Kapitel 1: "Woher kennst du meinen Namen?!"
Völlig außer Atem schloss Fleur die Balkontür hinter sich. Woher kannte der Junge ihren Namen?! Sie hatte ihn ihm nicht gesagt! Ist er vielleicht ein Mini-Stalker? Kriminell war er anscheinend ja schon. Oh Gott...
Ein Gedankengewitter schoss durch ihren Kopf, ehe Schwindel das 16-Jährige Mädchen überkam und sie sich an der Kommode im Wohnzimmer abstützte. "Fuck..." Sie hätte gerne los geschrien, doch sie musste ruhig bleiben. Leise tappte sie durch den stockfinsteren Flur in ihr Zimmer; die Treppe nach oben nicht außer Augen lassend. Hätten ihre Eltern gewusst, dass sie sich raus geschlichen hatte, dann bräuchte sie erst gar nicht mehr Suizid zu begehen. Erleichtert schloss Fleur die Tür hinter sich und ließ sich kurzerhand an dem kastanienbraunen Holz runtergleiten. Noch mehr hätte heute nicht schief laufen können: Erst der Streit mit Kaitlyn, dann ist ihre Mutter sauer auf sie und jetzt auch noch die Sache im Wald.
Wie lange musste sie schon kämpfen? Wie lange hielt sie das schon aus?! Sie wollte endlich abschließen. Sie wollte glücklich sein! Jahr für Jahr wünschte sie sich an ihrem eigenen Blut zu ersticken und es wäre fast wahr geworden. Fast. Immer schaffte sie es nur 'fast'. Warum hasste... wer auch immer, sie eigentlich so sehr?! Sie hatte es satt, satt und nochmals satt!
Wut und Trauer kamen in ihr auf, die Verzweiflung übernahm ihr Denken und heiße Tränen flossen ihr die Wange runter. Nur sehr leise schluchzte sie, sie durfte ihre Eltern nicht aufwecken. Ihre Hände vergriffen sich in ihren Haaren, zogen an ihnen um Schmerz zu verursachen. Ihre Zähne rammten sich in ihre Lippen. In diesem Moment bereute sie, sich nicht einfach vor dem Jungen erschossen zu haben. Oder von drei rückwärts gezählt zu haben. Warum verflucht nochmal hatte sie das getan?! Wollte sie es dramatisch halten?! Wollte sie vielleicht aufgehalten werden?! Fragen verlangten nach Antworten, unbeantwortete Fragen führten zu Kopfschmerzen. Es verging vielleicht eine halbe Stunde, ehe Fleur mit tränenüberströmten Gesicht einschlief.
Blinzeln. Fleur blinzelte. Einige Male sogar, bevor sie realisierte wo sie denn eigentlich war. Fluchend rappelte sich das junge Mädchen auf, ignorierte die Rückenschmerzen und setzte sich auf's Bett. Mit einem prüfenden Blick auf die Uhr stellte sie erstaunt fest, dass sie zwei Stunden früher wach war, als sie musste. Oder vielmehr: Drei Stunden früher, als sie sonst auch wirklich wach war. Die Lust sich jetzt umzuziehen und nochmal schlafen zu legen, verging spätestens nachdem sie auf Klo war. Eine Viertel Stunde später war ihr Bett gemacht und sie selbst angezogen. Sie schaute sich angewidert im Spiegel an. Alles was sie sah, ließ sie erschaudern. Sie wollte nicht glauben, dass der brünette Lockenschopf zu ihr gehörte. Sie wollte nicht wahrhaben, dass die blauen Augen mit Gelbstich, umringt von riesigen Augenringen ihr gehörten. Sie wollte es nicht für möglich halten, dass sie seit sieben Jahren diese Fettpolster mit sich trug, die zu explodieren drohten. Doch all das gehörte ihr, und sie hasste es.
Nach dem Frühstück saß sie gelangweilt auf ihrem Bett und schaute sich in ihrem Zimmer um: Es war ein einziges Chaos. Vom Tatendrang geleitet kam der Müll in den Müll, die Ladekabel in die Kommode und der ganze Schnickschnack ebenfalls auf seinen Platz. Auch der Revolver lag wieder im Tresor.
Neben der Tür lag ihre Tasche. Mit ein wenig Schadenfreude, dass der kleine Junge von heute Nacht nichts daraus klauen konnte, griff sie nach dem Accessoire und wollte es schon wieder im Schrank verstauen, als sie etwas herauslugen sah. Mit ihren Fingernägeln griff sie den herausstehenden Zipfel und zog das hellbraune Etwas heraus. "Ein... Wow, ein Umschlag. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass da wohl eine Bombe drin ist und mich einfach zerfetzt?" Fleur war gerne sarkastisch. Aber Sarkasmus zu erkennen viel ihr seltsamerweise nicht immer leicht. Ohne weiter darüber nachzudenken, öffnete sie den Umschlag hastig und zog den Inhalt heraus. Ein Stapel Papier und ein Stift kamen zum Vorschein.
