22 - 'An die Geliebte'

Ich wurde von der Sonne geweckt, die durch das Fenster schien und das Zimmer in neongelbes Licht tauchte. Schatten von wehenden Ästen tanzten an der Decke.

Ich beobachtete das Spektakel mit schmalen Augen und grinste bei diesem Anblick. Es war als hätte mir jemand alle Sorgen über Nacht genommen und für einen Moment vergaß ich tatsächlich alle Probleme.

Stöhnend drehte ich mich zu meinem leeren Zimmer um. Bis auf einzelne Umzugskisten sahen die Wände sehr farblos aus und der Raum wirkte verlassener denn je. Auch ich fühlte mich in diesem Zimmer verlassen und einsam. Es könnte durchaus Farbe vertragen. Vielleicht würde ich die Wände streichen.

***

Der erste Morgen im neuen Haus fühlte sich seltsam an. Die Dinge waren nicht da, wo sie sein sollten. Ich brauchte ganze geschlagene drei Minuten, bis ich die zukünftige Küche fand.

Auf Baulatten, die an der Wand angebracht waren und größtenteils auf dem Boden lagen, standen Dosen mit langjährigem Mindesthaltbarkeitsdatum, die teils schon angebrochen und teils noch ungeöffnet übereinander gestapelt waren.

Ich musste die Auswahl zwischen grünen Bohnen, Ravioli mit verdickter Tomatensoße und irgendwelchen Suppen mit komischen Konsistenzen treffen. Natürlich lauwarm, denn ein Kühlschrank befand sich hier noch nicht und die Nächte waren nicht kühl genug, um das Essen kalt genießen zu können.
Die Auswahl an Getränken hingegen war ziemlich übersichtlich. Außer Wasser mit Kohlensäure hatten wir weder Säfte im Haus, noch einfaches Leitungswasser. Ich sehnte mich nach dem Einbau der neuen Küche, damit die Wasserleitungen in Gang gebracht werden könnten.

Es kam mir eher vor wie eine Notunterkunft. Eine Zeitspanne zwischen dem schnellen Bootverkauf und der Fertigstellung des Hauses.
Mir fehlten die Morgen, an denen ich essen konnte, was ich wollte. Mein Müsli, das sich genau dort befand, wo ich es den letzten Morgen zuvor abgestellt hatte, wäre mir am liebsten. Es hielt mich bis Mittag satt und ließ meinen Magen nicht ungewollt knurren.

"Morgen Schätzchen! Wie war deine Nacht?" - Mom kam wie eine Wilde hineingestürmt, völlig aufgedreht, als hätte sie die ganze Nacht nichts anderes getan, als Kaffee zu trinken und sich somit ungesunde Mengen an Koffein in den Hals zu schütten.

Ohne eine Antwort von mir abzuwarten, sprach sie weiter: "Wir haben gehofft, dich noch einmal zu sehen, bevor du schlafen gehst."

Was erwartete sie von mir? Dass ich ihr einen Gute-Nacht-Kuss geben und ihr für die Entbehrung von Quantum danken würde?

Ich wandte mich kurz von ihr ab, um eine Dose mit dem Dosenöffner in Form eines Handys zu öffnen, wobei ich kurz mit den Augen rollte. Langsam musste sie doch meine Laune gegenüber des Umzugs begriffen haben.
Als Antwort gab ich nur ein leises Hmmhm von mir und ließ sie ungeduldig warten. Schließlich lenkte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Unterhaltung, sodass sie weitersprechen konnte.

"Tut mir leid, dass wir noch keine richtige Küche haben. Die wird heute Nachmittag geliefert. Vielleicht kannst du ja mithelfen?"

Wäre ich von ihr nicht beobachtet worden, hätte ich nun abermals die Augen verdreht. Klar war es keine Frage mit anzupacken, aber gleich am ersten Tag im neuen Haus und dann mit dieser Laune, die ich wohl ganz offensichtlich nicht vor ihr verbarg?

"Ich wollte eigentlich mein Zimmer streichen", begann ich zu erklären: "Und wollte dafür Farbe kaufen gehen."

"Oh, was für eine farbenhafte Idee, Schatz! Brauchst du Hilfe?", scherzte sie vergnügt. Ihre Stimmung verhalf mir nicht gerade zu besserer Laune. Da hatte ich doch tatsächlich eben noch alle Probleme vergessen und nur die sorglosen Schatten der Bäume an der Zimmerdecke beobachtet.

