Kapitel 14: Zwischen Fantasie und Realität
„Wie kann ich dasselbe sehen wie du?"
Ich bin fasziniert. Langsam drehe ich mich um mich selbst und lasse meinen Blick staunend durch den Wald schweifen, in dem wir uns befinden. Dieses Mal mussten wir nicht erst durch eine Gartenhecke klettern. Stattdessen hat mich Tyke auf eine große Wiese, nur wenige Kilometer von meinem Zuhause, geführt. Dann sollte ich die Augen schießen und er hat sich in der Zwischenzeit einen Wald ausgedacht. Er ist wunderschön. Die Bäume ragen weit in den blauen Himmel und bilden über uns ein grünes Blätterdach. Die Regenwolken sind verschwunden, stattdessen scheint die Sonne durch die Baumkronen auf uns herab. Dichtes Gestrüpp ragt aus dem weichen Waldboden und wird innerhalb weniger Meter so dicht, dass ich keinen Blick mehr auf die Stadt habe, die hinter dem Wald verborgen liegen muss. Das fröhliche Zwitschern von Vögeln dringt an mein Ohr und jedes Mal wenn ich tief einatme, steigt mir der beruhigende Geruch nach Tannen und Holz in die Nase. Ein warmer Wind hat die Luft erfasst und zwei schneeweiße Schmetterlinge tanzen gemeinsam durch den Wald. Alles fühlt sich so echt an. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass das alles nur in meinem Kopf ist.
„Eigentlich ist es ganz einfach," gibt mein imaginärer Freund schulterzuckend zu und mein Blick landet automatisch auf ihm. Er steht neben mir und lächelt leicht. Pok ist auch hier und scheinbar kann auch er Tykes ausgedachten Wald sehen. Er hüpft über den weichen Waldboden, sodass seine Ohren lustig auf und ab wippen. Er hat die eine Hand leicht nach oben gestreckt und versucht nun einen Schmetterling zu erwischen. Ich habe das kleine Monster noch nie so ausgelassen erlebt.
„Wir beide teilen uns diese Illusion, weil wir einander vertrauen." Tykes Erklärung lässt meine Aufmerksamkeit von Pok zu ihm schweifen. Er hat sich mir zugewandt und lächelt leicht. Ich dagegen ziehe kritisch die Augenbrauen zusammen. „Ich vertraue dir nicht," werfe ich protestierend ein und verschränke die Arme vor der Brust. Ich vertraue niemanden außer mir selbst und Pok. Pok ist in meinem Kopf, also vertraue ich wohl einzig und alleine mir selbst. „Du musst dir das so vorstellen," Tyke ist vor mich getreten und wedelt mit den Händen wild in der Luft herum. Er scheint meine widersprechenden Worte nicht persönlich zu nehmen. Entweder glaubt er, dass ich lüge oder er ist davon überzeugt, dass seine folgende Erklärung etwas an meiner Aussage ändern wird. Immerhin ist ja auch er nur Teil meiner eigenen Fantasie. Vertraue ich Tyke unterbewusst vielleicht doch? Ich werfe Pok einen kurzen Blick zu, in der Hoffnung von ihm eine Antwort zu bekommen. Jedoch ist mein kleiner Freund noch immer so von den Schmetterlingen in der Luft fasziniert, dass er mich vollständig ignoriert. Mein Blick fällt wieder auf Tyke, der bereits weiterspricht: „Jeder Mensch hat Fantasie. Das ist einfach so," kurzes Schulterzucken, „Wir sind Wesen, die ständig in Möglichkeitsräumen unterwegs sind. Wir phantasieren über die Zukunft, hängen der Vergangenheit nach, denken über unser Verhalten oder unseren ersten Eindruck nach. Wir leben buchstäblich in unseren Träumereien. Dass, was wir Realität nennen ist im Prinzip nur eine Ansammlung an Knotenpunkte, die die verschiedenen Illusionen jedes Einzelnen miteinander verbinden."
„Knotenpunkte?"
