Kapitel 11: Über Treppen, Fragen und Gedanken
„Ich will nicht hin."
„Musst du aber."
„Ich könnte meinem Dad später einfach erzählen, dass es mir nicht gut ging."
„Die Ausrede hast du schon die letzten drei Male benutzt."
Mit zusammengekniffenen Augen starre ich meinen imaginären Freund aufgebracht an. Ich weiß, dass er Recht hat. Umso wütender fühle ich mich. Pok hingegen lässt sich nicht von meiner Wut beeinflussen. Wie immer bleibt er in solchen Situationen ruhig und hilft mir meine chaotischen Gedanken zu ordnen. Er hat Recht. Ich kann nicht schon wieder den Termin ignorieren und den Nachmittag stattdessen mit meinen sogenannten 'psychischen Problemen' verbringen. Dr. Mykon würde dann nur wieder meinen Vater anrufen und eine neue Sitzung vereinbaren. Zuhause würde dann ein ernstes Gespräch auf mich warten und ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Vater mich das nächste Mal sogar mit zur Therapie begleiten würde. Dabei hasse ich es, wenn er dabei ist. Dann fühlt sich der 'sichere Ort' plötzlich ziemlich unsicher und öffentlich an. Nicht, dass ich meinem Vater nicht vertrauen würde. Aber er tendiert dazu, sich schnell Sorgen zu machen. Das will ich nicht.
„Gehen wir jetzt rein oder was?" Auch Tyke hat natürlich das Bedürfnis sich an dem Gespräch zu beteiligen. Er steht neben mir und wechselt unruhig von einem Fuß auf den Anderen. Seine Augen schweifen zwischen mir und dem Gebäudekomplex hin und her, bis sie erwartungsvoll auf mir hängen bleiben. Er trägt keine Jacke, hat die schwarze Kapuze seines Pullovers jedoch tief in die Stirn gezogen. Vom wolkenverhangenen Himmel fallen ein paar Regentropfen hinab, aber ich glaube nicht, dass das der Grund ist warum er sie trägt. Wahrscheinlich gibt ihm das Stück Stoff eine gewisse Sicherheit. Wahrscheinlich fühlt er sich mit der Kapuze im Gesicht selbstbewusster. Stärker. Sicher. Auch ich habe plötzlich das Bedürfnis meine eigene Kapuze in die Stirn zu ziehen und dieselben Gefühle zu empfinden. Nur sehe ich damit leider immer ziemlich schnell wie eine Kartoffel mit übergezogenem Bettbezug aus. Danke dafür.
„Erin?" Tyke wedelt mit ausgestreckter Hand vor meinem Gesicht herum und leicht zucke ich zusammen. Ich werde aus meinen Gedanken gerissen und bemerke, dass ich wohl einige Minuten geistig abwesend gewesen sein muss. Nun starrt mich der Junge mit hochgezogenen Augenbrauen auffordernd an und mir fällt auf, dass er noch immer auf eine Antwort wartet. Mir fällt seine Frage nicht mehr ein. Ich richte meine Augen auf ihn. Er steht unruhig vor mir und wippt mit dem Fußballen leicht vor und zurück. Seine freie Hand hat er in der Jackentasche vergraben, während die andere noch immer vor meinen Augen tanzt. „Äh...," ich kratze mich nervös im Nacken und werfe einen nachdenklichen Blick in Richtung Hausfassade. Schon von hieraus kann ich das viereckige Fenster erkennen, aus dem ich bei meinen Therapiestunden immer starre. Meistens nutze ich die triste Aussicht, um Dr. Mykon vorzuspielen, in meinen Gedanken versunken zu sein und ihre nachhackenden Fragen nicht mehr mitzubekommen. Dabei rede ich einfach nicht gerne mit ihr.
