Kapitel 10: Mit Fantasie und Wahnsinn

Ich drücke die Zimmertüre hinter mir ins Schloss und lehne mich erschöpft mit dem Rücken dagegen. Ich schließe meine Augen. Atme tief durch. Ich kann meinen Vater noch unten an der Treppe stehen hören. In diesem Moment läuft er den Gang entlang und verschwindet in der Küche. Seine Schritte knarren auf den alten Holzdielen und kurz darauf kann ich hören, wie er den Kühlschrank öffnet. Ich spüre das raue Holz der Türe auf meiner Haut und die kalte Türklinke, wie sie sich unangenehm in meinen Rücken bohrt.

„Was wollte er?"

Ich kann Tyke spüren. Er ist vor mich getreten und wippt ungeduldig auf und ab. Blinzelnd öffne ich meine Augen und sehe den groß gewachsenen Teenager wenige Meter von mir entfernt stehen. Das schwache Licht der untergehenden Sonne reicht gerade so aus, um seine Gesichtszüge grob nachzuzeichnen, doch die Schatten lassen seine Augen dunkel und seine Haut blass erscheinen. Er hat den linken Ärmel seines Pullovers leicht nach oben gekrempelt, sodass mir erneut die schwarzen Linien auf seiner Haut auffallen. „Wissen, wo ich den ganzen Nachmittag war," ich drücke mich an den Jungen vorbei und überbrücke die wenigen Meter bis zu meinem Schreibtisch. Ich lasse meinen Schulrucksack unachtsam neben dem Stuhl auf den Boden fallen und betätige den Lichtschalter. Die Stehlampe leuchtet auf und verdrängt die Schatten der untergehenden Sonne. Ich zucke erschrocken zusammen als Tyke plötzlich neben mir steht. „Hast du ihm von mir erzählt?" Ich mag nicht wie seine Stimme klingt. Als würde er meinem Vater etwas vorwerfen und mir etwas unterstellen wollen. Ich schüttele als Antwort den Kopf und lasse mich rücklings auf mein Bett fallen.

Ich spüre meinen Herzschlag.

Ein monotones Pulsieren zieht sich über meinen Rücken und noch immer habe ich das Gefühl, die eisige Hand der Schattengestalt an meinem Hals zu spüren. Ich atme tief durch und fahre mit meiner eigenen Hand über meine Kehle. Die weiche Haut fühlt sich unter meinen kalten Fingern angenehm warm an und ich kann das kräftige Klopfen meines eigenen Pulses unter meinen Fingerspitzen spüren. Ich bin am Leben. „Was ist passiert?" Die piepsige Stimme taucht so unmittelbar neben mir auf, dass ich erschrocken zusammenzucke. Mein Kopf fährt herum und blinzelnd erblicke ich Pok. Er steht neben meinem Bett und seine Ohren wippen leicht auf und ab. In seinen schwarzen Augen spiegelt sich Tyke's Silhouette. Er hat sich von mir abgewandt und sich meinem Bücherregal zugedreht. Er scheint verstanden zu haben, dass ich einen kurzen Moment Ruhe brauche. Anstatt mich also mit weiteren Fragen zu bombardieren, greift er nach einem Buch. Ich ignoriere ihn. Pok ist wieder da. Mir fällt ein Stein vom Herzen und ein erleichtertes Lächeln bildet sich auf meinen Lippen. Innerhalb weniger Sekunden sitze ich aufrecht im Bett.

„Hey," flüstere ich leise und spüre wie eine Welle kribbelnder Glücksgefühle durch meinen Körper rauscht. Für eine Weile hatte ich tatsächlich geglaubt, das kleine Monster nicht mehr so schnell wiederzusehen. Ich stelle fest, dass er noch nie solange verschwunden war. Naja zumindest nicht ohne Medikamente. Dr. Mykon würde das wahrscheinlich als Fortschritt bezeichnen, ich dagegen als dramatischen Verlust. Ohne Tyke an meiner Seite hätte ich den heutigen Tag ohne Pok nicht überlebt. „Was war los?" frage ich bei meinem kleinen Freund nach und mustere ihn. Er sieht aus wie immer. „Ich war unterwegs," ich bemerke, dass er dieselben Worte als Antwort benutzt, wie ich nur wenige Minuten zuvor bei meinem Vater.