Mit hochgezogener Augenbraue betrachtete Fleur das erste Papier genauer: Das Material war fest und roch ein wenig nach Minze, kleine Buchstaben waren drauf gedruckt. Die Rückseite war leer. Lesen könnte sie gleich, der Rest war jetzt interessanter. Und mit "Rest" meinte sie den Stapel Briefumschläge. Auch dieser roch nach Minze, das Papier schien jedoch um einiges sensibler. In jedem Briefumschlag schien ein Briefpapier zu stecken, mit dem gleichen Geruch, abgerundeten Ecken und hauchdünn. Fleur nahm eines der Papiere heraus und ließ es zwischen ihren Fingerkuppen entlang gleiten: Es fühlte sich edel und uralt an. Mit Bedacht kam das Papier wieder in den Umschlag, der Umschlag zurück auf den Stapel und nun der Stift in die Hand der 16-Jährigen. Doch dort blieb er nicht lange.
"Deeespacito!" Ihr Herz schlug auf einmal drei Mal so schnell und der Stift flog im hohen Bogen gegen die Wand. "Das darf doch nicht deren Ernst sein!", schimpfte Fleur und stapfte zum Wecker, um ihr neues Hass-Lied abzuschalten. "Als gäbe es keine anderen Lieder auf dieser Welt! Das ist jetzt das dritte Mal, dass mich diese Scheiße wecken will! Das dritte Mal!" Für wahr, wenn es um Chart Hits ging, dann war Fleur mehr als nur kritisch.
Schnell lief sie zum Stift um ihn aufzuheben und ließ ihren Blick dabei auf die Uhr schweifen. Oh verdammt! Ich komme wieder zu spät! Mit dem Stift und dem Rest in der Hand, flitzte das Mädchen in den Flur und ließ sie die sonderbaren Gegenstände auf der Kommode liegen. Sie kam nicht drumherum zu lesen, was auf dem Stift eingraviert war:
"Unsere größte Schwäche liegt im Aufgeben. Der sichere Weg zum Erfolg ist immer, es doch noch einmal zu versuchen."
Fleur schnaubte. Jacke an, Schuhe an, kurioses Geschenk eines seltsamen Jungen, den sie bei einem Suizidversuch getroffen hatte in der Hand - und schon war sie draußen.
Obwohl sie der wahrscheinlich unsportlichste Mensch der Welt war, rannte Fleur die Straße hinunter und bog gerade rechtzeitig ab, um Kaitlyn noch zu erwischen.
"Hi!", Kaitlyn umarmte sie kurz, wobei ihr Pferdeschwanz fröhlich hin und her wippte. Manchmal war Fleur eifersüchtig. Kaitlyn's Haare saßen nahezu perfekt. Sie standen nicht ab, sie hatten kein Spliss, und schienen auch nicht ihren eigenen Willen zu haben. Es waren einfache (na gut, vielleicht nicht ganz normale) blaue gefärbte Haare.
"Hey", lächelte Fleur. Sie liefen los. Still. Nebeneinander.
"Und? Wie geht's dir?" Kaitlyn.
"Joa. Ganz gut." Fleur.
"Was hast du gestern so gemacht?"
Gerne würde die 16-jährige sagen, dass die Gespräche nicht immer so verliefen. Aber im Großen und Ganzen taten sie das. Ein "Was haben wir gleich?" hier, ein "Freust du dich schon auf Kunst?" da, und vereinzelt auch Mal ein "Man, meine Eltern nerven wieder gewaltig!", wenn der Morgen keinen guten Start hatte.
Fleur verstand es nicht. Gestern hatten sich die beiden noch angezickt. Sich angeschrien und niedergemacht - eine einzige Laune des Temperamentes. Ja, natürlich war das junge Mädchen noch sauer. Und enttäuscht. Und sie hatte Angst ihrer besten Freundin unter die Augen zu treten. Sie fühlte sich selbst auch schuldig. Doch Kaitlyn schien das wenig auszumachen.
Endlich war das Schulgebäude in Sicht. Die Klingel ertönte, ein weiterer (wie es scheint) normaler Schultag begann, an dem sie zu spät kamen. Zumindest ging Fleur davon aus. Kann ich nicht einfach wieder nach Hause? "Ich muss noch eben auf Klo", log sie und bog um die Ecke. Das Murmeln Kaitlyn's ignorierend lief sie weiter, schneller.
Fick dich, du kleiner Pisser. Mit diesen Worten versenkte sie die Gegenstände im Mülleimer.
