Erin," ich kann buchstäblich hören wie Tyke langsam die Geduld verliert. Eine neue Eigenschaft, die ich ihm zuschreiben kann: Ungeduldig. Dabei hatte er zuvor mehrmals bewiesen, dass er seine Nerven gut zusammenhalten kann. Vielleicht liegt es an mir. Ich bin nicht die beste Schülerin. Seufzend öffne ich die Augen und schaue meinen imaginären Freund aufmerksam an. Er steht vor mir und fährt sich unruhig durch die dunklen Haare. Diese stehen ihm bereits wild vom Kopf und ich kann den glänzenden Schimmer in seinen Augen sehen. Komischerweise wirken sie in der tiefstehenden Sonne ockerfarben und langsam bekomme ich das Gefühl, dass sich seine Augenfarbe nach Belieben ändert. Vielleicht ist sie von meiner Stimmung abhängig. Mein Blick landet auf Pok. Er verändert sich nie.
„Ich glaube, dass macht alles kein Sinn," wende ich jetzt seufzend ein und zucke mit den Schultern. Ich habe keine Lust mich länger vor Tyke und Pok zu blamieren. „Natürlich macht es Sinn," Tyke wirkt, als würde er meinen Einwand nicht verstehen können. Er fuchtelt mit den Händen vor meinem Gesicht herum und spricht motiviert weiter: „Du musst lernen deine Fantasie zu kontrollieren!" „Warum?" Langsam übernehme ich Tykes Ungeduld. Sie verwandelt sich ziemlich schnell in Gereiztheit und ich weiß nicht, ob sich meine Gefühle auf den Jugendlichen auswirken, oder ob ich mich von seiner Unruhe anstecken lassen. Alles was ich in diesem Moment weiß, ist das mich seine ewigen Forderungen nerven und meine Erfolglosigkeit bei seinen Aufgaben frustriert. Das Pok die Klappe nicht halten kann, ist auch nicht gerade hilfreich.
„Die Schattenkrieger werden zurückkommen," er klingt aufgebracht und fährt sich schwungvoll durch die Haare. Er dreht sich von mir weg und scheint seine aufbrausenden Emotionen durch ein unruhiges Herumlaufen unter Kontrolle bringen zu wollen. Ich bin überrascht ihn so zu sehen. Bisher hat er sich nicht wirklich durch irgendetwas aus der Ruhe bringen lassen. Selbst als die Schattenkrieger vor uns standen, hat er gegrinst und sich selbstbewusst in den Kampf gestürzt. Jetzt jedoch scheint er am Ende seiner Geduld angekommen zu sein und ich frage mich erneut, ob er eine Spiegelung meiner Gefühle oder ich eine von seinen bin. Ich sollte Dr. Mykon das nächste Mal am besten Fragen, wie dieses ganze imaginäre Freund Ding funktioniert. „Sie werden wieder versuchen dich umzubringen oder dich zu entführen. Wenn du es nicht schaffst deine Realität zu kontrollieren, werden sie Erfolg haben." „Warum...warum sollten sie gerade," ich kann nicht verhindern fassungslos zu klingen, „mich töten wollen?" Darüber zu reden macht nicht wirklich Sinn. Tyke ist nur in meinem Kopf. Die Schattenkrieger sind nur in meinem Kopf. Dr. Mykon würde mir jetzt einreden, dass von ihnen keine ernsthafte Gefahr ausgeht. Sie würde sagen, dass ich Tyke nicht zuhören muss und dieses Training tatsächlich – wortwörtlich - sinnlos ist. Trotzdem stelle ich Tyke die Frage. Es fühlt sich alles einfach so verdammt real an.
Er fühlt sich einfach so verdammt real an.
„Sie sind gefährlich," ich werde durch Tyke's wage Antwort aus meinen Gedanken gerissen. Mein Blick landet auf ihm und ich kann sehen, wie er meinen Blick bewusst meidet. Das tut er normalerweise nie. Doch in dieser Sekunde kaut er mit einem sichtbaren Unwohlsein auf seiner Unterlippe, und schaut überall hin, nur nicht in meine Richtung. „Was verschweigst du mir?" frage ich und spüre, wie sich ein unwohles Kribbeln durch meinen Magen zieht. „Er lüüüüüügt," spricht Pok in einem zufriedenen Singsang vor sich hin und überrascht richte ich meinen Blick auf das kleine Monster. Obwohl er schon die ganze Zeit da ist, hatte ich ihn in den letzten Sekunden vergessen. Jetzt jedoch steht er neben mir und hüpft ausgelassen von einem Bein auf das Andere. Im Gegensatz zu mir scheint es ihm zu gefallen, dass ich Tyke hinterfrage. Doch kann man seinem eigenen Unterbewusstsein überhaut misstrauen?