Tyke nickt und tritt unruhig von einem Fuß auf den Anderen. Ich kann die Spannung seiner Muskeln unter dem Stoff seines dunklen Oberteils sehen und bemerke, wie seine Mundwinkel vor Aufregung zucken. Er hat meine verwunderte Frage gehört, scheint sie jedoch nicht ausführlicher beantworten zu wollen. Stattdessen leckt er sich über die Lippen, bevor er eifrig weiterspricht: „Fantasie spielt bei jedem Menschen eine große Rolle. Sie entscheidet wer du bist und sobald man Zugriff auf die Gedanken eines anderen hat, hat man gleichzeitig auch die Macht um seine ganze Realität zu verändern." „Die Realität verändern?" frage ich ungläubig nach und ziehe meine Augenbrauen kritisch zusammen. Tyke's Worte machen nicht wirklich Sinn und hilfesuchend schweift mein Blick zu Pok. Ich möchte, dass er endlich zuhört und sich nützlich macht. Mein Unterbewusstsein soll mir sagen, wie ich auf Tyke's Fantasiegeschichte reagieren soll. Doch noch immer tanzt Pok ausgelassen durch den Wald und versucht die Schmetterlinge zu berühren. Ich verdrehe die Augen. Wie immer ist er in den wichtigen Momenten nicht zu gebrauchen.
„Ja es funktioniert wie mit einem...," Tyke fuchtelt mit den Händen wild vor meinem Gesicht herum. Sein Kopf arbeitet auf Hochtouren. Er lässt seine Augen wild von links nach rechts schweifen, während er unruhig von einem Fuß auf den Anderen tänzelt. Er scheint nach einem passenden Wort zu suchen, jedoch keins zu finden. Ich bin kurz davor ihm ins Wort zu fallen. Oder direkt zu verschwinden. Wenn ich schnell genug laufe, würde sich der Wald hoffentlich in Luft auflösen und ich könnte denselben Weg zurücklaufen, den wir auch gekommen sind. Aber ich muss mich selbst dran erinnern, dass Tyke ja auch nur ein Teil meiner Persönlichkeit ist. Demnach würde er mir wohl überall hin folgen.
„...Passwort!" Tyke's Stimme ist plötzlich so laut, dass ich erschrocken zusammenzucke. Er hat die Augen weit aufgerissen und seine Lippen leicht geöffnet. Seine Hände tanzen noch immer in der Luft und sein ganzer Körper spiegelt die Unruhe in seinem Inneren wieder. Die Kapuze auf seinem Kopf ist bereits verrutscht und seine schwarzen Haare fallen ihm ungemacht in die Stirn. „Wie ein Passwort. Ein Passwort...genau," redet sich Tyke selbst zu, bevor sich seine Augen schlagartig auf mich richten und ich leicht zusammenzucke. „Es ist als hätte jeder Mensch ein Passwort." „Ein Passwort für was?" Pok ist noch immer mit den Schmetterlingen beschäftigt und ich entscheide mich dazu, Tyke's Gedankenexperiment noch etwas weiter mitzuspielen. „Na für deine Fantasie. Das Passwort beschützt dich davor, dass andere deine Realität verändern können." Ich nicke leicht und verfalle in Gedanken. Mein Blick schweift durch den Wald. Durch den wunderschönen, imaginären Wald, der eigentlich gar nicht existieren dürfte.
