Kapitel 12: Mit Lügen und Schweigen

„Guten Tag Erin."
Ich nuschele eine halbherzige Begrüßung und lasse mich auf den Stuhl vor dem breiten Eichentisch fallen. Mein Schulrucksack landet daneben auf dem Boden. Dr. Mykon sitzt hinter dem Schreibtisch und lächelt mich freundlich an. Sie hat sich bereit daran gewöhnt, dass ich wortkarg bin und nur das Nötigste mit ihr rede. Ich besuche sie schon seit fünf Jahren. Die Hälfte der Zeit hatte sie nur damit verbracht, herauszufinden, wie Pok überhaupt aussieht.

„Wie geht es dir heute?"
Ich zucke mit den Schultern und vermeide Blickkontakt. Ich starre auf meine Hände, die ich in meinem Schoß abgelegt habe. Pok steht neben mir. Er versucht auf den Stuhl neben mir zu klettern, doch mit seinen Pfoten findet er kaum Halt auf dem glatten Holz und nachdem er zweimal ausgerutscht und mit dem Po auf dem Boden gelandet ist, gibt er es auf. Seufzend bleibt er neben mir auf dem Parkett sitzen und schweigt. „Wie war dein Tag?" Dr. Mykon versucht ihr Bestes um eine Antwort aus mir herauszubekommen. Doch auch jetzt zucke ich nur mit den Schultern und schweige. Meine Augen richten sich aus dem Fenster. Von hier aus habe ich Aussicht auf andere Hochhäuser, sowie auf den bewölkten Himmel. Nichts Spannendes. Doch besser als Dr. Mykon ins Gesicht schauen oder den Blick über ihre vielen Diplome und Auszeichnungen schweifen zu lassen zu müssen.

„Und wie geht es Pok?"
Ich kann ihren auffordernden Blick auf mir hängen spüren. Er liegt schwer auf meinem Gewissen und tief atme ich durch. Ich kann hören wie sie sich im Stuhl bewegt. Im Augenwinkel sehe ich, dass sie nach ihrem kleinen Notizbuch greift und nach ihrem schwarzen Kugelschreiber. „Mir geht es gut," Pok's Stimme ertönt neben mir, „Nicht, dass es sie etwas angehen würde." Ich lasse meine Augen zu dem grauen Monster schweifen, dass die Arme notdürftig vor der Brust verschränkt hält. Er hat seinen Mund verzogen, sodass sein sonst natürliches Lächeln, wie eine verzogene Fratze aussieht.

„Erin?"
Erneut vermeide ich den Blick in die Richtung von Dr. Mykon und starre stattdessen wieder auf meine Finger. In den letzten Wochen sind meine Fingernägel länger geworden und ich stelle fest, dass sich in der Zwischenzeit unter ihnen Dreck abgesetzt hat. „Ich habe ihn seit unserer letzten Sitzung nicht mehr gesehen," meine Antwort ist natürlich eine dreiste Lüge. Seit unserem letzten Gespräch habe ich Pok sogar noch öfter gesehen. Geschweige denn von Tyke, der auch noch aufgetaucht ist. Aber das würde ich Doktor Mykon natürlich niemals erzählen. Denn dann würde sie mir wieder diese Tabletten verschreiben, die mich müde machen und tatsächlich dafür sorgen, dass Pok verschwindet. Dabei habe ich ihn eigentlich ganz gerne um mich. Bei Tyke hingegen, bin ich mir noch nicht ganz sicher. Ich bezweifele jedoch, dass die Einnahme meiner Medikamente mich entscheiden lässt, welcher meiner imaginären Freunde bleiben darf.

„Bist du dir sicher?" Meine Ärztin klingt nicht wirklich überzeugt von meiner Lüge. Doch ich schweige. Wie immer. Sie seufzt leise auf. Früher hätte sie an dieser Stelle eingewendet, dass wir zusammenarbeiten müssen und sie mir nur dann helfen kann, wenn ich ihr helfe. In der Zwischenzeit weiß sie jedoch, dass sie mit dieser Bemerkung nichts erreicht außer weiteres Schweigen. „Das ist wunderbar," wendet sie jetzt stattdessen ein und macht sich eine kurze Notiz in ihrem Block. Entweder scheint sie mir die Lüge tatsächlich zu glauben oder sie entscheidet sich lediglich dazu, in diesem Moment mitzuspielen. Mir ist es egal. Deshalb schweige ich und beiße mir nervös auf die Unterlippe. Währenddessen kann ich Pok neben mir leise Murmeln hören. Wahrscheinlich verflucht er mich, dass ich seine Anwesenheit verschweige. Dabei weiß er inzwischen, was die Konsequenzen meiner Ehrlichkeit wären. Deshalb ignoriere ich auch ihn und richte meinen Blick stattdessen wieder ausweichend aus dem Fenster. Im Gebäudekomplex gegenüber werden gerade Fenster geputzt und noch nie waren dreckige Glasscheiben so interessant für mich.

„Dein Vater hat mir von dem Brand in deiner Schule erzählt," ich ahne bereits, worauf die junge Frau raus möchte, lasse meinen Blick jedoch schweigend auf dem Fenster liegen. Dr. Mykon möchte mir mit ihrer kurzen Sprechpause die Chance geben, selbst die Initiative zu ergreifen und von dem Feuer zu erzählen. Doch ich schweige und ich kann Pok neben mir gelangweilt gähnen hören. „Er hat mir erzählt, du warst alleine in einem Klassenzimmer eingesperrt." Eingesperrt ist wohl das falsche Wort dafür, wenn man freiwillig sitzen bleibt. „Die Feuerwehr musste dich retten." „Danke für die Erinnerung wir waren dabei," wendet Pok jetzt sarkastisch ein und bei seinem bissigen Kommentar bildet sich ein winziges Lächeln auf meinen Lippen. Mein Blick fällt zu ihm und im selben Moment bemerke ich meinen Fehler.

