36 - Der Tag danach

Meine Augen flatterten auf. Es war dunkel. War es noch Nacht? Nein, das konnte nicht sein. Meine Hände wanderten an meine Stirn und prüften, ob ich Fieber hatte. Es fühlte sich jedenfalls so an. Aber das Gefühl war nicht unangenehm. Im Gegenteil. Es war schön.

Ich blickte um mich, bis ich eine Silhouette neben mir ausfindig machen konnte. Lächelnd schmiegte ich mich an diese Gestalt. Ich wollte nirgendwo anders sein als hier bei Luke.

Irgendwie hatte ich in dieser Nacht befürchtet, es wäre nur eine Phase, in der ich verzweifelt versuchte, meine Wut an meinen Eltern zu unterdrücken. Aber ich war umso erleichterter, als mir auffiel, dass es nicht so war. Seit unserem Kuss gestern wusste ich, dass es das Richtige war. Wir gehörten irgendwie auf eine kranke, unerklärliche Weise zusammen.

"Morgen Liebling", drang eine dunkle Stimme durch die Zimmertür hindurch. Auf einmal war ich hellwach. Das war doch Mister Brittons Stimme gewesen! Und das Liebling deutete offenbar darauf hin, dass er nicht alleine im Flur anwesend war.

Ich erinnerte mich daran, was Luke mir über seine Mutter erzählt hatte. Also konnten diese Worte nur an Marilyn oder seine Tante gerichtet gewesen sein. Egal, wer es war. Das einzige, das hier zählte, war doch, dass wir beide nicht unter uns im Haus waren. Wenn nun jemand in das Zimmer gelaufen käme und ihn und mich dicht an dicht sähe... - ich wollte mir das gar nicht ausmalen.

Ich stieg schnell aus dem Bett. Als ich aufrecht stehen konnte, sehnte ich mich zurück nach seiner Nähe und seiner Wärme. Aber ich wollte nicht hier erwischt werden und irgendwie musste ich auch noch den Ausweg aus diesem verflucht großen Haus finden, bevor jemand bemerken würde, dass ich die gesamte Nacht hier verbracht hatte. Darüber hatte ich mir wirklich am wenigsten Gedanken gemacht.

Ich riss den dunklen Vorhang vor dem Fenster auf, um meine Sachen vom Boden aufzusammeln. Zum Glück gehörten dazu nur eine schwarze, kurze Hose und ein rotes Top.

Während ich hinaussah, erkannte ich mein furchtbar aussehendes Zimmer.

"Da hatte wohl jemand letzte Nacht einen Wutausbruch", scherzte jemand hinter mir und folgte meinem Blick. Luke hatte sich von hinten angeschlichen, legte nun seine Arme um meine Taille und küsste mir sanft auf den Hinterkopf.

"Guten Morgen." - Ich drehte den Kopf in seine Richtung und schenkte ihm ein Lächeln. Ihn jetzt so im Hellen zu sehen, war irgendwie merkwürdig. Es wirkte so unglaubwürdig, was letzte Nacht vorgefallen war.

"Die Sonne blendet", beschwerte ich mich und blinzelte zum Fenster hinaus: "Da kann ich leider nichts von meinem Zimmer erkennen."

"Dann lass uns woanders hingehen." - Vorsichtig und langsam zog er mich ein Stück weiter zum Bett, sodass wir stolpernd darauf landeten. Quietschend ließ ich meine Lippen teilen, bis ich mich daran erinnerte, dass ja keiner im Haus wissen sollte, dass ich überhaupt hier war.

"Wir können das hier nicht tun. Marilyn und deine Eltern", erinnerte ich ihn, woraufhin er aufstand und zur Tür ging. Etwas enttäuscht blickte ich hinterher. Ich hätte meinen Mund halten sollen.

Doch anders als erwartet - nämlich, dass er raus spazieren und mich hierlassen würde - schloss er die Tür ab und stürzte sich zurück aufs Bett. Leise lachend erwiderte er: "Besser?" - Seine Stimme schien ziemlich verlockend. Kurz wollte ich vergessen, dass seine Familie da draußen war und mich ihm wie gestern voll und ganz hingeben. Deshalb schob ich den lästigen Gedanken zur Seite und zog sein Gesicht dichter an meines. Seine Haut glänzte schweißgebadet in der Sonne, seine Augen schauten mir begierig von den Lippen bis in die Augen. Wie konnten wir vom Streit gestern nach hierher zu heute gelangt sein? Es schien mir ein einzig großes Rätsel zu bleiben.

