50 - Wie alles begann
Fünf Wochen zuvor:
Ein rothaariges Mädchen betrat das Chatter. Im ersten Moment dachte ich, sie würde mir noch den ganzen Boden versauen. Dann fiel mir ihre vom Regen durchnässte Kleidung auf, die gar nicht aufhören wollte zu tropfen und ihr gedankenversunkener Blick, mit dem sie alles zu mustern begann.
Kauend auf einem Erdbeerkaugummi schniefte ich: "Hey Kleine! Die Bar hier ist nur für Ältere!"
Kaum hatte sie mich gehört, wollte sie auf der Stelle kehrtmachen. Wieso diese Verklemmtheit? Aber ich schob meine direkte Art zur Seite, um sie zum Bleiben zu zwingen. Es bestand schließlich die Möglichkeit auf ein wenig Aktion an diesem ruhigen Sonntag. Zu gerne wüsste ich, was sie hier verloren hatte. Niemand, der so aussah und wirkte, würde diese Bar freiwillig betreten. Nie im Leben.
Sie war ein zartes Püppchen inmitten des dunkelsten, angsteinflößensten Ortes der Erde.
"Das war nur ein kleiner Scherz von mir! Aber ganz ehrlich. Du scheinst nicht sehr viele Erfahrungen gemacht zu haben, was so eine Art von Schuppen angeht."
Schnell schüttelte der Rotschopf mit dem Kopf. Hatte sie keine Stimme?
In bunten Kleidern kam sie mir zur Bar gehumpelt, während ich weiter die Gläser abtrocknete und sie abwertend beobachtete. Sie konnte hier definitiv niemanden aus ihrem Freundeskreis erwarten, so wie sie alles mit skeptischem Blick begutachtete.
"Hey! Mal Lust meine Karaoke-Bar auszuprobieren? Dann kannst du dich gleich auf die nächsten Abende vorbereiten, wenn du dich auch traust wiederzukommen", lud ich sie ein, damit sie endlich etwas lockerer wurde. Ich wollte sie nicht aus dem Chatter vertreiben, aber wenn sie hierbleiben wollte, musste sie dringend lockerer werden.
"Nein danke", sprach sie nun zu mir. Sie hatte ja doch eine Stimme.
"Oder du schließt dich denen an." - Ich deutete auf die beliebte Clique der High School. Sie waren das genaue Gegenteil dieses zarten Blümchens. Eigentlich hätte ich mich schlecht fühlen müssen, weil ich sie zu denen stecken wollte, zu Lederjacken und kurzen Röcken, zu Zigaretten und Alkoholflaschen am Mund. Aber ich tat es nicht. Sie würde schon nicht verkorkst werden.
"Sind die denn cool drauf?", wollte sie wissen.
"Ob die cool sind", wiederholte ich amüsiert. Das war die dämlichste Frage, die ich jemals zuvor gehört hatte. Sie musste entweder neu in der Stadt sein oder sie hatte bisher auf dem Mond gelebt.
Ich lachte kurz auf und fügte dann hinzu: "Natürlich. Sie sind die beliebtesten Schüler auf der gesamten High School." - Irgendjemand musste sie ja früher oder später aufklären und sie mit der Clique bekannt machen.
"Siehst du die da? Die mit den blonden, gelockten Haaren? Das ist Cathrin o'Blair. Das angesagteste Girl auf der Schule. Es heißt, sie wäre mit jedem Typen der Schule schon mindestens einmal ausgegangen. Obendrein ist sie auch noch Cheerleading Captain der Footballmannschaft, weswegen sie alle Jungs nur so umschwärmen."
Schnell fing das fremde Mädchen an, sie zu mustern. Sollte sie nur machen. Dann konnte sie sich gleich neue Ideen für eine neue Garderobe besorgen.
"Und wer ist das?", fragte sie und deutete auf den Lederjackentypen neben Cathrin.
"Das ist Oliver McKenzie. Das reiche Söhnchen von einem der angesehensten Unternehmern in Amerika und der beste Freund von Cathrin. Sie kommen fast täglich mit ihren Freunden hierher, besorgen sich Alkohol und Drogen und hängen einfach so hier ab."
"Und sie sind schon alle einundzwanzig?"
Ich versuchte mir ein Lachen zu verkneifen. Sobald sie die Worte Drogen und Alkohol hörte, musste sie bestimmt kräftig schlucken, weil diese nicht in ihrem Sprachgebrauch zu finden waren.
"Oh Gott, nein! Oliver ist gerade erst siebzehn geworden und der Rest ist jünger."
"Und woher bekommen sie dann den ganzen Alkohol und die Drogen?"
"Um so weit zu kommen, musst du nur die passenden Kontakte haben. Und wenn du sie dann gefunden hast, stehen dir alle Türen offen", erklärte ich ihr. Nun erschien es mir einleuchtend, dass sie bis jetzt jeglichen Kontakt zu coolen Teenagern verweigert hatte.
"Danke", sagte das Mädchen geistesabwesend, vernarrt in den Anblick der Gruppe am einzig befüllten Tisch der Bar, während draußen der Sturm wütete. Ich fragte mich, was sie wohl gerade denken musste.