„Pok ist auch hier oder?"
Scheiße.
Ich schüttele ertappt mit dem Kopf und murmele ein abweisendes „Nein" vor mich hin. Ich atme tief durch und lasse meinen Blick auf meinen Finger ruhen. Diese haben ein nervöses Zittern übernommen und schnell grabe ich sie in den Stoff meiner Hose. Das Blut rauscht durch meine Ohren und ich spüre wie mir die Hitze zu Kopf steigt und langsam meine Wangen rot färbt. Ich kann hören wie sich Dr. Mykon räuspert. Sie kennt mich inzwischen gut genug, um meine Lüge zu durchschauen. „War Pok bei dem Feuer bei dir?" fragt sie nun mit einer ruhigen Stimme nach und ich spüre den schnellen Schlag meines Herzens. „Nein," ich schüttele vielleicht etwas zu heftig mit dem Kopf, „Er war nirgends zu sehen." „Ungewöhnlich." Ich sehe wie sich die junge Frau eine kurze Notiz auf ihrem Block macht, bevor sie ihren Blick zurück auf mich richtet und kurz schweigt. Ich hoffe, sie lässt das Thema 'Pok' ohne weiteres Nachfragen fallen.

„Und hast du diese Woche neue Freunde kennengelernt?" Mein Blick landet schlagartig auf ihr und meine weit aufgerissenen Augen, verraten meine Überraschung. Im ersten Moment glaube ich, dass sie auf Tyke anspielen möchte. Doch sie kann nichts von ihm wissen. Niemand außer mir kann das. „Ne...nein," bringe ich stotternd hervor und versuche meine überraschte Reaktion mit einem flüchtigen Lächeln zu überspielen. Sie kann einfach nicht wissen, dass ich einen weiteren imaginären Freund erschaffen habe. Dass er zudem in Form eines Menschen auftaucht, wird ihr ganz neue Interpretationsmöglichkeiten geben. „Niemanden? Auch nicht in der neuen Schule?" Mein Mund öffnet sich. „Oh," ich brauche wenige Sekunden um meine Gedanken zu ordnen, „Äh...nein. Ich hatte noch nicht so viel Zeit um neue Kontakte zu knüpfen." Die Erleichterung macht mich gesprächiger. Sie weiß nichts von Tyke. Erleichtert atme ich aus und bin dabei so abgelenkt, dass ich fast ihr professionelles Nicken übersehe. Sie macht sich eine kurze Notiz und ich richte meinen Blick wieder auf meine Hände. Diese zittern leicht und ich kann das schnelle Herzklopfen in meiner Brust spüren. Für einen kurzen Moment hatte ich tatsächlich geglaubt, erwischt worden zu sein.

„Ich mag sie nicht," die piepsende Stimme von Pok ertönt neben mir und ich muss dem instinktiven Drang wiederstehen, mich ihm erneut zuzudrehen. Dr. Mykon würde die Chance natürlich sofort nutzen, um dieses ungewöhnliche Verhalten zu kommentieren und das Gespräch zurück auf Pok zu lenken. Jedoch hat schon seine Stimme eine beruhigende Wirkung auf mich und ich kann meine verkrampften Muskeln langsam entspannen. Ich atme tief durch und konzentriere mich auf die Stimme des kleinen Monsters, der mir in diesem Moment Gründe aufzählt, warum er meine Therapeutin nicht ausstehen kann.

Grund eins: ihre viel zu enge Bluse.
Grund zwei: seine, durch sie, bedrohte Existenz

„Erin," Dr. Mykons Stimme klingt ruhig, aber eindrücklich, „Ist Pok in diesem Moment bei uns?" Obwohl ich versucht habe, mir nichts anmerken zu lassen, scheint die Ärztin die Veränderung in meiner Haltung bemerkt zu haben. Ich habe minutenlang geschwiegen und sie ausgeblendet. Es ist noch nicht mal abwegig, dass sie mir in dieser Zeit Fragen gestellt hat. Ich atme tief durch und schüttele langsam mit dem Kopf. Dabei fliegen mir meine kurzen braunen Haare wild um den Kopf. „Sag ihr ruhig, dass ich da bin," erwidert mein kleiner Freund daraufhin schulterzuckend und dieses Mal riskiere ich einen unauffälligen Seitenblick zu ihm. Er hat sich in der Zwischenzeit vom Boden aufgerappelt und steht neben mir. Er versucht die kurzen Arme in die rundliche Hüfte zu stemmen. Dabei überträgt sich der Schwung seiner hilflosen Bewegung auf seine länglichen Ohren, die dadurch leicht nach unten und oben hüpfen.

Im selben Moment streifen meine Augen zufällig die Uhr auf dem Tisch. Der große Zeiger bewegt sich gerade auf die zwölf und übereilt springe ich von meinem Stuhl auf. „Die Zeit ist vorbei," ich greife nach meinem Rucksack und werfe ihn mit über die Schulter. Pok wirkt genauso begeistert wie ich. „Erin...," Dr. Mykon möchte noch etwas einwenden. Wahrscheinlich, dass wir heute auch länger miteinander reden können. Oder, dass sie einen neuen Termin für mich hat. Beides Dinge, die ich nicht unbedingt hören möchte. Also falle ich ihr unhöflich ins Wort: „Wir sehen uns." Sogar ein schmales Lächeln findet einen Weg in mein Gesicht und bevor die junge Ärztin noch etwas einwerfen kann, habe ich mich selbst und Pok aus dem Büro geschoben.

Freiheit.

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