Der Blick des Jungens richtet sich langsam auf mich. Ich schaue ihn auffordernd an. Verschränke sogar die Arme vor der Brust, in der Hoffnung dadurch selbstbewusster auszusehen. Sekundenlang starren wir uns gegenseitig in die Augen und ich kann sehen, wie seine Mundwinkel zucken. Ich kann Pok neben mir noch immer singend über Tyke herziehen hören. Jedoch versuche ich seine Stimme auszublenden und mich stattdessen ausschließlich auf Tyke zu konzentrieren. Er wippt unruhig mit den Füßen auf und ab. Seine Augen bleiben auf mir hängen und ich kann nahezu sehen, wie er überlegt. Dann räuspert er sich und wendet den Blick ab. Die Anspannung fällt von seinen Schultern und ich kann sehen, wie sich seine Muskeln entspannen. Er scheint den Kampf gegen seine Gedanken geführt und entschieden zu haben, mir gegenüber ehrlich zu sein.
„Sie haben es schon länger auf dich abgesehen."
Seine Worte klingen ehrlich. Nicht wie eine Ausrede. Auf der anderen Seite ist er in meinem Kopf. Schwer vorzustellen, dass er mich belügen könnte, wenn ich nach der Wahrheit suche. Meine Augen schweifen zu Pok, der bei Tykes Geständnis plötzlich verdächtig still ist. Er sieht genauso verwundert aus wie ich. Wenigstens scheint es ihm die Sprache verschlagen zu haben und das kleine Monster ist endlich mal leise. Das gibt mir einen kurzen Moment der Stille, indem ich mir eine passende Erwiderung überlegen kann. „Länger? Ich habe sie gestern das erste Mal gesehen!" stelle ich jetzt fassungslos fest und starre den Teenager verwundert an. Wenn ich so darüber nachdenke, habe ich die Schattenkrieger bisher auch nur in seiner Anwesenheit gesehen und generell existieren sie erst, seit dem auch Tyke auf mich gestoßen ist. Vielleicht sind sie ein Package Deal. Einen imaginären Freund zum Preis von einer, dich tötenden Armee von widerlichen Schattengestalten.
„Ich habe dir doch gesagt du sollst ihm nicht vertrauen," kann ich Poks besserwisserische Stimme neben mir vernehmen. Sein rechthaberischer Singsang zwingt mich dazu, meine Augen wieder auf ihn zu richten. Genervt visiere ich das kleine Monster an, dass sich von meinem Blick jedoch nicht verunsichern lässt. Stattdessen grinst es selbstbewusst vor sich hin und hopst freudig von einem Bein auf das Andere. Der Moment der Sprachlosigkeit hat ja lange gehalten. Ich frage mich, wann genau er mir zu Misstrauen geraten hat und was genau sein Einwand mit Tykes Warnung zu tun hat. „Komm' schon denk' nach Erin," fordert mich Tyke jetzt auf, als hätte er Poks Einwand nicht gehört. Ich glaube, die Beiden ignorieren sich einfach gegenseitig. Ich glaube, dass sie wie zwei Gegenpole sind. Pok ist das, was ich kenne. Er sagt die Wahrheit und macht mich mehr oder weniger freundlich auf meine Fehler aufmerksam. In schwierigen – meist sozialen - Situationen ist er für mich da und hilft mir so gut es geht aus Problemen zu entkommen. Er ist mein Freund und immer dann für mich da, wenn ich mich einsam fühle. Tyke hingegen ist laut und präsent. Er lässt sich nicht verunsichern, widerspricht mir nur allzu gerne und führt mich nebenbei in ausgedachte Fantasiewelten ein. Er bringt mich in Schwierigkeiten und scheint der Teufel in der Beziehung zu sein. Eigentlich sollte ich daher lieber auf Pok hören. Vor allem da dieser, in diesem Moment den Nachhauseweg vorschlägt. Doch irgendetwas an Tykes Unterton lässt mich zögern.
