33 - Angsterfülltes Trauma
Wenn Luke glaubte, er könnte mir sagen, was ich zu tun hatte, dann hatte er sich gewaltig geirrt. Das hatte ich ihm schließlich gestern schon versichert und daran hatte sich auch nichts geändert. Unser Friedenspakt konnte daran rein gar nichts ändern.
Nachdem ich mich für ein schlichtes rotes Kleid entschieden hatte, das mir bis zum Knie reichte und ich meine Haare ordentlich von Kletten befreit hatte, war es bereits eine halbe Stunde nach neunzehn Uhr. Ich hatte mich sogar noch extra für den heutigen Anlass extravagant geschminkt, was mich viel Zeit gekostet hatte. Im Nachhinein ärgerte ich mich darüber, dass es reine Zeitverschwendung war, da ich in meinem Gesicht kaum einen Unterschied zu vorher vorfand.
Ich lauschte still an der Zimmertür und prüfte, ob meine Eltern außer Reichweite waren. Zum Glück hielten sie sich gerade im Keller auf, wo meine Mom sich darüber aufregte, dass die Garantie des kaputten Trockners so gut wie abgelaufen war.
Ein Blick hinaus zum Fenster versicherte mir, dass Luke mich nicht schon wieder auf Schritt und Tritt verfolgte. Ich hatte sogar das Licht in meinem Zimmer ausgelassen, damit ich komplett in der Dunkelheit untertauchen konnte.
Als die Luft schließlich rein war, öffnete ich vorsichtig die Tür, schlüpfte hindurch und schritt die Treppen ebenso leise hinunter. An der Haustür angekommen steckte ich mir noch den Haustürschlüssel in die Tasche und hoffte sehnlichst, dass meine Eltern das Verschwinden des Schlüsselbunds nicht bemerken würden.
Als ich draußen angelangt war, fluchte ich leise. Sie würden es ganz sicher merken, dass die Schlüssel fehlten und dann würden sie entdecken, dass ich nicht mehr da sein würde. Also steckte ich ihn zurück an seinen Platz und ließ die Haustür unverschlossen.
Am Chatter angelangt dröhnte wieder die schreckliche Musik in meine Ohren. Es war irgendein im Gleichtakt klingender Techno-Song, der sicherlich nicht die Chance darauf hatte, mir einen Ohrwurm zu verpassen, geschweige denn mir überhaupt im Gedächtnis zu bleiben.
Ich quetschte mich durch die tanzende Menge. Dabei hatte ich mir vor einigen Stunden genau das richtige Bild der ganzen, tanzenden Leuten vorgestellt. Ich hätte schwören können, dass irgendjemand seinen Drink auf mir vergoss, doch ich fand keine Gelegenheit, diese Vermutung zu überprüfen.
"Hey Jenny", begrüßte mich Dan und lächelte mir freundlich zu, als ich bei der Clique angelangt war.
"Hey", antwortete ich und suchte mit meinen Blicken nach Oliver, den ich erst kurze Zeit später sah. Zusammen mit Cathrin. Sie saß mit ihrem Rücken angelehnt an Oliver auf einer roten Couch. Die Wut fing in mir an aufzulodern und ich hatte ein ganz schlechtes Gefühl, was diesen Abend anging. Mittlerweile wünschte ich ernsthaft, ich hätte auf Luke gehört und wäre nicht gekommen.
"Baby." - Oliver stand auf und kam zu mir, um mich daraufhin fest in den Arm zu nehmen. Als er mich wieder losließ, fügte er hinzu: "Wie schön, dass du gekommen bist. Wir wollten gerade Wahrheit oder Pflicht spielen."
Na toll! Was hatten die bloß für ein Problem mit diesem Spiel?
Ich schaute zu Cathrin, die mit hochgezogener Augenbraue und selbstgefälligem Lächeln immer noch dort saß und mich mit ihren Blicken herausforderte.
"In Ordnung", sagte ich und setzte mich zu den anderen. Alle hielten wieder die roten Plastikbecher in ihren Händen und schenkten sich alle fünf Minuten großzügig nach. Anhand der Flaschenform und der Farbe des Etiketts befürchtete ich, dass der Alkohol hoch konzentriert war.
Auf die Frage: "Wer beginnt?", von Ethan hatte er das große Vergnügen selbst.