Er überzog meinen Hals mit lauter kleinen Küssen. Meinem Mund entflohen mittlerweile kleine, leise Seufzer, bis auf einmal eine bekannte Mädchenstimme dreimal gegen die Tür klopfte und sagte: "Luke, Frühstück ist fertig!"

"Scheiße", fluchte ich leise zwischen uns. Auch Luke zog erschrocken mit dem Kopf zurück und sah Richtung Tür. Zum Glück war sie abgeschlossen. Sonst hätte ich noch beinah einen Herzinfarkt bekommen.

Als wäre es ein Wettbewerb, zogen wir schnell unsere Sachen vom Vortag wieder an und schmiedeten währenddessen einen Plan.

"Sag nichts, ja? Ich regel das", sagte Luke und knöpfte seine Jeans zu. Wäre ich nicht zu sehr damit beschäftigt gewesen, mein Hemd in meine eigene Jeans zu stopfen, hätte ich vielleicht sogar noch einen Blick auf seinen attraktiven Körper erhascht, der unter seinen übernatürlich großen Shirts kaum zur Geltung kam. Es war mir nicht peinlich, dass er mich so sah. Schließlich hatte er mir bereits selbst ein Kleid ausgezogen, als ich betrunken gewesen war und er hatte mich weinend nach Olivers Attacke in Unterwäsche in einer Bar gesehen. Ihm schien es auch nicht peinlich zu sein. Gestern war es einfach zu dunkel gewesen, um irgendetwas von unseren Körpern erkennen zu können. Nur das Gefühl und der Sinn nackter Haut unter den Fingerkuppeln. Daran konnte und wollte man sich einzig und allein festhalten.

Als die Tür aufsprang, pochte mein Herz so wild, als würde ich einen Marathon durch Elizabeth City veranstalten. Was mussten wohl Lukes Eltern denken? Und was würde Marilyn von mir halten, wenn sie wüsste, dass ich schon wieder eine Nacht hier verbracht hatte? Ich hätte doch lieber durch das Fenster hinausklettern sollen. Auch, wenn ich dafür Knochenbrüche einkassiert hätte. Es wäre mir eintausend Mal lieber gewesen, als eine unangenehme Begegnung.

"Morgen", sagte Luke fröhlich, als er dicht gefolgt von mir in die Küche marschierte. Dort waren alle versammelt; sein Vater, seine Tante und seine Schwester. Ihren Blick wollte ich am meisten meiden, doch das klappte nicht so recht, denn ihre blauen Augen zogen mich regelrecht an. Luke erwiderte ihren Blick und setzte bloß ein kleines Lächeln auf. Sie sah so aus, als müsste sie sich das Lachen verkneifen.

Unsicher flüsterte ich ebenfalls: "Guten Morgen, Mister Britton, Marilyn und ..." - Sollte ich sie mit Misses Britton ansprechen?

"Tava. Nenn mich einfach Tava. Na das ist ja eine Überraschung! Luke, du hast gar nicht erwähnt, dass wir Besuch im Haus haben!" - Ihre Blicke fielen auf ihn, doch es war viel mehr ein freundliches Lächeln als ein vorwurfsvolles.

"Hallo! Du musst Jennifer sein. John hat mir schon so viel von dir erzählt!" - Sie umarmte mich freundlich, deren Geste ich nur zu gerne erwiderte. Sie schien sehr gütig zu sein, weshalb ich sie sofort ins Herz schloss. Doch so viel konnte Lukes Vater doch gar nicht von mir erzählt haben. Ich hatte schließlich nicht mehr als ein Hi am ersten Tag in Elizabeth City herausbekommen.

"Bitte, Jenny", korrigierte ich: "Freut mich ebenfalls."

Als sie mich losließ, wandte sich mir auch Mister Britton zu: "Jenny! Hätte nicht gedacht, dich hier zu sehen, jedenfalls nicht bevor deine Eltern und du uns besuchen kommen würdet. Schön dich zu sehen."

Er erwiderte das mit einem kleinen Nicken und sah dann zu Marilyn, die als einzige den Frühstückstisch weiter mit Tellern füllte. - "Hey Marilyn", begrüßte ich sie freundlich. Sie schaute hoch, musste sich bestimmt zusammenreißen, nicht wieder zu lachen und sagte dann: "Hallo. Möchtest du mit uns essen?"

"Nein, nein, ich will keine Umstände machen", lehnte ich freundlich ab, als sie bereits einen weiteren Teller für mich in der Hand hielt. Sie war zu bezaubernd.