Mir fällt Tyke's Frage wieder ein und obwohl ich nicht antworten möchte, muss ich es wohl früher oder später tun. Der Arme wartet noch immer ungeduldig darauf, dass ich ihm sage, was als Nächstes passiert. Ich sehe ihm an, dass er eigentlich genauso wenig Lust auf diese Sitzung hat wie ich. Aber ich muss an Pok's Einwand denken und an die Folgen, die ein Terminschwänzen für mich hätte. „Wir gehen rein," ich nicke Tyke leicht zu und setze mich wiederwillig in Bewegung. Pok trottet mir langsam hinterher. Ich kann seine länglichen Hinterpfoten patschend auf dem Asphalt hören. Er weicht den kleinen Pfützen auf dem Weg aus. Er mag kein Wasser. Genau wie ich. Tyke hingegen hält mit mir Schritt und tritt achtlos in jede beliebige Pfütze, die seinen Weg kreuzt. Er hat sich meinen Bewegungen angepasst und hält mir sogar die Türe des Gebäudekomplexes auf. Ich nicke ihm leicht zu, bevor wir nebeneinander die Stufen hochsteigen. Pok braucht mit seinen kurzen Beinen für jede Stufe doppelt so lange wie wir. Normalerweise warte ich deshalb auf das graue Monster und nehme mir besonders viel Zeit für die Treppe. Heute jedoch ist Tyke an meiner Seite und zu warten erscheint mir plötzlich lächerlich.
„Wo müssen wir hin?"
Tyke hat etwas Leichtfüßiges an sich. Während mein Schritte bei jeder neuen Stufe laut im Treppenhaus nachhallen, bewegt er sich nahezu lautlos. Seine Schuhe setzen federleicht auf den einzelnen Stufen auf und mit einer schwungvollen Bewegung folgt er ihrem Verlauf. Es scheint ihn noch nicht einmal anzustrengen. Ich dagegen spüre schon jetzt die Wärme in meinem Körper, mein schneller schlagendes Herz in meiner Brust und meine nach Luft schnappende Atmung. Ich versuche möglichst unterschwellig nach Luft zu schnappen, doch mein Atmen klingt schon jetzt wie ein verzweifeltes Hecheln. Ich werfe Tyke einen Blick zu, doch dieser scheint meine Anstrengung nicht zu bemerken. „Siebter Stock." Ich werfe einen kurzen Blick zu der Stockwerkbeschriftung. Gut. Wir sind bereits in der fünften Etage angekommen und irgendwo weiter unten kann ich Pok mit den Treppen kämpfen hören. Später wird er mich wieder stundenlang ignorieren, weil ich nicht auf ihn gewartet habe und stattdessen mit Tyke vorgelaufen bin. Das Monster kommt nicht unbedingt gut damit klar, ersetzt zu werden. „Und warum nehmen wir dann nicht den Aufzug?" Tyke ist vor den geschlossenen Aufzugstüren zum Stehen gekommen und hat den Finger bereits über dem Druckknopf schweben. Würde er ihn drücken, würde innerhalb weniger Sekunden der enge Aufzug kommen und seine Türen für uns öffnen. Ich schüttele bei diesem Vorschlag als Antwort kurz mit dem Kopf und laufe an dem Teenager vorbei. Er holt mich mit schnellen Schritten ein.
„Warum nicht?"
„Ich mag Fahrstühle nicht."
„Langsam habe ich das Gefühl du magst viele Dinge nicht."
Ich möchte dem Jungen einen bösen Blick zuwerfen, bemerke jedoch im selben Moment, dass er irgendwie Recht hat. Ich mag tatsächlich nur wenige Sachen. Also zucke ich als Erwiderung nur knapp mit den Schultern und erklimme die letzten paar Stufen. Meine brennenden Muskeln begrüßen die Ebene und tief atme ich durch. Meine Hand legt sich auf das schwarze Geländer und kurz werfe ich einen Blick das Treppenhaus hinunter. Pok ist in diesem Moment im dritten Stockwerk angekommen und ich kann das kleine Monster leise fluchen hören. Oh ja. Später würde er mich entweder gewissenhaft ignorieren oder mir Vorwürfe machen. Ich weiß nicht, was ich besser finden soll. „Hier?" Mir fällt auf, dass Tyke heute besonders viele Fragen stellt. Dabei hatte der Tag gut angefangen. Zur Abwechslung mal nur mit Pok. Mein Vater war schon auf Arbeit. Also hat mich nur ein simpler Post-It an den Termin bei Dr. Mykon erinnert. Ich habe ihn eingesteckt. In meiner Jackentasche ist er nicht mehr. Wahrscheinlich habe ich ihn schon auf dem Weg zur Schule irgendwo verloren. Tyke ist erst nach der dritten Schulstunde neben mir aufgetaucht. Er hat Pok abgelöst, der bei der bevorstehenden Doppelstunde Mathematikunterricht einen Rückzieher gemacht hat. Eigentlich kann sich das graue Monster jetzt nicht beschweren, dass es alleine die Treppe hochlaufen muss. Ich musste zwei Stunden Mathe alleine durchstehen. Von Tyke, dem Lehrer und meinen Mitschülern mal abgesehen. Mathe ist Mathe.