"Oliver", fing er an. Die Runde war wie erstarrt und alle Augen waren auf ihn gerichtet: "Wahrheit oder Pflicht?"
Oliver musste nicht lange nachdenken, um zu antworten: "Pflicht."
"Okay. Du musst Cathrin für zehn Sekunden küssen."
Mein Herz blieb stehen. Das würde er nicht wagen...
"Wenn's weiter nichts ist", sagte Oliver gelassen und bückte sich zu Cathrin hinüber, die bereits ihre Lippen für ihn spitzte. Die Vorstellung, dass mein fester Freund und meine Erzfeindin sich küssen würden, versetzte mir einen schweren Stich ins Herz.
Bevor ihre Lippen sich berühren konnten, schaute Cathrin triumphierend zu mir und wollte bestimmt auf nur mal sicher gehen, dass ich ihre abscheuliche Revanche mit eigenen Augen mitverfolgen würde.
Lächelnd trafen ihre Lippen aufeinander und mir wurde augenblicklich speiübel. Wie konnte er es nur wagen, sie zu küssen, wo wir doch in einer Beziehung waren?!
Die vorgegebenen zehn Sekunden fühlten sich wie zehn Stunden an oder noch besser, wie zehn lange Tage. Nachdem die beiden sich wieder voneinander losgerissen hatten, schauten mich Aria, Scarlett, Ethan und Dan an. Jayden schien meine Reaktion auf den Kuss meines festen Freundes allerdings nicht zu interessieren und trank weiter aus seinem Becher.
"Was?", fragte ich schon beinah mit scharfem Unterton in der Stimme. Sofort schauten sie weg.
"Jenny, du bist dran", erinnerte mich Dan. Ich nickte und pickte mir aus Rache Cathrin heraus: "Cathrin, Wahrheit oder Pflicht?"
"Da fragst du noch? Mittlerweile solltest du mich gut genug als deine beste Freundin kennen."
Langsam fing die Schnur in meinem Kopf an zu reißen. Ihre Anspielung auf unser Fake-Freunde-Treffen war unterstes Niveau. Doch ich blickte mich nur kurz im Chatter um und da mir nichts Konkretes einfiel, sagte ich bloß: "Du musst Jay küssen." Dan und Ethan wollte ich es wirklich nicht antun, die böse Hexe aus dem Norden küssen zu müssen.
"Sei mal mehr kreativ", forderte Jay, doch ließ Cathrin die Intimität zwischen ihnen offen.
"Zufrieden Jennifer?" - Cathrin zog scharf die Luft ein, bevor sie zu mir überging. - "Jennifer, wieso triffst du dich noch mit Britton, obwohl du zur Clique gehörst?"
In der Runde ging ein Staunen umher. Auf einmal war ich nun ein Mitglied der Clique, obwohl ich doch eigentlich nur auf Bewährung war? Es war so gemein von ihr, damit anzufangen. Sicherlich hatte sie uns vorhin gesehen und ausspioniert. Typisch für sie.
"Ich habe nicht einmal Wahrheit gesagt", erwiderte ich und rutschte etwas weiter auf meinem Stuhl hinauf.
"Die Regeln mache ich", sagte Cathrin mit schmalen Augen und beharrte weiterhin auf die Antwort.
"Ich bin gleich zurück", entschuldigte ich mich schnell und stürmte zum Badezimmer. Irgendwie kam mir der Smoothie von vorhin wieder hoch und ich musste dringend eine Toilette aufsuchen. Doch alle Zufluchtsorte waren besetzt und außerdem wäre es zu peinlich gewesen, vor den Kabinen zu warten, bis irgendwann einmal etwas frei wurde.
Ich suchte mir einen anderen Weg und irgendwie kam ich im zweiten Stock an. Ich wusste nicht, dass die Treppe eine weitere Etage Preis geben würde. Daraufhin hoffte ich sehnlichst auf ein Badezimmer, als ich eine Tür aufzog, doch es war bloß ein Schlafzimmer. Die Frage, die mir durch den Kopf geisterte, war, wieso das Chatter Schlafzimmer besaß. Musste ich erst dafür bezahlen, hier sein zu dürfen?
Doch das spielte im Augenblick keine Rolle. Schnell wollte ich die Tür schließen, doch ein Fuß in der Tür hinderte mich daran. Hinein kam Oliver, der mir gefolgt sein musste. Ich erschauderte und die Übelkeit kehrte erneut heftig in mir zurück.
