Erst Morgen
Eine gefühlte Ewigkeit saß ich in dieser dunklen Gasse und versuchte mich wieder zu beruhigen. Meine Wange und mein Bauch taten unfassbar weh und ich hatte Mühe mich nicht zu übergeben. Die Kiste immer noch an mich gedrückt, stand ich nach etwa 10 Minuten mit zitternden Beinen auf. Den etwas schwankenden Boden ignorierte ich und ging vorsichtig, schritt für schritt, wieder hinaus auf die Hauptstraße. Langsam machte ich mich mit vielen Umwegen auf den Weg nach Hause. Ich kreuzte eine gute halbe Stunde durch die halbe Stadt, bevor ich es wagte nach Hause zurückzukehren. Es war inzwischen dunkel geworden, was es nicht gerade besser machte. Als ich vor der Tür stand atmete ich einmal tief durch, straffte meine Schulter und strich mir meine Haare so ins Gesicht, dass man den Bluterguss auf meiner Wange nicht sofort sah. Ich brauchte drei Anläufe, bis ich endlich den Schlüssel ins Schloss bekam und aufschließen konnte. Noch bevor ich eintreten konnte kam Jack durch den Flur auf mich zugelaufen.
"Nana! Wo warst du? Ich hab mir Sorgen gemacht." fragte er mit besorgter Stimme. Ich hielt meinen Blick gesenkt, schloss die Tür hinter mir und streifte die Schuhe ab. Die Kiste hatte ich mir unter den Arm geklemmt.
"Tut mir leid. Ich hab die Zeit vergessen." entschuldigte ich mich und schob mich an ihm vorbei in Richtung Badezimmer.
Dort angekommen stieß ich zitternd die Luft aus. Ich musste mich beruhigen. Er sollte nicht wissen, was passiert war. Mein Bauch schmerzte bei der kleinsten Bewegung und die Innenseite meiner Wange war wund und aufgeschürft. Langsam hob ich den Blick und betrachtete mein Gesicht. Meine Wange war inzwischen dunkelrot und teilweise blau. Noch dazu war sie ziemlich angeschwollen. Verdammt. Sowas kann man schlecht vertuschen. Selbst mit Schminke wird man es noch sehen. Mein Blick rutschte zu meinen Augen. Was zur Hölle?! Irritiert blinzelte ich ein paar Mal und beugte mich etwas vor. Meine Seele schimmerte... Silber?! Nur um sicherzugehen, dass ich mich nicht irrte rieb ich mir einmal über die Augen und sah erneut hin. Das Silber blieb. Wie ein leichter Schleier überzog es glänzend meine sonst so weiße Seele. Auch waberte sie nicht mehr so schwerfällig vor sich hin, wie Honig, sondern wirkte... lebendiger. Ich verstand gar nichts mehr. Was zum Geier passierte hier? Ich habe doch nur einen Jungen mit einer schönen Selle bei mir einziehen lassen und jetzt werde ich von einer merkwürdigen Organisation verfolgt und zu allem Überfluss auch noch Silber! Das Beste von allem war natürlich, das ich noch nie jemanden mit einer Silbernen Seele gesehen habe. Nicht mal den kleinsten Klecks. Die Farbe Silber gab es in den Seelenfarben nicht. Wenn ich genau darüber nachdenke, hatte ich außer Jack, noch nie jemanden mit einer Goldenen Seele gesehen. Ein klopfen an der Tür riss mich aus meinen Gedanken.
"Nana? Alles in Ordnung?" drang Jacks Stimme gedämpft durch das Holz. Schnell drückte ich die Toilettenspülung und machte den Wasserhahn an.
"Ja ja. Ich komme gleich." rief ich und warf einen letzten Blick auf meine nun leicht Silberne Seele, bevor ich mir wieder die Kiste schnappte und die Tür öffnete. Als Jack mein Gesicht sah, schnappte er erschrocken nach Luft und trat einen Schritt zurück. Mist. Das hatte ich komplett vergessen zu überschminken.
"Nana... was ist passiert?" fragte er entsetzt, nahm mein Gesicht vorsichtig in seine Hände und drehte es in das Licht der Badezimmerlampe.
"Ist nicht so schlimm." lehnte ich ab, doch als er mit seinem Daumen über den Bluterguss strich, zuckte ich vor Schmerz zusammen.
"Nicht so schlimm? Erzähl doch keinen Scheiß, Nana." meinte er wütend und zog mich in die Küche. Dort holte er aus der Tiefkühltruhe etwas Eis, wickelte es in ein Handtuch und drückte es sachte auf meine Wange. Dabei sah er mich die ganze Zeit streng an. Ich wich seinem Blick aus strich mit meinen Fingern über die gravierten Vögle auf der Kiste.
"Bitte Nana, sag mir was passiert ist." bat er mit sanfter Stimme.
Wenn ich ihm nicht die Wahrheit sagen kann, dann denke ich mir eben einfach etwas aus.
"Ein Betrunkener ist durchgedreht." log ich und hoffte, dass es funktionierte. Offensichtlich nicht, da Jack seinen Kopf schräg legte und mit hochgezogenen Augenbrauen nachhackte.