"Aber, aber. Du machst doch keine Umstände, Liebes", meinte Tava. - "Und außerdem bist du doch nicht umsonst zu uns gekommen."

Ich wollte mich nur an ihren Sohn ranschmeißen. Von daher war es wohl nicht umsonst. Konterte meine innere Stimme.

"Sie brauchte Hilfe von mir, wegen eines Textes aus Literatur, den sie nicht verstanden hat. Das konnte nicht bis Schulende warten", antwortete Luke. Ich brauchte Hilfe von ihm?! Ich war ja wohl besser in Literatur als er. Darauf musste ich ihn dringend später noch einmal ansprechen.

Er ging zum Kühlschrank, nahm sich die Milch heraus und half Marilyn beim Decken des Tisches.

"Na, wenn's so ist, musst du auf jeden Fall bleiben und von diesem Text erzählen", sagte sein Vater.

"Na schön, sehr gerne, danke", gab ich schließlich nach und begleitete Tava und ihn zum Tisch. Ich bekam den Platz an der Stirnseite. Es schüchterte mich irgendwie ein, auch wenn ich nichts zu befürchten hatte.

Marilyn saß direkt neben mir und lehnte sich etwas weiter in meine Richtung, um mir etwas zu zuflüstern: "Ich bin froh, dass Luke dich gefunden hat." - Für diese Worte musste ich sie einfach lieb haben. Es waren die schönsten seit langem. Doch anscheinend hatte sie unsere letzte Nacht durchschaut. Sie hatte ja auch nur ein Zimmer entfernt geschlafen. Oje, sollte ich sie fragen, ob wir sie wachgehalten hatten?

Ich entschied mich dagegen, als sich alle Augen auf mich richteten. Lukes sanfte Blicke beruhigten mich am meisten und sprachen mir Beistand zu.

"Also. Wie gefällt es dir denn so auf der High School und in Elizabeth City generell?" - Tava reichte mir den Brötchenkorb, aus dem ich dankend eines der warmen Gebäcke nahm.

"Sehr gut. Ich hab' schon viele Leute kennengelernt und mit den Lehrern komme ich auch ganz gut zurecht. Ich hatte vorher nur Onlineunterricht. Und Elizabeth City ist auch eine ganz nette Stadt."

Mehr wusste ich nicht zu sagen. Die ganzen anderen Erfahrungen, die ich bislang hier gesammelt hatte, waren nun einmal alles andere als positiv gewesen.

"Wird man da nicht verrückt bei so viel Onlineunterricht?", wollte John wissen. Früher wäre meine Antwort darauf wohl nein gewesen, aber heute dachte ich anders darüber.

"Ja. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, glaube ich schon, dass es mich allmählich von der Realität ferngehalten hat."

"Na, wie gut, dass du jetzt hier bist", lachte Tava und schmierte sich nebenbei Butter auf ihre Laugenbrezel.

Lächelnd sah Luke mich an. Er strahlte Stolz aus. Stolz auf mich? Am liebsten wäre ich mit ihm zurück in sein warmes Bett gekrochen.

Nach dem Frühstück half ich Marilyn und Luke beim Abräumen, obwohl Tava es mir verboten hatte. Aber ich konnte es einfach nicht mitansehen, wie sie mein dreckiges Geschirr entsorgten.

Marilyn spülte das Geschirr, ich trocknete es daraufhin ab und Luke sortierte es zurück in den Schrank. Ich wusste zwar nicht, weshalb sie sich mit der Hand bemühten, wo sie doch eine Geschirrspülmaschine besaßen, aber eigentlich machte es so mehr Spaß. Und ich fand endlich ein wenig Zeit, mich mit Marilyn zu unterhalten.

"Ich habe dein Buch angefangen", erklärte ich ihr: "Es ist wirklich gut."

"Freut mich", strahlte sie über das ganze Gesicht. Ihre kleinen Wangengrübchen versüßten meinen Tag ein wenig mehr.

"Und du willst es wirklich nicht zurück haben?", ging ich auf Nummer sicher.

"Ja, ganz sicher. Ich hab' es bestimmt schon einhundert Mal gelesen. Das macht überhaupt nichts."

Wie konnte ich diesem Sonnenschein nur jemals ein Glas Wasser über den Kopf geschüttet haben? Ich bereute es immer noch aus tiefstem Herzen.

Zwei nasse Hände schlangen sich um meinen Bauch. Protestierend riss ich die Arme hoch. Das Handtuch aus meiner Hand fiel dabei zu Boden.