Cathrin sah erst mich, dann die Rothaarige an und keine drei Sekunden später hatte sie sich bereits auf den Weg gemacht, um sie wütend an dem kleinen Tisch anzufahren, an dem sie sich kurz zuvor niedergelassen hatte. Nur zu gerne beobachtete ich die Situation, wie auch der Rest der Clique.
"Hey! Bist ja mutig hier einfach so aufzutauchen und uns dann so blöd anzustarren. Glaub ja nicht, ich hätte das nicht bemerkt. Also. Traust du dich?"
"Was?". - Die Kleine sah verwirrt aus. Sie tat mir fast schon leid. Ich fuhr mir kurz durch die pinken Haare.
"Los Cathrin. Flöß ihr das Zeug ein!", kam es vom hinteren Tisch.
"Nimm sie und ich gebe dir einhundert Dollar", sagte sie, als sie ihr ein Päckchen Cannabis in die Hand drückte. Das war besser als im Kino.
"Nein", überraschte mich das Mädchen mit ihrer Antwort: "Das mache ich ganz sicher nicht hier vor allen."
Sieh mal einer an. Die Kleine hatte ja doch was drauf. Und ich dachte schon, sie würde zu allem ja sagen. Nun hatte sie Cathrin ganz sicher verärgert.
"Hast du Angst?", fragte die Blondine, immer noch mit dem Tütchen in der Hand.
"Nein! Ich will's halt nur nicht hier tun!"
"Hör zu!", zischte Cathrin in ihr Ohr. Ich konnte es nur mit etwas Glück verstehen. Wäre heute mehr los gewesen, hätte keine Chance bestanden. - "Siehst du meine Freunde da? Du wirst mir meine Pflichtaufgabe nicht vor denen verhauen! Also nimm sie jetzt einfach! Ist doch nichts dabei. Und mit den 100 Dollar kannst du dir dann auch endlich einen heißen Fetzen kaufen."
In diesem Punkt musste ich Cathrin recht geben. Sie konnte wirklich neue Klamotten gebrauchen, die ruhig etwas enger anliegen könnten.
"Nein!", protestierte ihre neue Feindin: "Ich mache das nicht!"
Daraufhin hörte man einen fluchenden Ton des Mädchens. Fluchen konnte sie also auch. Aber das war auch kein Wunder, so fest wie Cathrin sie im Griff hielt. Ihre Freunde konnten nur darüber lachen.
"Ich würde es nicht einmal für eine Million Dollar tun!"
Kaum waren diese Worte ausgesprochen, ergoss sich Bier über den Kopf der Blondine. Wie erstarrt schaute Cathrin ihr hinterher, wie sie aus dem Chatter stürmte. Und dabei hatte sie noch nicht einmal die Karaoke-Bar ausprobiert.
Aber die kleine hatte Mumm. Das gefiel mir. Es würde mich nicht wundern, sie bald wieder hier begrüßen zu können. Jedenfalls zu einer anderen Besucherzeit, als die von der Clique.
"Sieht wohl so aus, als hätte Cathrin die Pflichtaufgabe verloren", lachte Jay laut auf und empfing somit die wütende Blondine, die sich das klebrige Zeug aus den Augen wischte.
"Halt die Klappe", sagte sie mit überraschend, ruhigem Ton.
"Das klingt nach einer Strafaufgabe", stellte Dan fest und stimmte mit Jay ins Lachen ein.
"Ich lege die nächste Aufgabe fest", meinte Scarlett und machte sich mit ihrer Aussage nicht gerade viele Freunde. Die Situation spitzte sich zu, als sie sich entschieden hatte.
"Ruf Britton an und bestell ihn her. Erzähl ihr von Annas Schuldgefühlen."
Alle Blicke richteten sich auf die Grünäugige. Ich war mir sicher, dass sie sich in diesem Augenblick wünschte, die Worte wieder zurück in ihren Mund schieben zu können, doch dafür war es zu spät. Sie hatte Olivers verletzlichen Teil angesprochen und sich damit gegen Cathrin aufgelehnt.
"Ich mach's nicht, wenn du's nicht willst", sagte Cathrin mit Blick auf Oliver, doch dieser schüttelte mit dem Kopf. - "Mach es. Es gibt da noch diese Sache, die wir klären müssen."
***
Zwanzig Minuten später betrat Olivers Feind den Raum und sah sich verwirrt um. Keiner wollte diese Begegnung erleben, doch gleichzeitig war die Spannung in der Luft gerade zu elektrisiert und spannend, dass man einfach nur Zeuge dieses Ereignisses werden wollte. Es war wie im Wilden Westen. - Die bitteren Feinde waren sich zufällig über den Weg gelaufen. Ein Blick, die Pistole war gezückt und nun hieß es Mann gegen Mann, Tod gegen Leben. Luke musste denken, dass er nun eine Entschuldigung von der Clique zu hören bekommen würde. - Er hatte ja nicht die geringste Ahnung.
"Britton. Wir haben dich schon vermisst. Setz dich", rief Cathrin ihn zu sich. Er kam näher, doch setzte sich nicht hin.