„Was hast du gesagt?" Tyke mischt sich in unser Gespräch ein und kurz schweift mein Blick zu ihm. Er hält eins meiner Bücher in der Hand, hat seine Augen jedoch auf mich gerichtet. Ich weiß nicht, ob er seine Frage an mich oder meinen imaginären Freund richtet. Mein Blick richtet sich auf Pok. Er schweigt. Er scheint den Junge noch immer nicht zu mögen. Also räuspere ich mich und beantworte Tyke's Frage: „Ich habe gefragt, was los war." Der dunkelhaarige Junge nickt verstehend. Er schiebt das Buch zurück in das Regal und ich bemerke, dass er es an die falsche Stelle zurückräumt. Ich möchte etwas einwenden, doch er überhört meinen einwendenden Versuch. Stattdessen dreht er sich zu mir und fährt sich durch die schwarzen Haare. Dabei rutscht sein linker Ärmel noch weiter zurück, sodass ich die Tattoos erkennen kann, die sich geschwungen über die Haut ziehen. Jedoch verschwinden sie zu schnell unter dem Stoff seines Pullovers, sodass ich die Muster nicht erkennen. Tyke räuspert sich und reist mich aus meinen Gedanken. „Naja das ist nicht so einfach," es ist das erste Mal dass ich den Teenager ansatzweise ratlos erlebe. Er scheint tatsächlich nach Wörtern zu suchen und dabei völlig seine Selbstsicherheit zu vergessen. Ich bin verwundert, dass er meine Antwort als Aufforderung versteht, widerspreche ihm jedoch nicht. „Dass mit der Fantasie ist so eine Sache."

Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und frage genauer nach: „Was meinst du damit?" Ich beobachte ihn aufmerksam, bleibe jedoch bewegungslos auf meinem Bett sitzen. Auch Pok wagt es sich nicht zu bewegen. Stattdessen bleibt er geduldig neben mir stehen und lauscht mit schräggelegtem Kopf den Worten unseres neuen Freundes. Dieser fängt hingegen an, unruhig im Zimmer auf und abzugehen, als würde ihm die Bewegung beim Denken helfen. Ich bemerke schon jetzt, dass der Junge nicht sonderlich gut darin ist, Dinge zu erklären, womit er wieder einmal mein eigenes Unterbewusstsein widerspiegelt. Ich konnte noch nie etwas verständlich erklären. Dafür habe ich zu viele Gedanken in meinem Kopf, die sich die meiste Zeit nicht einordnen lassen.

„Naja," er zuckt locker mit den Schultern und bleibt plötzlich vor mir stehen, „Fantasie ist etwas, dass jeder Mensch hat. Manche mehr, manche weniger. Manche haben es nur in ihrer Kindheit, andere behalten sie für die Ewigkeit und manche sterben sogar durch sie." Ein eiskalter Schauer läuft mir bei Tyke's letzten Worten über den Rücken und mit großen Augen starre ich den Teenager an. Meine Finger krallen sich unterbewusst in den Stoff meiner Jeanshose und die Anspannung in meinen Muskeln zieht sich wie ein brennendes Feuer durch meinen Körper. Erneut habe ich das Gefühl den eiskalten Griff des Schattenkriegers fest an meinem Hals zu spüren. „Es...es ist Fantasie. Wie kann man daran sterben?" Selbst ich höre das leichte Zittern meiner Stimme und doch scheint Tyke es nicht zu bemerken. Stattdessen starrt er an mir vorbei an meine weiße Zimmerwand und scheint dabei in seinen eigenen Gedanken zu versinken. „Fantasie ist so viel mehr, als nur in deinem Kopf. Mit ihr kannst du Dinge erschaffen, ganze Welten. Du hast es heute selbst gesehen," er richtet seinen Blick so plötzlich auf mich, dass ich leicht zusammenzucke, „Der Wald," ich nicke zustimmend, bemerke zur selben Zeit jedoch sein Zögern, „Die Schattenkrieger."

Mir fällt auf, dass er noch gar nichts über sie erzählt hat.

Schattenkrieger?" die fragende Stimme von Pok taucht plötzlich neben mir auf und überrascht richte ich meinen Blick zurück auf meinen kleinen sprechenden Freund. Er steht noch immer neben mir, hat die letzten Minuten jedoch geschwiegen. Ich hatte seine Anwesenheit völlig vergessen. Seine langen Ohren wippen leicht auf und ab, während er seinen ovalen Kopf leicht nach oben gerichtet hält, um Tyke anschauen zu können. Normalerweise ist er nicht zu überhören. Doch irgendetwas scheint ihn an dem dunkelhaarigen Jungen zu faszinieren. Oder zumindest an seinen Worten. „Frage ihn, was diese Schattenkrieger sind," fordert das kleine Monster neugierig und wirft mir einen kurzen Blick zu. Dabei schwenkt sein Kopf für wenige Sekunden zu mir und ich sehe meine eigene Spiegelung in seinen schwarzen Augen. Doch bevor ich meinem kleinen Freund seinen Wunsch ausschlagen kann, hat er bereits seine Pfote erhoben und mich unweigerlich nach vorne gedrückt. Ich rutsche vom Bett und stehe somit nur noch wenige Meter von Tyke entfernt. Mir wird klar, dass ich die Kraft des hüfthohen Monsters eindeutig unterschätzt habe.