"Nein", antwortete ich knapp und drehte mich dann mit einer Gabel in der rechten und einer Dose lauwarmen Ravioli in der linken Hand zum Gehen um.

Mom schaute mir nach, hielt jedoch den Mund und kümmerte sich um ihr eigenes Frühstück, das aus einer Hühnersuppe bestand.

Ich ließ mich auf einen sehr niedrigen Hocker nieder, der im neuen Wohnzimmer positioniert war und machte mich schnell über die dickartige Soße her, bevor Mom und Dad noch auf die Idee kamen, sich zu mir zu gesellen. Das hätte die Wut auf sie nur noch mehr verstärkt. Mein Blutdruck musste jetzt schon weit in den Himmel reichen.

***

Ohne mich zu verabschieden, fuhr ich schließlich mit dem Skateboard zur Schule los. Als ich eintraf, war der Parkplatz Mal wieder vollgefüllt mit Autos und Kohorten von Schülern jeden Alters. Ich vergewisserte mich, dass Dans schwarzer, übernatürlich großer Pick-up nicht da stand, mit dem die Clique für gewöhnlich vor dem Schulanfang zum Meer fuhr. Er war - wer hätte es gedacht - nicht da.

Ich betrat den Flur der Schule, der mich auf schnellstem Wege zur Geschichtsstunde führte.
Mein Magen zog sich krampfhaft zusammen, als ich Oliver erblickte. Man könnte es als ein Wunder betrachten, dass er ausnahmsweise vor mir da war. Die schwarzen, wuscheligen Haare und seine blauen Augen, die mich prüfend beobachteten, machten mich ganz nervös.

Ich ließ schließlich den Rucksack neben meinem Platz nieder und setzte mich zu ihm. Dann bekam ich schließlich ein Hey zugesteckt und freute mich, endlich wieder seine Stimme hören zu können. Ich konnte es mir gar nicht vorstellen, dass er mich einfach so ohne Grund zurückgelassen haben soll.

"Hey." - Ich grinste breit.

"Geht's dir besser?"

Ich nickte. - "Stimmt es, dass du mich Luke gestern nach dem Unfall überlassen hast?" - Ich fragte es so direkt und meine Stimme sprach eindringlich, aber nett formuliert.

"Ja, ähm...Cathrin brauchte mich bei so einer Sache. Sie wird ziemlich schnell eifersüchtig und da musste ich eingreifen, sonst hätte sie mir noch die Kehle durchgeschnitten", erklärte er mehr belustigt als ernst.

"Verstehe. Cathrin ist eifersüchtig?"

"Ja, du weißt ja, wie sie ist. Aber zurück zu dir; wieso bist du gestern zusammengebrochen?", versuchte er abzulenken. Ich nahm es so hin, wie er von der Wahrheit abgewichen war und beantwortete seine Frage. - "Ich denke, das lag am Umzug. Die ganzen Vorbereitungen und so weiter haben mich ein wenig durcheinander gebracht."

"Aber jetzt ist alles gut? Auch mit deinen Eltern?", harkte er nach. Ich fand es etwas seltsam, dass er so neugierig war und sich dafür so interessierte.

"Ja, alles gut. Wir vertragen uns immer noch super", log ich. Wieso schwindelte ich? Ich hatte Luke doch auch die Wahrheit anvertraut, dass ich Probleme mit meinen Eltern wegen des Umzugs hatte. Wieso hatte ich ihn angelogen?

***

Die Stunde war erstaunlich schnell vergangen. Oliver und ich mussten nichts mehr erledigen, weshalb wir eigentlich nur über unwichtige Dinge gequatscht hatten. Dabei hatte er mich zum Meeresausflug eingeladen. Dieser Einladung gegenüber war ich anfänglich skeptisch, weil ich somit Unterricht verpassen würde. Aber schließlich beantwortete ich diese nette Geste dennoch. - "Ich werd's mir überlegen."

Oliver und ich mussten uns noch einmal privat treffen. Das meinte er zumindest. Irgendetwas wollte er noch mit mir über die Präsentation besprechen - die nächste Woche stattfinden würde. Ich stimmte zu, fragte mich jedoch, wieso er nicht die Stunde dafür genutzt hatte. Wir beschlossen das Treffen spontan zu verabreden, da keiner von uns so genau wusste, wann er Zeit hatte - ich wegen des Umzugs und Oliver...tja...wusste ich auch nicht so genau.