"Verstehe. Ein Betrunkener ist durchgedreht." wiederholte er und seine Stimme triefte nur so vor Sarkasmus. Mit meinem Blick fing ich an nach Nemesis zu suchen. Wo sie wohl war? Ob sie wohl gerade schlief? In mir keimte der Wunsch auf, sie würde Jack in sein Bein knabbern, damit ich mich verdrücken konnte.
"Nana. Sieh mir bitte in die Augen und sag die Wahrheit." bat er erneut mit sanfter und doch bestimmter Stimme, während er meinen Kopf am Kinn in seine Richtung drehte. Jetzt starrte ich ihm auf dir Brust. Mir war noch nie aufgefallen, wie muskulös er eigentlich ist. Wie es sich wohl anfühlen würde, mit den Fingern die Muskeln nachzuzeichnen?
Halt! Was denke ich hier gerade? Seit Jahren gehen mir Jungs am Arsch vorbei. Warum denke ich jetzt nur so viel über sie nach? Beziehungsweise über Jack. Lag es daran, dass meine Seele nicht mehr farblos war?
"Bitte Nana. Erzähl mir, was passiert ist." drang Jacks Stimme wieder zu mir durch und warf mich zurück in das hier und jetzt. Was sollte ich denn jetzt machen? Lügen funktionierte nicht, also...
"Hier. Für dich." sagte ich schnell und hielt ihm die Kiste mit den Vögeln hin.
Überrascht und verwirrt nahm er reflexartig die Kiste an und warf mir einen fragenden Blick zu. Ich nahm ihm das Eis ab und sah ihn abwartend an.
"Sag mal Nana... willst du mich etwa ablenken?" fragte er verärgert und warf mir einen mahnenden Blick zu. Ich schluckte.
"Hör zu Jack." fing ich an. "Ich kann dir nicht sagen, wer mich angegriffen hat und es ist auch nicht so schlimm. Ich habe heute den ganzen Tag damit verbracht das perfekte Geschenk für dich zu finden." Ich zeigte auf das Kästchen. "Bitte tu mir den gefallen und vergiss für heute Abend meinen jetzigen physischen Zustand. Mach einfach das Geschenk auf, ja?"
Unschlüssig wanderte sein Blick zwischen mir und der Vogeltruhe in seinen Händen hin und her, bevor er seufzend aufgab.
"Also gut." stimmte er meiner Bitte zu. "Aber Morgen werde ich das nochmal aufgreifen, verstanden?"
"Ja ja. Verstanden." meinte ich Augenverdrehend, nahm ihn an der Hand und zog ihn ins Wohnzimmer. Dort drückte ich ihn auf das Sofa und setzte mich neben ihn. Aufgeregt beobachtete ich ihn, wie er die Kiste von allen Seiten musterte. Wieder diese Schmetterlinge. Gott, gingen die mir auf die Nerven. Oder war es vielleicht eine Nachwirkung des Faustschlags in den Magen? Langsam öffnete er den Deckel und lugte in den Inhalt des Kästchens. Bei dessen Anblick weiteten sich seine Augen überrascht und ein "Wow..." entwich seinen Lippen.
Vorsichtig nahm er den Bernstein an der goldenen Kette heraus und drehte ihn im Licht. Dabei fiel ihm die Blüte im Inneren auf und seine Augen glitzerten begeistert.
"Nana... der ist wundervoll..." sagte er und drehte sich zu mir um. "Vielen, vielen Dank." Sein Gesicht strahlte glücklich, während seine Seele ausgelassen schlummerte und tanzte. Es erinnerte mich etwas an eine Discokugel. Während mich sein Gold nahezu blendete, schlug mein Herz wie verrückt.
Was ist hier los? Hatte ich gerade einen Herzinfarkt?!
Sachte strich er mit seinen Fingerspitzen über den glatten Stein. Unbewusst umschlossen meine Finger den Opal, den ich von ihm bekommen hatte. Direkt unter meinem Anhänger konnte ich mein Herz wild gegen meine Rippen schlagen spüren und in meiner Brust flatterte es aufgeregt. Langsam fing das alles an mir Angst zu machen. Diese vielen Gefühle ohne zu wissen, was sie bedeuten war... furchteinflößend. Und trotzdem lag auf meinen Lippen ein überglückliches Lächeln. Ich verstand das alles nicht. Konnte mir nicht mal endlich jemand sagen, was hier eigentlich los war? Ich hatte das Gefühl zu fallen... den Halt zu verlieren. Mein ganzes Leben geriet ins Wanken. Das Zimmer verschwamm. Einzig allein Jack konnte ich gestochen scharf sehen. Ich beobachtete ihn, wie er sich die Kette anlegte und den Anhänger glücklich grinsend zwischen seinen Fingern hin und her drehte. Mein Atem ging unregelmäßig und schnell. Ich fühlte mich glücklich wie noch nie und doch verunsichert und ängstlich. Während ich Jack weiter beobachtete, blitzten vor meinem inneren Auge immer wieder Bilder von ihm auf. Er lächelte auf jedem und in mir keimte der Wunsch auf, ihn nie traurig, sondern nur lachend zu sehen. Aber woher kam dieser Wunsch? Ich hatte doch noch nie richtige Wünsche gehabt. Warum? In meinen Ohren rauschte es und ich kam mir vor, als wäre ich auf einem Fischerkahn während eines wilden Sturmes. Hatte ich etwa einen Kreislaufkollaps oder gab mein Herz tatsächlich seinen Geist auf?