Tyke hat meine ruckartige Bewegung natürlich bemerkt. Er bleibt stehen und schaut mich mit schräggelegtem Kopf an. Er wartet und eine brennende Hitze macht sich in meinem Körper breit. Sie kämpft sich bis zu meinem Gesicht und ich kann spüren, wie sich meine Wangen rot färben. „Äh...," ich werfe Pok einen bösen Blick zu und räuspere mich, „Was genau sind die Schattenkrieger?" Tyke reist bei meiner Frage leicht überrascht die Augen auf, bevor er sich mit einer lockeren Handbewegung durch die Haare fährt. Ich schätze, dass er wieder einmal darüber nachdenken muss, wie er meine Frage am besten beantworten kann. Deshalb warte ich geduldig ab, während Pok neben mir unruhig von einem Fuß auf den anderen tänzelt. Das kleine Monster macht mich mit seiner aufgeregten Unruhe nervös und angespannt kralle ich meine Finger in meine Oberschenkel.

„Im Grunde sind die Schattenkrieger ein Mythos. Ein Märchen," Tyke hat sich endlich dazu entscheiden zu antworten, „Aber Fantasie kann sie real werden lassen." Er richtet seinen Blick kurz auf mich und ich suche nach einer passenden Erwiderung. „Sie können gegen uns kämpfen," meine Augen fallen automatisch auf die längliche Schnittwunde in Tykes Gesicht. Ich erinnere mich an das beängstigende Gefühl, von einer dieser Gestalten auf den Boden gedrückt und von einer weiteren fast erwürgt zu werden. Allein dieser Gedanke reicht aus um erneut die kalte Hand an meinem Hals zu spüren. Ich wäre heute fast gestorben. „Und uns verletzen." Ich lasse die Tatsache, dass sie uns auch töten können, bewusst unerwähnt. Trotzdem spüre ich den kalten Schauer der mir über den Rücken läuft als ich daran denken muss, heute nur knapp dem Tod entkommen zu sein. „Die Schattenkrieger sind mächtig." Tyke scheint nicht weitersprechen zu wollen. Stattdessen meidet er meinen Blick und wirkt innerhalb weniger Sekunden gedankenverloren. Er starrt auf seine Hände und dabei stechen mir mal wieder die Andeutung der schwarzen Linien auf seiner Haut ins Auge.

Wo kommen sie her?"

Pok spricht meine Gedanken aus und Tyke's Blick landet ruckartig auf mir. „Die Legende besagt sie wurden geschaffen um eine Prinzessin zu beschützen," er zuckt etwas ratlos mit den Schultern, „Keine Ahnung ob das stimmt. Aber jedes Mal, wenn ich sie treffe, versuchen sie jemanden umzubringen." „Warum haben sie uns angegriffen?" Diese Frage interessiert mich brennend. Der Junge wendet sich von mir ab und fängt wieder damit an, unruhig im Zimmer auf und ab zu tigern. Ich befürchte, dass mein Vater seine unruhigen Schritte unten in der Küche hören kann. Doch bevor ich diese Sorge weiter ergründen kann, räuspert sich Tyke. „Das weiß ich nicht," wow mein Unterbewusstsein ist mal wieder besonders hilfreich, „Aber das werden wir herausfinden. Deshalb bin ich hier." Der Teenager wirkt überzeugt und das Selbstbewusstsein in seiner Stimme klingt unerschütterlich. Ich sehe den Glanz in seinen Augen und versuche seinen Worten zu glauben.

Ich mag ihn nicht," wendet Pok in diesem Moment schmollend ein und mein Blick landet auf dem kleinen grauen Monster. Es steht neben mir und hat die Arme notdürftig vor dem dicken Bauch verschränkt. Sein katzenähnlicher Mund hat sich leicht nach unten gezogen, wodurch es nicht länger so wirkt als würde er lächeln. In seinen schwarzen Augen spiegelt sich die Silhouette von Tyke wieder und augenverdrehend seufze ich auf. „Du magst ja auch niemanden."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top