"Kommst du?", fragte der Schwarzschopf höflich, als alle anderen bereits aus dem Raum gestürmt waren, Misses Newberry mit eingeschlossen.
Ich hatte so lange gebraucht, um meine Tasche sorgfältig mit den Materialien zu befüllen, dass ich nicht mitbekommen hatte, dass wir die letzten waren. Die anderen mussten ihre Sachen schon während des Unterrichts gepackt oder sie nicht einmal herausgelegt haben. Sie hätten es wohl sonst kaum geschafft, so schnell aus dem Vorlesungsraum zu verschwinden.

Da es für Oliver anscheinend untypisch war, einer der letzten zu sein und ich sowieso noch damit beschäftigt war, Collegeblöcke sorgfältig in meinem Rucksack zu verstauen, antwortete ich mit einem einfachem: "Geh ruhig schon Mal. Ich komme gleich nach."

Er nickte bloß und verschwand nach draußen ins Freie. Es hätte mich nicht gewundert, wenn Cathrin und der Rest der Clique schon wieder von ihrem kleinen Trip zurück waren. Komischerweise bekamen sie kein einziges Mal Ärger von Aufsichtspersonen, die ganz genau wissen mussten, wo sich der Pick-up herumgetrieben hatte. Die sandigen Spuren an den Felgen der Reifen, der typische Geruch nach Salzwasser an dem schwarzen Lack und außerdem das auffällig lautstarke Anrasen des Wagens, sobald sie den Parkplatz erreichten. - Dan musste den Fuß erst kurz vor dem Stehen von einem Pedal zum anderen wechseln.

***

Kaum war Oliver gegangen, breitete sich eine gruselige Stille im Raum aus. Nur das Schlagen der Uhr über der Tür war noch zu hören. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Ich wollte die vier Wände so schnell wie nur möglich verlassen.

"Kann man dir helfen?"

Eine sanfte, bekannte Stimme mit einem leichten Unterton darin stand angelehnt im Türrahmen und beobachtete meine zittrigen Hände, hektisch greifend nach den letzten Büchern auf dem Tisch, die wir zum Recherchieren benutzt hatten - das hieß, die ich zum Recherchieren benutzt hatte.

Ein minzartiger Geruch stieg mir in die Nase, noch bevor ich mich zu Luke umdrehen konnte.

"Neues Deo?", drehte ich die Fragerei um.

"Nein, Mundwasser, das ich im Schrank beim Aufräumen gefunden habe", grinste er und verschränkte nun die Arme vor der Brust. Irgendwie hatte er ja schon etwas an sich, was sich nicht richtig deuten ließ. Ein Hauch von sexy vielleicht? Oder ein Einschüchterungsversuch? Oder ein Belustigungsversuch?

"Riecht gut."

"Danke."

Ich fasste es nicht, dass wir tatsächlich ein Gespräch über Mundwasser mit Minzgeschmack führten. Wie einfallslos konnte man bitte sein? Hier der Beweis dafür, dass die Einfallslosigkeit an diesem Morgen großgeschrieben wurde.

Schnell packte ich alles restliche ein, legte mir den Rucksack auf die Schultern und schlich die Reihen entlang zum Ausgang zu Luke, der auf mich wartete.

"Wieso bist du nicht schon draußen?", fragte ich ihn, während ich damit beschäftigt war, das Licht auszuschalten und die Tür ins Schloss fallen zu lassen.

"Ich bin zufällig hier vorbeigekommen und habe Oliver gesehen, der alleine die Flure entlang gelaufen ist. Deshalb hab ich mich gewundert, weshalb der strahlende Ritter auf dem Pferd seine Prinzessin nicht dabei hat."

"Och komm schon! Sei nicht so gemein. Oliver ist eben...sehr speziell. Er ist nicht dafür gemacht, lange zu warten. Vor allem nicht auf mich. Was soll's? Ich brauche niemanden, der auf mich wartet."

Das hörte sich nun wirklich gemein gegenüber Oliver an, auch wenn es irgendwie auch der Wahrheit entsprach.

"Okay, also heißt das nun, ich soll ohne dich gehen?", fragte der Braunschopf belustigt.
Ich stieß ihn aus Spaß mit dem Ellenbogen in die Seite und musste dabei selbst lachen.

"Haha. So habe ich das nicht gemeint!", protestierte ich, während wir den Flur nebeneinander hinunterliefen.