"Hey, Nana? Alles in Ordnung? Du siehst so blass aus?" drang Jacks Stimme wie durch eine dicke Watteschicht zu mir durch.
Ich brauchte etwas, bis ich den Sinn hinter diesen Worten verstanden hatte.
"J-ja... alles Ok." gab ich stockend von mir und schloss für einen Moment meine Augen. Ich musste mich zusammenreißen. Tief ein-und ausatmen. Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich direkt in Jacks bernsteinfarbene Augen. Etwas erschrocken zuckte ich zurück. Jack hatte sich zu mir herübergebeugt und musterte mich nun besorgt.
"Sag mir bitte Bescheid, wenn es dir nicht gut geht, ja?" sagte er und sah mich bittend an.
Mein Herz raste wieder auf 180 und meine Gedanken lähmte ein dichter Nebel in meinem Kopf.
"Ich... also...ja, mach ich." stammelte ich und wich seinem Blick aus. Um überhaupt irgendetwas zu tun, außer seiner Körperwärme zu spüren, fummelte ich etwas am Eis herum und drückte es wieder auf meine Wange. Jack lehnte sich nach kurzem Zögern wieder an die Kissen und Nemesis gesellte sich zu uns. Mit schräg gelegtem Kopf musterte sie erst mich, dann Jack streng, bevor sie etwas beleidigt mauzte und während ihr Schwanz verärgert auf und ab schlug. Das Violett in ihrer Seele pulsierte wütend. Ich warf Jack einen fragenden Blick zu.
"Hat Nemesis schon ihr Abendessen bekommen?"
Erschrocken sprang er auf und lief schnell in die Küche. Nemesis sah mich einen Augenblick lang an, bevor sie ihm nachjagte. Ich machte mich derweil erneut auf den Weg ins, doch dieses Mal um zu duschen und mich Bettfertig zu machen. Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, zog ich mir meine Sachen aus und betrachtete den Faustgroßen dunkelblauen Fleck auf meinem Bauch. Als ich sachte mit meinen Fingern darüber strich, durchzuckte mich ein stechender Schmerz. In meinem Medizinschränkchen musste es doch irgendwo eine Salbe oder so geben. Ich kramte eine Weil, doch beförderte letztendlich das kleine Döschen aus den Tiefen des Schrankes hervor. Flott duschte ich und schmierte mir dann etwas von der Salbe auf den Bluterguss. Einen Moment stand ich dort nackt im Bad und betrachtete mein Gesicht im Spiegel. Der Opal an meiner Kette glitzerte mysteriös im Licht des Badezimmers. Was genau hatte Jack damals eigentlich mit der Kette gemacht? Ich beugte mich etwas nach vorne und drehte an der Kette auf der Suche nach dem Verschluss. Aber da war keiner. Die Kette bestand nur aus den Silbernen Kettengliedern. Ein Verschluss gab es nicht. Dabei war, als ich sie das erste Mal in der Hand gehabt hatte, definitiv einer dabei gewesen. Ich zerbrach mir noch etwas den Kopf darüber, beschloss es aber wegen meines dröhnenden Kopfes auf morgen zu verschieben. In ein Handtuch gewickelt lief ich schnell in mein Zimmer und zog mich um. Dabei konnte ich hören, wie Jack in der Küche mit Nemesis redete. Ich habe ihn schon mehrfach gesagt, dass sie ihn nicht verstehen kann, aber er ist der festen Überzeugung, dass das nicht der Fall ist. Seufzend schlurfte ich in die Küche, um ihm Bescheid zu geben, dass ich jetzt schlafen ging. Die Ereignisse des Tages waren mehr als ermüdend. Jack fragte mich, ob ich denn gar nicht zu Abend essen wollte, doch tatsächlich hatte ich keinen Hunger. In meinem Bett liegend starrte ich an die Decke und dachte an den Zungenmann. Wer oder was war diese Organisation? In was für einer Beziehung standen sie zu Jack? Ich warf einen Blick auf meine Wecker. Schon nach Mitternacht.
Egal. Morgen war Sontag.
Mein Blick wanderte zum Fenster. Die Sterne am Himmel funkelten und der Mond schien in einem hellen Silber.
Silber...
Ein klopfen an meiner Tür riss mich aus meinen Gedanken.
Die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet und Jack steckte seinen Kopf hinein. "Nana?"
Ich setzte mich etwas auf. "Was ist denn?"
Nun zog er die Tür etwas weiter auf. In seinen Haaren glitzerten noch ein paar Wassertropfen und außer einem Shirt und einer Boxershorts trug er nichts. Unbehaglich kratzte er sich am Nacken.
"Kann... kann ich heute Nacht vielleicht bei dir schlafen?"
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