ꕤ ꕤ ꕤ
Es klingelte. Die Pause war zu Ende, der Unterricht begann wieder. Ich raste gleich aus. Ich bin am Ende mit meinen Nerven. Ich habe genug! Wenn ich vorher noch irgendwelche Zweifel hatte, dann weiß ich spätestens jetzt, dass ich reif bin. Bring. Mich. Um.
Aufgrund der gestrigen Ereignisse war es fast unmöglich den Tag durchzustehen. "Cooler Stift." Es war Sandra's Murmeln, das Fleur aus ihrer Verzweiflung riss. "Mh?" Ihre Sitznachbarin - Sandra - nickte in ihr Federmäppchen und riss sich dann einen ihrer Stifte unter die Nägel. "Cooler Stift habe ich gesagt. Ich mag die Inschrift. Wo hast du den her?"
Fleur verstand nichts. "Inschrift?" Eine graue Vorahnung ließ sie Schlimmes erahnen.
"Der Spruch: 'Unsere größte Schwäche liegt im Aufgeben. Der sichere Weg zum Erfolg ist immer, es doch noch einmal zu versuchen.' Ich mag solche Sprüche. Vielleicht will ich mir auch so einen kaufen, wenn du mir sagst wo du den her hast."
"War ein Geschenk...", krächzte Fleur, mehr zu sich als zu Sandra. Vielleicht habe ich ja nur das Papier weg geschmissen. Und den Stift vergessen. Kann doch sein. "Du kannst ihn behalten, wenn du willst."
ꕤ ꕤ ꕤ
Fleur klingelte. Stille. Das heißt ihre Eltern waren nicht da. Sie kramte ihren Schlüssel heraus und schloss die Tür auf. Entgegen kam ihr der Geruch von Apfelkuchen. Mit hungrigem Magen schloss sie die Tür hinter sich und lief in die Küche. Tatsächlich. Ihre Mutter hatte Apfelkuchen gemacht. Er war noch warm.
Mit flinken Fingern schnappte sie sich ein Stück und lief damit in ihr Zimmer. Wie am Vorabend schmiss sie ihre Schultasche in eine der Ecken. Auf Hausaufgaben hatte sie jetzt überhaupt keine Lust.
"Rrring!"
Stöhnend machte sie sich auf dem Weg zum Telfon. Manchmal war Aufstehen schwerer als sie zugeben wollte. "Ja?"
"Fleur?", die Stimme ihrer Mutter war am anderen Ende. "Hm?"
"Wie geht's dir?"
"Ganz gut. Wo bist du?"
"Einkaufen. Brauchst du was?" Fleur dachte kurz nach. "Vielleicht Käse. Den, mit Schnittlauch." Dann fiel ihr etwas ein. "Wars das? Ich muss nämlich noch Hausaufgaben machen und... ja..."
Die 16-Jährige wurde schnell unterbrochen. "Ach, gut, dass du mich erinnerst! Beeil dich bitte mit den Hausaufgaben, wie fahren um vier noch zu Tante Beatrice. Sie hat heute Geburtstag und hat uns zum Kaffeetrinken eingeladen."
Innerlich musste Fleur seufzen. Sie hatte darauf echt keine Lust. "Jaha... dann... tschau, ne?"
"Bis bald."
Sie legte auf.
Och verdammt! Muss das sein?! Ich bin nicht in der Stimmung irgendwo hin zu fahren! So langsam es ging schlenderte ich zu meiner Tasche. Kramte in ihr.
Scheiße...
Drei Mal dürft ihr raten, was ich darin zwischen mein Heftern gefunden habe? Genau. Die Scheiße von dem kleinen Jungen. Glatt und ordentlich dazwischen, immer noch leicht nach Minze riechend.
Verzweifelt warf sie die Sachen gegen die Wand, lief wieder hin um sie hoch zu heben, und warf sie anschließend gegen die andere Wand. Sie wiederholte es einige Male, bis auch dieser Vorgang nutzlos erschien. Zeit hatte es trotzdem genug gekostet. Doch die Angst saß immer noch tief in ihr drin. Sie fühlte sich beobachtet, wurde ganz paranoid. So war es nicht gerade wunderlich, dass es ihre erste Entscheidung war, die Jalousien zu schließen.
Wie kann das sein?
Was hat der Junge damit zu tun gehabt?
Ist er vielleicht ein... Zauberer oder so?
Werde ich verrückt?
Ja, ich werde verrückt. Ganz sicher. Ich... ich muss einfach schlafen gehen. Das ist alles. Und dann... dann... wird alles wieder gut...
Plötzlich hielt Fleur inne. So oft hatte man ihr gesagt: "Alles wird wieder gut." Und trotzdem stand sie gestern dort im Wald. Was konnte mit diesem Ding im schlimmsten Fall passieren? Sie töten? Dass ich nicht lache... "Nimm es einfach. Ist immerhin besser als sich verrückt zu machen." Alleine schon, dass sie mit sich selbst sprach, bestätigte bloß ihre Vermutung: Sie wurde wohl oder übel verrückt.