An der Wiese der Beliebten angekommen, musste ich schwer schlucken. Mir gefror das Blut in den Adern, was nicht einmal die unerträglich heiße Sonne schaffte, wieder zum Schmelzen zubringen.
Ich zwang mich dazu, nicht mehr darüber nachdenken zu müssen. Aber dadurch wurde mein Gedanke nur noch weiter ausgedehnt.

Cathrin umklammerte Oliver wie eine Verrückte. Oliver selbst lachte und vergnügte sich mit den anderen. Mich schien er nicht zu vermissen, um Spaß zu haben. Ein Gefühl der Unzulänglichkeit übermannte mich. Dann kam mir ein zweiter Gedanke in den Kopf, nämlich, dass Cathrin eifersüchtig auf das war, was Oliver und ich hatten - auch wenn ich mir nicht dessen bewusst war, was wir überhaupt hatten. Irgendwie verdiente sie es. Aber irgendwie musste ich auch daran denken, was sie hatte, das ich nicht besaß. Diese Sache wünschte sich Oliver bestimmt, damit er seinen Durst danach stillen konnte.

Ein Stoß von der Seite brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Luke boxte mir kleinlich in die Seite und zwinkerte mir zu. Irgendwie schien der ganze letzte Streit der letzten Tage verschwommen zu sein und weit hinter uns zu liegen.

Lächelnd senkte ich die Schultern und ließ zu, dass Luke mein Handgelenk packte und mich zu einem Ort, weit weg von den Anderen, mitschleifte. Von dort aus konnte ich sie zwar weiterhin beobachten, jedoch nicht ihre lauten Stimmen hören - geschweige denn, dass sie uns zusammen sehen konnten.

"Nimm es ihnen nicht übel", meinte Luke bloß lässig und wandte den Blick von der Clique ab, die lachend über den ganzen Schulhof ertönte: "Sie können nichts für ihr Wir brauchen unbedingt Aufmerksamkeit! Seht uns an!"
Er zitierte dies in einem lustig hohen Oberton, den man aus Mündern von 5. Klässlerinnen erwarten würde, die wild umherhüpften und wirklich nach Aufmerksamkeit suchten.

Ein kleines Lächeln spielte sich auf meinen Lippen ab, als ich seinen albernen Versuch, mich aufheitern zu wollen, wahrnahm.

"Ich glaube nicht, dass das der beste Ort wäre, uns niederzulassen", wechselte ich das Thema immer noch mit Fokus auf Cathrin: "Wenn sie uns zusammen sehen dann,..." - "Dann was? Lass sie doch! Niemand sollte dir verbieten, mit wem du abhängen willst und mit wem nicht! Du musst dich für nichts schämen oder fürchten. Für nichts, hörst du?"

Seine Augen bohrten sich beruhigend in meine. Ich nickte bloß, obwohl ich mir nicht einmal dessen Bedeutung im Klaren war. Sicherlich galt diese Entscheidung immer noch mir, aber um in die Clique aufgenommen zu werden, hatte ich viel durchgemacht und schließlich war er es, der mir diese Einfahrtkarte ermöglicht hatte.

"Setzen!", befahl Luke mir wie ein strenger Offizier, als ich hilflos dort stand und innigst hoffte, sie würden mich nicht mit ihm zusammen sehen. Ich gehorchte und ließ mich langsam zu Boden sinken. Kaum hatte ich mich auf das weiche Gras fallen gelassen, schauten mich die Schüler um uns herum mit angewiderten Blicken an. Als könnte ich ihre Gedanken lesen, wusste ich bereits, dass ich neben Luke unerwünscht war. Sicherlich würde es gleich jemand der Clique petzen gehen.

"Ignorier sie einfach", flüsterte Luke mir zu, nachdem er seinen Rucksack und sich gleich mit, niedergelassen hatte: "Sie wissen nicht, wer sie überhaupt selbst sind noch, wieso sie überhaupt hier sind."

Ich nickte bloß abwesend, da meinem Blick nur der Clique galt. Im Gegensatz zu mir wirkten sie viel interessanter und waren auf einem anderen Niveau als ich. Selbstzweifel überfielen mich. Ich würde niemals so lässig wie sie drauf sein können, wenn ich mich nicht änderte.

"Hey", liebevoll legte Luke seine Hand auf meinen Handrücken, der zwischen den saftig grünen Halmen verschwand: "Kümmere dich nicht um die Anderen."

