18 - Umzugskisten packen

"Schätzchen!", rief mich meine Mom am nächsten Tag. Die letzte Nacht hatte ich kaum ein Auge zugedrückt. Zu sehr wollte ich weiter über das Geheimnis nachdenken, in der Hoffnung, endlich selbst auf die Lösung zu kommen. Man könnte meinen, acht Stunden würden reichen, um wenigstens ein bisschen näher an das Ergebnis zu kommen - falsch gedacht.

Ich stand von meinem niedrigen Bett auf und suchte mir in meinem Schrank etwas Bequemes, das zu meiner Stimmung passte.

Mit einem großen, schwarzen Pulli, den ich irgendwo in Spanien gekauft hatte, packte ich den Türgriff und trampelte ungeschickt ins Wohnzimmer. Ich war dabei so tollpatschig, dass ich beinah über einen bis oben hin vollgepackten Karton mit Bildern und kleinen Dekorationen stolperte. Gerade so konnte ich noch ausweichen und stützte mich verschlafen am Esstisch ab, der immer noch voll mit Ordnern, Büchern und Papieren lag.

Überrascht betrachtete ich den Raum, der mir erst jetzt auffiel. Der Karton, dem ich gerade noch ausgewichen war, war nicht der einzige, der lauter Gegenstände aus Quantum enthielt.
Da Zimmer sah leer und verlassen aus. Als hätte jemand meine ganze Seele in einen Karton aus Pappe gestopft - unvorsichtig und herablassend -, ihn mit Klebeband abgeschnürt und ihn dann in eine dunkle Ecke geschleudert.

Ich hielt kurz inne und sah Mom hinterher, die mit einem der schweren Kartons in den Händen eilig an mir vorbeiraste. - "Morgen Liebling! Kannst du den Karton aus der Küche noch schnell rausbringen? Ich hab dir Frühstück in den Kühlschrank gelegt. Wir haben schon gegessen."

Sie stellte ihren Karton kurz ab, schnaufte durch und blickte mich dann das erste Mal an diesem Morgen an. Entweder wollte sie nur kurz Luft holen, um daraufhin die wertvollen Erinnerungen herauszuschleppen oder sie wollte nun den unausweichlich überraschten Gesichtsausdruck von mir sehen.

Schnell fügte sie außer Atem hinzu: "Beeil dich bitte! Wir wollen gleich los! Heute Morgen haben wir endlich das Okay bekommen, dass wir einziehen können!" - Ihre Stimme verwandelte sich in ein schiefes Quietschen und in ihrem Gesicht breitete sich ein so großes Lächeln aus, dass man all ihre Zähne in voller Pracht sehen konnte.

Verblüfft und gleichzeitig wütend starrte ich sie bloß an. Hab ich mich gerade etwa verhört und Mom hat nichts dergleichen erwähnt oder nur einen Streich gespielt?

Ein unbehagliches Gefühl keimte in mir auf, als ich das Funkeln in Moms Augen widerspiegeln sah. Zwar war es voller Freude und Glück, doch andererseits befand sich in ihnen mir gegenüber nicht die geringste Menge an Mitleid. Dabei ging es mir gar nicht um das blöde Frühstück, dass ich nun alleine an diesem letzten Tag auf Quantum genießen würde. Es war gerade wegen des letzten Tages auf Quantum. Sie wusste genau, wie ich immer noch zum Umzug stand. Ich hatte meine Meinung keineswegs geändert. Ich wollte auf Quantum wohnen bleiben.

Wie angewurzelt stand ich da und rührte keinen einzigen Muskel vom Fleck. Alles, was ich sah, war dieses hässliche, abscheuliche Lächeln, dass mich tausendmal fallen ließ.

"Sag doch was", munterte mich meine Mom auf. Ich schüttelte leicht mit dem Kopf und drehte mich schnell von ihr weg, um nicht gleich losheulen zu müssen, wenn ich noch einmal ihre Gesichtszüge sehen würde.

Ich stützte mich für einen kurzen Augenblick nochmals am Esstisch ab und atmete dreimal tief ein und aus. Wie können sie nur? Natürlich, es war glasklar, dass irgendwann der Tag kommen würde, an dem ich Quantum loslassen und in ein richtiges Haus ziehen müsste. Doch noch nicht jetzt. Sie hätten mir wenigstens vorher Bescheid sagen können, dass ich bereits morgen auf die Schnelle Abschied nehmen musste.

Nachdem ich immer noch schwieg und Mom auch nichts mehr mit mir anzufangen wusste, packte sie wieder ihre Kiste und trat nach draußen. Ich tat es ihr gleich, schnappte mir die Kiste in der Ecke und ging langsam nach draußen. Mein Herz pochte in meiner Brust wild umher und konnte es nicht fassen, wie viel man mir schon aus meinem zu Hause genommen hatte.

Mindestens zehn Kisten standen dort, eingehüllt in mehreren Schichten Klebeband, auf dem Steg und warteten darauf, an einen Ort verschleppt zu werden, wo sie nicht hingehörten.

"Morgen Süße", sagte mein Dad ebenfalls fröhlich gestimmt und küsste mich flüchtig auf die Stirn, bevor er auch schon wieder in Quantum verschwand, um die nächste Kiste zu holen.

Meine Mom stellte ihre Kiste, auf der in fetter Edding Schrift Arbeitszimmer David stand, auf dem Steg ab und wandte sich dann noch einmal mir zu: "Stell sie einfach hin. In fünfzehn Minuten kommt der Umzugswagen."

Ein etwas selbstsüchtiges Lachen erhellte aus ihrem Mund. Ich hätte sie am liebsten angeschnauzt, doch mir fehlten die Worte. So sehr war ich immer noch mit der Situation überfordert.