"Geht's dir nicht gut?", fragte er und kam mir einen Schritt näher.
"Doch, doch, ich ähm...musste nur kurz dem Trubel unten entfliehen..." - Ich fasste mir an die Stirn. Ich glühte förmlich.
"Kann ich verstehen. Cathrin kann oft anstrengend sein", erwiderte er.
Wie ironisch, dass gerade er das sagen musste. An wen hatte sich Cathrin denn eigentlich angelehnt? Und wer willigte vor den Augen seiner festen Freundin locker ein, Cathrin dann auch noch zu küssen?
Doch ich nickte bloß still und hoffte, dass ich so schnell wie nur möglich von ihm wegkommen könnte. Er war einer der Gründe, weshalb ich in dieses Zimmer flüchten musste.
"Setz dich hin." - Oliver deutete auf das Bett hinter uns. Ich gehorchte.
Als ich auf dem breiten Bett Platz genommen hatte, setzte er sich neben mich und schaute zu der Kommode, auf der Bilder von einer jungen Frau in einem Bikini am Strand standen. Ich fragte mich, wer das wohl war und ob ihr dieses Zimmer wohl gehörte. Ich fühlte mich hier nicht willkommen und irgendwie fehl am Platz, auch wenn es neben meinem festen Freund war.
"Kann ich irgendetwas für dich tun?"
"Sprich mit mir", bat ich ihn schnell.
"Okay und worüber?"
"Egal, Hauptsache über irgendetwas, was mich kurz ablenkt."
Er grinste und schaute in mein Gesicht. Ich blicke immer noch still schweigend die Bilder an, die mich zu beobachten schienen.
"Ich bin froh, dich gefunden zu haben", gestand er: "Als du an unsere Schule kamst, dachte ich zuerst, du wärst so eine Streberin mit wenig Selbstwertgefühl. Aber nach und nach habe ich gemerkt, dass du das genaue Gegenteil davon bist. Also, das gilt nicht für den Part mit der Streberin."
Ich lächelte und erfreute mich eigentlich über dieses Kompliment.
"Jenny, wir sind jetzt schon seit einigen Tagen zusammen und ich-" - Seine Finger berührten meine Haut am Oberschenkel und wanderten langsam hinauf. Ich keuchte leise, doch hinderte ihn nicht daran weiterzumachen. - "- hab mich gefragt, ob du langsam dazu bereit wärst, den nächsten Schritt mit mir zu gehen?"
Den nächsten Schritt?!
"Oh", entfuhr es mir, als seine Finger den Saum meines Kleides fanden. Den Schritt meinte er also. Unschöne Gedanken kamen in mir auf. Gedanken an eine Runde Wahrheit oder Pflicht im Chatter, als genau das, was hier nun gerade passierte, unter dem Tisch passiert war.
Aber es war bereits klar, dass er nicht lange zögern würde. Ich durfte nicht so lange damit zögern, sonst verlor ich ihn an Cathrin oder an eine andere.
"Vielleicht. Ich weiß nicht, ob ich dafür bereit bin, denn ich-." - Ich hielt die Luft an. Es war zu peinlich es offen auszusprechen.
"Du bist noch Jungfrau", beendete er meinen Satz und ich wurde augenblicklich rot. Das war zu peinlich.
"Ist doch kein Problem. Ich kann dir helfen. Ich hab' zwar noch nie mit jemandem was gehabt, der noch keine Erfahrungen hatte, aber wir können es langsam angehen."
Der Gedanke daran, dass Oliver schon mit anderen mit mehr Erfahrungen etwas am Laufen hatte, erschütterte mich. Überraschen tat es mich jedoch nicht. Es war klar, dass er schon etwas mit anderen gehabt hatte, lange vor mir.
"Versprichst du's?", harkte ich vorsichtig nach.
Nickend antwortete er: "Klar doch. Sag einfach Stopp, wenn es dir zu viel wird, Baby."
"In Ordnung", meinte ich, bevor Oliver anfing, seine Hand hinauf über meinen Bauch zu meinem Kinn zu fahren, um mich daraufhin innig zu küssen. Als seine Zunge meine berührte, zuckte ich kurz zusammen. Es war ein sehr fremdes Gefühl.