"Was soll die Scheiße, Cathrin? Wieso hast du mich herbestellt?"
"Ich wollte unsere Runde mit ein paar glorreichen Geschichten von dir besonnen. Ach ja, hast du schon von Annas Todesursache erfahren, weshalb sie gesprungen ist? Eigentlich könnte man sagen, es sei deine Schuld."
Lukes Wut platzte förmlich, als er auf Cathrin zu gehen und sie an den Schultern packen wollte. Doch Ethan hielt ihn davon ab und fixierte seine Oberarme so lange, bis dieser sich schließlich losriss, aber Ruhe gab.
"Sag mir, was du damit meinst", befahl Luke und blickte der Blondine düster ins Gesicht.
Sie lachte auf und erklärte ihm alles Schritt für Schritt. - "Anna hatte Schuldgefühle, weil sie die Clique auseinander gebracht hat, in dem sie Oliver und dich verfeindet lassen hat. Außerdem habe ich beiläufig erwähnt, dass du auch vorhattest, sie bald zu verlassen, wie Oliver es getan hat."
"Das ist nicht wahr! Ich hatte niemals vor, sie zu verlassen!"
"Tja, hättest du ihr das nur gesagt, als sie an der Grenze von Leben und Tod stand. Sie ist nur gesprungen, um wieder in die Clique zu kommen, damit wir uns alle wieder näher kommen."
"Das hatte sie ganz sicher nicht vor!"
"Oh doch Britton. Das hatte sie vor. Leider ist ihr Plan misslungen."
Luke versuchte wieder auf sie loszugehen und seiner Wut freien Lauf zu lassen, doch Ethan stoppte ihn erneut. Ich wusste nicht genau, was dort vor sich ging. Ich kannte ihre Geschichte nicht, aber es war trotzdem spannend. Ich hatte längst das Abtrocknen der Gläser aus den Augen verloren.
"Hast du schon von der neuen Fremden in der Stadt gehört, Britton? Ich habe gehört, dass Oliver es bei ihr versuchen will. Es wird sicherlich gelingen, so wie er Anna auch um den Finger gewickelt bekommen hat, bevor du es bei ihr probiert hast."
Ich war mir nicht sicher, ob Cathrin das wirklich mit Oliver abgesprochen hatte oder ob sie sich soeben einfach nur eine nette Geschichte ausgedacht hatte, um ihr Ziel zu erreichen. Aber was genau war ihr Ziel?
Wut entfachte erneut in Luke und er brüllte mit tiefer Stimme: "Nimm das sofort zurück! Es war Olivers Schuld, dass Anna gesprungen ist! Hätte er sie nicht verletzt, wäre das alles niemals passiert!"
"Tja, wie gut, dass er nun eine zweite Chance bei dem neuen Mädchen bekommt, nicht wahr? Es sei denn, du hast vor, ihm diesmal Konkurrenz zu machen."
"Wie meinst du das?", kam es zeitgleich aus Luke und Oliver hervor.
"Ihr beide", sagte Cathrin und schaute die Jungs an: "Werdet eine Wette abschließen, wer sie als Erstes in die Kiste bekommt."
"Was springt für den Gewinner heraus?", fragte Oliver direkt. Luke sah seinen ehemaligen besten Freund wie erstarrt an und sagte dann zu ihm: "Das kann unmöglich dein Ernst sein. Was ist nur aus dir geworden? Seit wann verletzt du einfach so Mädchen?"
"Seit Annas Tod hat sich viel getan", antwortete Oliver auf seine Frage und schaute dann wieder zu Cathrin: "Also, was springt dabei heraus?"
"Der Gewinner bekommt zwei Riesen von uns allen finanziert."
"Ich will euer Scheißgeld nicht", stellte Luke klar und war kurz davor, das Chatter zu verlassen.
"Zweitens darf der Gewinner sich endgültig als offizieller, fester Freund Anna Coopers betiteln und dem Verlierer die ganze Schuld an Annas Tod zuschieben."
"Deal", sagte Oliver und streckte Luke die Hand hin. Luke dachte einen Augenblick fieberhaft darüber nach, bis Aria dann plötzlich hinzufügte: "Es ist nur ein fremdes, verklemmtes Mädchen, das alles leicht verdauen kann."
"Schön. Möge der Bessere gewinnen." - Luke schlug ein und sah seinem Feind direkt in die Augen.
Es war ein Anblick für die Ewigkeit. Niemals hätte ich gedacht, dass Luke sich darauf einlassen würde. Dieses fremde, neue Mädchen in der Stadt konnte sich auf etwas gefasst machen. Und beinah tat sie mir bei dem Gedanken an den Schmerz, den sie bald erleben würde, Leid.
Unterschiedlicher hätten Oliver und Luke nicht sein können, obwohl sie dieselbe Vergangenheit miteinander teilten. Doch einer von den Jungs würde das Mädchen früher oder später fallenlassen, aber zumindest die Wette für sich entscheiden. Und dem Gewinner lag dann endgültig alles zu Füßen. Er hätte alles gewonnen.
"So ist es. Möge der Bessere von uns gewinnen."
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