"Du hast das Geschirr nicht richtig abgetrocknet. Es ist noch ganz nass", nuschelte Luke mir ins Ohr und legte dabei sein Kinn auf meine Schulter. Er schaute dabei zu, wie ich Teller für Teller weiter abtrocknete.

"Na, dann bring es her. Dann wisch' ich es nach."

Er lachte leise und zwinkerte dann kurz. Holte dann aber tatsächlich jedes einzelne Geschirr wieder zurück. Ich konnte mir vorstellen, dass er mich damit ärgern wollte.

"Mein Bruder hat eine Freundin", lachte Marilyn leise, schaute dabei aber nicht vom schaumigen Wasser hoch. Zum Glück waren Tava und John nicht in nächster Nähe, sodass ich mich mit ihr austauschen konnte, ohne dass es mir peinlich sein musste.

Daran musste ich mich erst noch gewöhnen. Lukes Freundin. Waren wir denn nun fest zusammen? Hatte diese Nacht etwas zu bedeuten? Ich musste dringend mit Luke darüber sprechen, aber vielleicht erst, wenn ich mir selbst erst einmal darüber im Klaren war, ob ich so empfand und ob ich es überhaupt wollte.

"Wir sollten los", sagte Luke, als er gerade dabei war, fünf Gläser in einer Reihe auf der Arbeitsplatte aufzustellen. Im Sonnenlicht glitzerte das Wasser noch am Glasrand. Ich war wirklich nicht die talentierteste Abtrockenerin.

"Ich mach das nur noch schnell fertig", meinte ich und wollte mir schnell noch die Gläser schnappen, aber Marilyn kam mir zuvor. - "Ist schon in Ordnung. Ich mach' das für dich. Du hast schon genug getan. Geht schon. Habt einen schönen Tag."

"Aber du musst doch auch los", konterte ich, aber sie schüttelte bloß leicht mit ihren schwarzen Haaren. - "Ich hab' später Schulanfang auf der Elementary School. Ich muss ja schließlich noch etwas bis dahin zu tun haben."

Ihr Lächeln war ansteckend. Nur schwer gab ich nach und bedankte mich bei ihr. Dann ließ ich mich von Luke mitziehen, hinein in seinen Pick-up und auf zur Schule.

Erst auf dem Weg dorthin fiel mir ein, dass meine Eltern sich wohl schon fragen mussten, wo ich steckte. Schließlich war ich am Morgen nicht da gewesen. Doch es beruhigte mich, als ich mich daran erinnerte, dass sie mir sicherlich Freiraum lassen wollten und noch nicht nach mir gesehen hatten. Die Wut auf sie entfachte langsam wieder.

"Was ist los?", bemerkte Luke meinen verbitterten Blick. Er legte beunruhigt eine Hand auf meine.

"Ach nichts. Es ist nur-." - Wie konnte ich es ihm am besten erklären, was vorgefallen war?

"Geht es um den Grund, weshalb du gestern zu mir gekommen bist?" - Seine Augen begannen mich intensiv zu mustern. Ich konnte ihn allerdings nicht anschauen. Dann würden mir wieder die Tränen in die Augen drängen.

"Ja. Meine Eltern. Sie haben mir gestern Abend gesagt, dass wir Zuwachs bekommen. Das ist der einzig große Faktor dafür, dass wir umgezogen sind, ohne dass sie mich vorher aufgeklärt haben. Sie haben mich belogen und mich nicht einmal nach meiner Meinung gefragt."

"Aber das sind doch gute Neuigkeiten! Sei nicht böse auf sie. Ihnen ist es sicherlich nicht leicht gefallen, es dir zu sagen."

"Ja, vielleicht", grübelte ich abwesend. Ich wollte mich jetzt nicht mit diesem Thema befassen und die gute Stimmung im Auto zerstören, also ließ ich mich auf neuen Gesprächsstoff ein, als wir am Ziel ankamen.

"Also ich hab' gehört, ich bräuchte deine Hilfe für Literatur?", zog ich den Braunschopf auf, als wir die Stufen zur Schule hinaufstiegen.

"Mir ist nichts Besseres auf die Schnelle eingefallen. Stimmt es etwa nicht?" - Er grinste frech, sodass ich ihm kurz in die Seite boxte.

"Wirst du gleich sehen", meinte ich und ging in den Vorleseraum vor.

Der Tag konnte nicht mehr besser werden. Erst Luke und ich. Jetzt Literatur. Ich schwebte wirklich auf Wolke sieben.

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