Leise lachend von meiner Reaktion suchten seine Finger nach dem Reißverschluss des Kleides auf meinem Rücken.
"Das Kleid ist so sexy an dir", flüsterte er an meinen Lippen klebend.
Ich wurde erneut rot und war froh, mich heute Abend für dieses Kleid entschieden zu haben. Ehe ich mich versah, war das Kleid unten und ich nur noch mit meinem BH und meiner Pants bekleidet. Irgendwie war diese Tatsache, halbnackt hier vor Oliver zu sitzen, beschämend und gleichzeitig schön.
Die Übelkeit stieg erneut in mir auf, doch ich wollte sie unterdrücken.
Olivers Augen blieben an meinem BH kleben, seine Finger folgten seinem Blick. Bevor er mich noch weiter auskleiden konnte, zog ich an seinem schwarzen Shirt, woraufhin er mir dabei half, es über seinen Kopf zuziehen. Als sich unsere Lippen nach der kurzen Pause wieder berührten, waren die resultierenden Küsse so heiß und begierig, dass mir die Sache irgendwie zu schnell ging und ich nicht mehr sicher war, wie es um mich geschah. Dazu kam Cathrins schadenfrohes Lächeln vor meinem geistigen Auge, das immer wieder Olivers Lippen verschluckte.
"Oliver, bitte Stopp." - Ich löste mich von seinen perfekten Lippen, während er seine Arme um meine Taille schlang. - "Das geht mir zu schnell. Ich kann das noch nicht tun. Tut mir leid."
"Ich ähm-" stotterte er als Antwort: "Du bist so wunderschön und verdammt, so sexy. Bitte lass mich weitermachen. Bitte. Ich bin auch vorsichtig. Du bist wie eine Droge für mich."
Eine Droge, mit der er wohl nicht aufhören konnte, egal wie sehr er sich auch bemühte, denn mit einem Mal fing er wilder als zuvor an, mich zu küssen, mich festzuhalten und seine Hände überall an meinem Körper zu haben.
Schockiert und erstarrt zugleich verstand ich die Welt nicht mehr.
Auch auf meine Versuche, ihn von mir wegzustoßen, reagierte er nur noch vernarrter in mich.
"Oliver, hör auf", schluchzte ich. Die Tränen standen mir in den Augen.
"Bitte hör auf! Ich will das nicht! Ich kann das nicht!"
Es gab keinen Weg hinaus. Er hatte mich fest in seinem Griff.
"Du kannst, Baby. Los, mach schon, du musst deine Pflichtaufgabe erfüllen", forderte er mich auf und warf mich mit einem Mal aufs Bett. Sofort überfiel er mich und war direkt über mir. Mit Küssen umgab er meinen Oberkörper. Ich ließ es zitternd zu. Ich befand mich in einer Art Trance und konnte keinen einzigen Muskel bewegen. Dafür hasste ich mich. Ich hasste Oliver dafür, dass ich mich selbst hasste.
"Hör auf, hör auf, hör auf!", wurde ich nun lauter und bevor ich mich versah, landete meine Faust in Olivers Gesicht. Mit einem Ruck fiel er auf mich hinab.
Geistesabwesend kroch ich unter ihm hervor und sah, dass Oliver bewusstlos auf dem Bett lag, dort, wo ich mich eben gerade noch befunden hatte. Sein Gesicht wirkte friedlich und erinnerte nicht an den Kampf, den ich gerade gegen ihn geführt hatte.
In meiner Angststarre schnappte ich mir mein Handy und rannte so schnell wie möglich aus dem Zimmer raus, um Oliver darin einzusperren. Dabei fiel mir jetzt erst auf, dass meine Klamotten noch da drin waren. Aber lieber lief ich mit Unterwäsche durch das von Menschen überflutete Haus, als noch einmal dort hineinzugehen.
Doch was nun? Ich wollte nur so schnell wie möglich von dieser verfluchten Party weg! Doch wer sollte mich fahren?
Meine Eltern konnte ich wohl ausschließen. Wenn die mitbekamen, was gerade passiert war, wäre ich tot.
Die Clique konnte ich wohl auch vergessen. Zu Fuß nach Hause gehen war auch keine Option, nicht mit diesem Aussehen.
Ich scrollte durch die Telefonliste.
"Luke, bitte hol' mich hier raus!"
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