Plötzlich ertönte ein Klimpern. Schlüssel klimperten in der Tür. Na toll.
Die Tür im Flur ging auf und zu. Schritte ertönten. Fleur's Tür wurde aufgerissen. "Komm, zieh dich an!" Und schon war der Kopf ihrer Mutter verschwunden. Fleur rappelte sich auf, schob die Blätter zusammen und legte sie unter den Teppich. "Ich komme."
Sie saßen zu dritt im Auto. Frau und Herr Chandonnet saßen vorne, ihre Tochter hinten. "Merkel und ihre ganzen Flüchtlinge können sich ruhig verpissen. Wir haben schon genug Kriminalität hier", beschwerte sich Fleur's Vater laut. Das Radio berichtete von einem Übergriff auf eine Frau, vermutlich ein Syrier.
Ganz genau, weil es vorher ja nie Übergriffe in Deutschland gab oder gibt.
"Die Eltern können ihre Kinder kaum mehr hinaus lassen", schloss sich ihre Mutter an, "ich trau mich ja auch kaum mehr abends raus zu gehen!"
Aber die Asylanten müssen natürlich keine Angst haben, dass ihre Unterkunft von Deutschen abgefackelt wird.
"Ich würde diese Flüchtlinge sofort abschieben, wenn ich es könnte. Wir haben schon genug Probleme hier."
Arrogantes Arschloch.
Sobald das nächste Lied kam - was glücklicherweise nicht Despacito war - konzentrierte sich der Lockenschopf auf eben dieses. Sie schaute aus dem Fenster. Es hatte mittlerweile angefangen zu regnen. Der Himmel war dunkel. Er sah bedrohlich aus.
Das Auto hielt an, Fleur sprang als erstes raus, kalte Abendluft schlug ihr erfrischend ins Gesicht. Zusammen mit ihren Eltern trat sie raus.
"Alles Gute zum Geburtstag, Bea!" Fleur's Mutter umarmte ihre Schwester, ihr Vater schenkte die Blumen und den Umschlag und Fleur bekam rechts und links ein Küsschen, während sie lächelte und selbst ein schüchternes "Alles Gute" hervorbrachte. Es roch köstlich und Fleur verschwendete nicht einen einzigen Gedanken an ihre Figur beim Essen.
Nach dem Essen durfte sie von der Küche ins Wohnzimmer ziehen und sich ein bisschen durch das Fernsehprogramm zappen. Als sie sich nach hinten auf's Sofa fallen ließ, ertönte ein leichtes Knistern aus ihrem Po. Erschrocken griff sie ihn ihre hintere Hosentasche und zog einen Brief raus. Einen nach Zimt riechenden Brief.
Fühlt es sich so an, wenn jemand dir die Kehle zuschnürt...?
Sie hob den Brief langsam und mit zitternden Händen wieder auf.
Es muss eine logische Erklärung hierfür geben. Es muss-...
Sie spürte den Stift im Umschlag. Sie zog ihn vorsichtig raus, ebenso das Briefpapier und bemerkte ein weiteres Papier. Es war das Papier mit der Beschriftung! Hastig nahm sie sich diesen Zettel und bereute sofort ihn nicht direkt am Anfang gelesen zu haben. Die Buchstaben brannten sich in ihre Augen, diese schnörkeligen, violetten Buchstaben und der Geruch von Minze drang so intensiv in ihre Nase, dass sie kurz fürchtete zu ersticken.
Liebe Fleur Chandonnet,
Alles scheint verloren, doch fürchte dich nicht: Denn wir haben deine Schreie erhört, dein Flüstern vernommen und dein Wimmern gespürt.
Diese Welt trägt Leid in sich und niemand will dich von deiner Entscheidung abhalten. Wir wissen, dass du an deine Liebenden gedacht hast, doch dies die einzige Art des Daseins ist, die für dich in Frage kommt.
Doch glaube mir, ich weiß wie es ist, jemanden vom einen Tag zum anderen zu verlieren. Es tut weh, es zerdrückt mein Herz mit Kummer und Sorgen.
Bitte gehe nicht. Nicht - ohne dich vorher zu verabschieden. Diese Briefe sind etwas ganz Besonderes - ich habe sie selber gemacht - extra für dich. Bitte nutze sie.
Bitte verabschiede dich von deinen Liebsten und lasse ihnen einen Teil deiner Seele für immer auf Erden. Verewige deine Seele auf den Blättern Edens - und schreibe deine Seelenbriefe.
Untertänigst,
Enzian
(2.365 Wörter)
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