„Du veränderst meine Realität," murmele ich leise vor mich hin. Ich starre an Tyke vorbei, bevor sich meine Augen auf ihn richten. Er ist erstarrt. Meine Bemerkung hat ihm scheinbar seinen ganzen Enthusiasmus geraubt und ich kann sehen, wie die Röte der Aufregung langsam aus seinen Wangen verschwindet. „Äh...," er verfällt in ein peinliches Stottern, „Äh ja...da hast du Recht." „Wie...ich meine...warum," ich versuche eine klare zu Frage zu formulieren, scheitere jedoch an den sich überschlagenden Gedanken in meinem Kopf. „Er muss dein Passwort kennen," ich bin froh Pok's Stimme direkt neben mir zu hören. Er hat aufgehört über den Waldboden zu hüpfen und ist stattdessen neben mir aufgetaucht. Nun hat er den Blick auf Tyke gerichtet und mustert ihn mit schräggelegtem Kopf. Ich bin erleichtert, dass mein kleiner grauer Freund neben mir aufgetaucht ist. Sein Einwand klart für wenige Sekunden die Gedankenlawine in meinem Kopf und mit zusammengezogenen Augenbrauen frage ich Tyke: „Du kennst mein Passwort." „Naja nicht direkt," Tyke verfällt erneut in eine Erklärungsnot. Er fährt sich durch die Haare und streift dabei die Kapuze vom Kopf. Er tritt nervös von einem Bein auf das Andere und stottert ein paar sinnlose Wörter zusammen. „Dein Passwort. Naja du hast mir einen Teil davon gegeben. Also ich kann nicht alles sehen was du siehst. Und ich kann auch nicht alles verändern. Aber ja, einen Teil von deiner Realität kann ich beeinflussen."
„Wie?"
„Es hängt alles von Vertrauen und Wissen ab," wo der Teenager gerade noch hilflos gestottert und nach den richtigen Worten gesucht hat, hat er nun sein Selbstvertrauen wiedergefunden. Als er weiterspricht, scheint er genau in seinem Element: „Umso mehr du Menschen vertraust, umso mehr Einblick gewährst du ihnen in dein Leben, in deine Realität und somit auch in deine Fantasie." Ich nicke verstehend. Zwar schwirren die Wörter noch immer in meinem Kopf herum und mir fällt es schwer Tyke's Erklärung vollständig nachzuvollziehen, doch fürs Erste bin ich überfordert genug, um nicht weiter zu fragen. „Du kannst dich und deine Fantasie jedoch schützen, indem du weißt, dass es sie gibt. Und dass du sie kontrollieren und unterdrücken kannst. Umso besser du deine eigenen Gedanken kennst, umso besser kannst du sie kontrollieren und vor anderen verbergen." „Deshalb will er es dir beibringen," meldet sich nun wieder Pok zu Wort und aus Gewohnheit, wiederhole ich seine Worte, als wäre es meine eigene Feststellung: „Deshalb sind wir hier." Tyke nickt zustimmend. „Ich möchte dir zeigen, wie du sowas," er zeigt um sich und kurzzeitig schweift mein Blick durch den wunderschönen Wald, „erschaffen und kontrollieren kannst." „Und die Schattenkrieger?" frage ich kritisch nach und habe die Augenbrauen nachdenklich zusammengezogen. „Du wirst alle Macht über sie haben, sobald du deine Fantasie kontrollieren kannst."
Ich schaue den Jungen an. Seine schwarzen Haare hängen ihm wild ins Gesicht. Seine Augen scheinen im hellen Licht der Sonne blau und wieder einmal fällt mir die kleine Narbe an seinem Augenwinkel auf. Seine schmalen Lippen sind zu einem unsicheren Lächeln verzogen und ich kann die Unruhe in seinem Körper spüren. Sein Blick hängt auf mir und mir wird klar, dass er auf eine Entscheidung wartet.
Ich atme tief durch und lasse meine Augen noch einmal durch den Wald schweifen. Er fühlt sich so echt an. Pok steht neben mir. Ihn habe ich bereits erschaffen. Was ich wohl sonst noch alles nur mit Hilfe meiner Fantasie erschaffen kann? Plötzlich sind alle Zweifel vergessen. Ich rede mir ein, das Tyke nur in meinem Kopf ist und dass seine Worte sowieso nur meinen Gedanken entspringen. Ich weiß nicht, ob die Schattenkrieger real sind. Ich weiß nicht, ob der Wald oder Tykes Erklärungen real sind. Doch Kontrolle zu haben, klingt gut. Vielleicht schafft mein Unterbewusstsein gerade das, was Dr. Mykon seit Jahren versucht: Kontrolle.
„Okay," ich nicke zustimmend, „dann zeige mir wie."
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