„Raschelnde Hecken, flackernde Schatten, das Feuer in der Schule...," Tykes Stimme bricht so schlagartig ab, wie sich meine Augen weiten. „Das Feuer in der Schule?" frage ich mit leiser Stimme nach und starre den Teenager verwundert an. Was weiß Tyke über den Brand? Ich richte meine Augen auf den Jungen, der mein verwundertes Nachfragen jedoch scheinbar überhört hat. Er hat seinen Kopf von mir abgewendet und lässt seine Augen unruhig durch den Wald schweifen. Mein Blick fährt über seinen Körper. Ich sehe das Zusammenspiel seiner angespannten Muskeln. Ich kann sehen wie er die Augenbrauen leicht zusammengezogen und den Kopf leicht schräg gelegt hat. In dieser Sekunde erinnert er mich an ein aufgeschrecktes Reh.
„Tyke? Was weißt du über das Feuer?" frage ich mit zitternder Stimme nach und lasse meine Augen auf dem Jungen hängen. Er reagiert wieder nicht und langsam legt sich ein beengender Druck auf meine Brust. Ich balle meine Hände zu Fäusten und spüre wie sich meine Fingernägel ins Fleisch drücken. „Sie sind hier," murmelt Tyke in diesem Moment und dreht sich zu mir. Seine Augen huschen von links nach rechts, während er sich mit seinem Körper in meine Richtung bewegt. „Wer ist hier?" frage ich mit erstickter Stimme nach. Mein Blick folgt seinem, jedoch kann ich zwischen den Bäumen keine Gefahr erkennen. Mein Puls rast. Mein Herz klopft beängstigend schnell gegen meine Brust und schon jetzt glaube ich Tykes Antwort zu kennen.
„Schattenkrieger."
Ich atme zitternd aus und schlucke schwer. Angst macht sich in mir breit und kurz schaue ich mich um. Pok ist verschwunden. Natürlich. Ich hebe den Blick und schaue zu Tyke. Er ist noch näher zu mir getreten und ich kann seine Körperwärme spüren. Er hat mir den Rücken zugewandt und die Arme leicht ausgestreckt, als würde er mich damit beschützen wollen. In seiner Nähe fühle ich mich etwas sicherer. Dieses Mal muss ich mir den Gedanken ausreden, dass er nur in meinem Kopf ist. Er kann mich beschützen. Auch hier, in der echten Welt. „Es sind viele, Erin," obwohl ich die Gefahr noch immer nicht sehen kann, fange ich an sie zu spüren. Ein kalter Wind ist aufgekommen. Die Sonne ist hinter dicken Wolken verschwunden und mit ihr die angenehme Wärme. Gefärbtes Laub wird uns um die Füße geweht und die Baumkronen wiegen sich raschelnd hin und her. Ich versuche tief durchzuatmen, doch die Angst hat sich wie eine eiserne Kette um meinen Brustkorb gelegt. Meine Finger krallen sich noch fester zusammen und meine Nägel schneiden tiefer in meine Handflächen.
„Erinnerst du dich noch an meine Tipps von vorher?"
Ich brauche wenige Sekunden, bevor ich kapiere, welche Tipps er meint. „Augen schließen, durchatmen und fantasieren?" frage ich verständnislos nach und lasse zu, dass der Teenager noch näher zu mir tritt. Sein Pullover streift meinen und ich muss dem Drang wiederstehen, hilfesuchend seine Hüfte zu umfassen. „Ja," für wenige Sekunden dreht er sich zu mir um. Seine Augen treffen meine und im aufkommenden Unwetter wirken sie nahezu schwarz, „Jetzt wäre ein guter Moment um zu zeigen, dass du was gelernt hast."
Ich möchte einwenden, dass ich nichts gelernt habe. Das ich nie etwas lerne. Doch im selben Moment dreht sich Tyke bereits wieder nach vorne und aus dem Schatten des Waldes lösen sich fünf dunkle Gestalten. Der Junge setzt sich in Bewegung und bevor ich mich versehe, befinde ich mich erneut in einer lebensbedrohlichen Lage.
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