Er hatte recht. Einmal brauchte ich auch eine Pause von ihnen. Ich würde noch genug Zeit zusammen mit ihnen haben. Und so schlimm konnte Luke ja nicht sein. Vielleicht würde die Clique sogar ihre Meinung über ihn ändern, wenn sie mich zusammen mit ihm lachen hörten.

"Okay, dann erzähl Mal etwas, was ich noch nicht weiß."

Er musste nicht lange überlegen, um zu antworten: "Du hast etwas...", an dir, dass mich fasziniert, vollbrachte ich seinen unbeendeten Satz in Gedanken, obwohl ich das nicht wirklich realisieren konnte. Ich meine, das würde er doch nicht wirklich sagen, oder?

"Im Gesicht. Einen Marienkäfer", lachte er auf und streckte seinen Arm aus, um ihn von meinem Gesicht zu nehmen und ihn mir daraufhin vor die Nase zu halten. Meine Haut kribbelte an der Stelle, an dem seine Fingerkuppen mich gestreift hatten.

"Hahaha", meinte ich verspielt und grinste bloß.

Er setzte den Käfer behutsam auf einem Kleeblatt neben uns ab und fuhr sich durch sein dunkelbraunes Haar. Danach stemmte er seine Arme wieder auf dem Boden hinter sich auf.

Dabei wurde ich aufmerksam auf sein kleines, braunes Kunstlederbuch, dass er in der Hand hielt.

"Darf ich dir jetzt Mal etwas sagen, was du noch nicht weißt?"

Er nickte bloß. Sein Gesicht umfasste ein sanftes, nicht übertriebenes Lächeln.

"Ich würde zu gerne wissen, was in diesem Buch steht." - Ich deutete auf das braune Etwas, das voll mit handschriftlichen Kritzeleien stehen musste.

"Das hab ich doch schon gesagt: Kritzeleien über alles mögliche. Gedichte, Lyrik, die ich gerne mag, Lyrik, die ich schreibe, Gedichte, die ich schreibe, sowas eben und Randnotizen, die ich später vielleicht einmal brauche."

"Liest du mir was vor?", bat ich, wobei er belustigt den Kopf schüttelte, aber schließlich doch noch nachgab. Vielleicht lag es an meinem Blick.

"Das hier ist eins von Rainer Maria Rilke. Es ist ein deutsches Gedicht, aber ich hab es einmal übersetzt, damit man es etwas besser verstehen kann. Seine Ausdrucksweise ist wirklich erstaunlich."

Er schlug das Büchlein auf, das daraufhin alle handschriftlichen Beweise seiner Gedanken Preis gab. Ich schaute gespannt hinein, konnte jedoch nichts erkennen, denn jeder freie Platz wurde bereits gefüllt. Außerdem war seine Schrift so winzig klein gehalten, dass sicherlich nur er selbst es entziffern konnte.

"Du kommst mir hoch vom Hang entgegen
im Feierkleid, im weißen Kleid;
sein wellenweiches Faltenlegen
rauscht in die Aveeinsamkeit.

Ein Grüßen blüht auf deinem Munde,
ein Winken weht von deiner Hand,
und durch des Abends rote Stunde
führst du das Glück ins kühle Land
...", lass er mit sanften betonten Worten vor, so vertieft in die vielfältige Wortwahl, dass er die Stirn in Falten gelegt hatte.

Auch wenn ich nur etwa jedes vierte Wort verstanden hatte, genoss ich dieses eine Gedicht und kapierte sofort, was er damit gemeint hatte, dass seine Ausdrucksweise wirklich sehr erstaunlich wäre.

"Wie heißt das Gedicht?", wollte ich wissen, als er wieder hochsah. Seine Pupillen wirkten von der Sonne gereizt, die sie nun wieder beleuchteten.

"An die Geliebte." - Er sah mich an. - "Hat's dir gefallen?"

Ich nickte und fügte hinzu: "Das ist wunderschön." - Und so meinte ich es auch ehrlich.

Unsere Augen trafen auf einmal aufeinander und verfingen sich. Es war so ein intensiver Moment, den man nicht in Worte fassen konnte. Als gäbe es da nur diese beiden Augenpaare im Universum, die sich wie zwei Pole anzogen.

Keine Ahnung, wie lange wir da so saßen und uns Gedanken um Augenfarben machten. Aber irgendwann klingelte die Pausenglocke, wodurch wir in die Realität zurückkehrten.

Bevor alle zum Eingang stürmten und uns die Clique zusammen sehen konnte, fragte ich: "Hast du heute Nachmittag Zeit?"

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