***

Irgendwie schaffte ich es dann schließlich doch noch zu frühstücken - hektisch - und als ich aufgegessen hatte, fühlte es sich an, als hätte ich nicht eine Sache verspeist, als hätte ich ohne meinem Bewusstsein gegessen.

Als ich schließlich laut werdende Stimmen und das schrille Quietschen eines LKWs hörte, wusste ich, dass nun der Augenblick der puren Realität gekommen war.

Schnell trugen mich meine Beine hinaus. Auch wenn es noch sehr früh war, löste der heiße Sommertag bereits die kältere Dämmerung ab, sodass der Pullover wohl nicht sehr angebracht war.

Als ich neben meinen Eltern zum Stehen kam, die sich freudig mit dem Fahrer des LKWs unterhielten, stockte mir der Atem in der Brust - das tausendste Mal an diesem Morgen.
Diese vertraute Stimme kannte ich doch...

"Hallo...ähm...Jennifer, richtig?", fragte der mir bekannte Mann. Sein weißes Hemd saß mal wieder wie angegossen und sein Gesicht sah makellos aus, im Gegensatz zu meinem zerknitterten, entstanden durch die Schlaflosigkeit der letzten Nacht.

"H...hallo Mr. Britton", antwortete ich zögernd. In meiner Stimme schwebte irgendwie etwas Schüchternes mit.
Lukes Vater war seinem Sohn wie aus dem Gesicht geschnitten und irgendwie hatte auch Marilyn die guten Seiten an ihm geerbt bekommen.
Die hellbraunen Augen und die braunen Haare, die perfekt mit Gel gestylt waren, als wäre er gerade auf dem Weg in eine wichtige Konferenz, ließen meinen Körper durchzucken und zittern. Ein kalter Schauer ergoss sich über meinen Rücken.

"Du erinnerst dich also noch an meinen Namen. Ich bin beeindruckt, wirklich! Aber wir werden uns ja sicherlich noch öfter über den Weg laufen, wenn ihr erst einmal neben uns eingezogen seid", gab er mit einem breiten Grinsen im Gesicht charmant zurück. Sofort flatterte es in mir. Er sah Luke tatsächlich ähnlicher, als mir ehrlich gesagt lieb war.

Bei dem Gedanken daran, dass ich schon längst in seinem Haus gewesen war, den einen oder anderen Konflikt mit seinem Sohn und sogar Kleider getragen hatte, die seinen Kindern gehörten, drehte sich mir erneut der Magen um.

Ich schluckte schnell und versuchte, meine Gedanken zu verbergen.
Mr. Britton wusste tatsächlich nicht im Geringsten, dass ich seine Tochter und seinen Sohn bereits kannte. Sicherlich würde er sie mir noch vorstellen und was dann? Es wäre mir super unangenehm, wenn Marilyn oder Luke erwidern würde, dass wir bereits die Ehre hatten. Bei Lukes Ehrlichkeit - was Marilyn sicherlich mit ihm gemeinsam hatte - war nun das, was vielleicht peinliches passieren könnte, bereits in den Sternen verewigt.

"Na dann. Wollen wir?", fragte unser neuer Nachbar vergnügt, als meine Stimme sich wieder einmal verabschiedet hatte.

"Mit dem größten Vergnügen, John", lachte meine Mutter laut auf und fing bereits an, die Kisten hinten im LKW zu verstauen.

Hatte ich etwas verpasst? Seit wann duzten sie sich denn? Und wieso war ausgerechnet Lukes Vater der Fahrer, der uns ins neue Haus bringen wollte?

"Ähm...wieso ist Mr. Britton denn hier?", erkundigte ich mich bei meinem Dad, als er Mom zur Hand gehen wollte.

"Wir brauchten einen Fahrer und John hat sich letztens zur Hilfe bereiterklärt, als wir beim Haus waren. Haben ihn zufällig getroffen und er hat darauf bestanden", antwortete Dad beiläufig und beförderte dabei eine Kiste auf die Ladefläche des LKWs.

Das würde ein sehr spannendes, neues Leben, mit den Brittons als Nachbarn, werden.

***

Die ganze Fahrt über redeten und lachten John, Mom und Dad miteinander. Ich saß still auf meinem Sitz, verdrehte genervt die Augen und wünschte, wir würden endlich beim neuen Haus eintreffen, damit ich erlöst wäre. Leider kam mir genau deswegen die Fahrt ewig lang vor.

Als Mom auch noch meine Kindheit anschnitt, in der ich öfter mal an ziemlich heißen Sommertagen ohne Badeklamotten schwimmen gegangen war und ich auch das ein oder andere peinliche Erlebnis von Luke und Marilyn erfuhr, das ich einfach nur so schnell aus dem Kopf bekommen wollte, wie nur möglich, war es genug.

"Sind wir bald da?"

Natürlich fing ich fragende Blicke ein, da wir gerade einmal zehn Minuten unterwegs waren - zehn Minuten zu viel, meiner Meinung nach.
"Keine Sorge. Wir sind da!", kündigte John unsere Ankunft an.

Ich blickte aus dem kleinen Seitenfenster vom LKW. Die Sonne blendete mich unangenehm. Dort, wo vor zwei Wochen noch ein Rohbau gestanden hatte - bei dem man gedacht hätte, dass dort niemals jemand wohnen könnte -, stand nun eine prächtige Villa. Natürlich hatte mein Dad sie als Architekt entworfen und auf keinen Luxus verzichtet.

Ich bekam augenblicklich das Gefühl von Übelkeit. In diesem Betonklotz sollte ich nun die nächsten Jahre wohnen?

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