„Erin?"
Erneut reist mich Tyke's Stimme aus meinen Gedanken und kopfschüttelnd versuche ich die Erinnerungen an den heutigen Tag aus meinem Gedächtnis zu verdrängen. Ich richte meinen Blick auf den Jungen, der mich mit leicht schräggelegtem Kopf mustert. Ich glaube Sorge in seinem Gesicht sehen zu können, kenne ihn jedoch noch nicht gut genug, um mir sicher zu sein. Ich muss mir wieder ins Gedächtnis rufen, dass er nur in meinem Kopf existiert und die Sorge in seiner Mimik sowieso nur Einbildung ist. „Alles okay?" Er wundert sich wahrscheinlich warum ich heute so oft in meiner eigenen Welt verschwinde. Doch das tue ich oft. Vor allem dann, wenn ein Termin mit Dr. Mykon ansteht. Mein Vater denkt, die Therapie würde alles besser machen. Dabei passiert meistens das Gegenteil. Während mein kleiner grauer Freund oft für eine Weile verschwindet, ist er die Stunden vor der Sitzung immer bei mir. Er begleitet mich bis vor die Türe. Oft sogar mit rein. Er sitzt dann neben mir auf dem Stuhl. Manchmal wendet er hilfreiche Floskeln ein. Manchmal beschwert er sich über die meiner Psychotherapeutin. Ich lüge Dr. Mykon an und sage, Pok wäre nicht bei mir. Dabei ist er das. Er kommt mit mir und geht mit mir. Wenn mein Vater mich nach den Sitzungen abholt, lasse ich die Türe sogar einige Momente länger offen, damit Pok noch schnell auf die Rückbank schlüpfen kann. Wenn ich stattdessen mit dem Bus nachhause fahren muss, rede ich erst im Bus mit ihm, wo ich mir sicher sein kann, dass Dr. Mykon uns nicht mehr von ihrem Büro aus sehen kann. Die Gespräche mit ihr, scheinen meinen kleinen Freund geradezu heraufzubeschwören.
Jetzt ist auch noch Tyke an meiner Seite.
„Du solltest hier warten," endlich habe ich aus meinen eigenen Gedanken freigekämpft und starre den Jungen blinzelnd an. Wir stehen noch immer im Gang. Vor uns liegt die Eingangstüre zu der Praxis von Dr. Mykon. Wir sind alleine. Pok dürfte in der Zwischenzeit die vierte, wenn nicht sogar schon die fünfte, Etage erklommen haben. Die Uhr neben der Türe zeigt, dass ich fünf Minuten zu spät bin. Hoffentlich hat Dr. Mykon noch nicht zum Telefon gegriffen und meinen Vater angerufen. „Warum?" Natürlich muss Tyke genauer nachfragen. Ich zucke als Antwort mit den Schultern und lege meine Hand bereits auf den silbernen Türknauf. Das Metall ist kalt und meine Finger schließen sich fest darum. Ich kann dem Teenager ansehen, dass er weiterfragen möchte. Dass er eine genaue Antwort auf seine Frage möchte. Dabei möchte ich ihn einfach nicht dabeihaben, wenn ich mit Dr. Mykon rede. Sie hat ein Talent dafür, ausgedachte Freunde zu verletzen. Pok lassen ihre Worte inzwischen kalt. Deshalb darf er bei den Sitzungen mit dabei sein. Er hat sich daran gewöhnt, als 'unecht' oder 'imaginär' bezeichnet zu werden. Bei Tyke hingegen habe ich manchmal das Gefühl, dass er noch nicht einmal selbst weiß, dass er nur in meinem Kopf existiert.
Er ist das Gegenteil von Pok und langsam glaube ich, mein Unterbewusstsein versucht witzig zu sein.
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Momentan bin ich super motiviert diese Story weiter zu schreiben. Was gefällt euch denn bisher am Besten an Erin, Pok oder Tyke? Ich freue mich immer über Rückmeldung oder wilde Spekulationen zum Verlauf dieser Geschichte. Und damit wünsche ich euch allen einen schönen Abend.
Lg CoolerBenutzername
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