Prolog

Die letzten Sonnenstrahlen verschwanden hinter den Fassaden der Häuser. Langsam und mit der Schönheit einer lieblichen Lilie blitzten die ersten Sterne am Nachthimmel auf. Ich biss mir auf die Lippen. Ein letztes Mal kamen Zweifel in mir auf, doch es brauchte mehr. Mehr, um die Entscheidung zu ändern, die ich seit Jahren gefällt hatte. Und nun war es soweit. Nun würde ich es endlich tun. Nein, ich sprach nicht vom Sex. Ich sprach von etwas anderem. Etwas Erfüllendes, etwas Friedliches. Etwas, das mit "Selbst" beginnt und "Mord" endet. Nun ja, ich bevorzugte schon immer das Wort Suizid.

Einen letzten Blick ließ ich auf meine Umgebung nieder. Ich spürte die Sommerwärme auf meiner Haut, die dadurch aufkommende Gänsehaut und den Geruch von Tannennadeln und Harz.

Zitternd umschloss meine rechte Hand das kalte Metall des Revolvers. Meine linke Hand spielte nervös mit dem Zipfel meines Lieblingskleides. Mein Atem bebte und mein ganzer Körper war ein einziges Wrack. "Es ist soweit...", flüsterte ich in die weite Unendlichkeit, gleichzeitig entsicherte ich die Waffe.

Es war schon fast enttäuschend. Noch bis vor einem Tag hätte ich vermutet, dass dies ein langer, endloser Moment wäre. Ein Moment, in dem ich noch ein weiteres Mal mein Leben durchleben würde, all das Gute wie auch Schlechte. Doch nichts dergleichen geschah. Nein, solche Szenerien musste ich wohl einfach schon zu oft durchlebt haben. Stattdessen wanderten meine Gedanken zu meiner Mutter und meinen Freundin. Würden sie meinen Tod verkraften? Ich hoffte es sehr.

Mein Atem stand still. Das Wetter war vielversprechend, trotz der Uhrzeit. Wie oft hatte ich mir diesen Moment vorgestellt? Einmal die Woche? Einmal täglich?

Und jetzt wurde es Realität. Ich führte den Lauf an meine rechte Schläfe, bekam einen Kuss von dessen Kälte. Augen schließen.

Drei...

Ich würde all das Leid zu guter letzt hinter mir lassen können. Meine komplizierte Persönlichkeit würde mir nicht mehr im Weg stehen. Und nicht den anderen.

Zwei...

Die Anderen... ich werde über sie wachen und mich darum kümmern, dass sie nicht in der Verzweiflung ertrinken. Nicht, so wie ich es bin. Egal was es kosten wird, ich werde über sie wachen.

Eins...

"Aua!", quickte ich und sprang zur Seite. "Was zum-... wer bist du?!" Entgeistert starrte ich das Wesen neben mir an: Ein kleiner Junge. "Ich bin Enzian, benannt nach der Blume Enzian!", strahlte mich das Kind fröhlich an. "Der... Blume?", ich ließ den Revolver unauffällig hinter meinem Rücken verschwinden. "Wie auch immer: Warum hast du mich gekniffen!? Was tust du hier überhaupt, es ist schon spät!" Ich setzte einen elterlichen Unterton auf, meine Stimme war jedoch lauter als gewollt. Einige Momente schien der Junge zu überlegen. Ich nutzte die Gelegenheit aus, um ihn etwas genauer zu betrachten: Blonde, verstrubbelte Haare, die unter der Kapuze seines dunkelgrünen Capes hervorlugten und dunkelblaue, eigentlich sehr überwältigende Augen. Erst bei genauerem Betrachten fiel mir auf, dass er keine Schuhe trug.

"Du wolltest dir das Leben nehmen, irgendetwas musste ich doch tun", gab er kleinlaut von sich. Er wusste Bescheid? Er schien nicht sehr viel älter als acht, wie konnte er Bescheid wissen? "Das stimmt nicht!", fuhr ich ihn zickig an. Mein Herz raste immer noch wie verrückt. Ich hätte viele Reaktionen erwartet. Vor allem da ich zu der Art Menschen gehöre, die sich alle möglichen (meist negativen) Szenarien binnen Sekunden vorstellen kann. Doch die Reaktion des kleinen Jungen traf mich völlig unerwartet: Er umschlang mich mit seinen kleinen, dürren Armen!

Völlig perplex und von der Rolle starrte ich auf ihn hinab. Was sollte ich tun? Ihn zurück umarmen? Ihn wegschubsen? Er war niedlich, ja, aber dafür auch mehr als nur seltsam.

"Du verspürst Unbehagen, es tut mir Leid." Er ließ mich los, den Blick auf den Boden gerichtet. Ein Gefühl breitete sich in mir aus. Aus Ungeduld wurde Mitleid. "Nein, nein!" Ich ließ mich auf meine Knie fallen und breitete die Arme aus, vergaß dabei völlig den Revolver in meiner Hand. Doch der Junge dessen Name ich schon wieder vergaß, kümmerte sich nicht weiter darum, sondern sprang mir erfreut in die Arme. Wir verweilten ein Momentchen so und ich spürte, wie er an meiner Tasche rumfummelte. Anstatt wütend zu werden oder ihn von mir abzustoßen und wegzurennen, ließ ich es zu. Die Tasche war leer, ich hatte sie nur zum unauffälligen Transport des Revolvers mitgenommen.

Nach einigen Minuten war ich es, die sich löste. Mein Plan für Heute war zunichte, zu groß war die Angst, dass ich jetzt entdeckt werden würde. So blieb mir nichts anderes übrig als meinen Tod zu verschieben. "Ich muss jetzt gehen, El-... ähm..." Ich legte den Kopf schief. "Enzian! Benannt nach der Blume!" Ich rappelte mich auf und klopfte die Erde von meinen Knien. "Auf Wiedersehen Enzian."

"Auf Wiedersehen Fleur."


(782 Wörter)

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