16 - Der große Moment
Samstag. Der Tag, an dem ich womöglich die größte Wette meines Lebens gewinnen würde. Der Tag, an dem ganz Elizabeth City höchstwahrscheinlich mehr auf die Footballspieler achten würde, als auf die Cheerleader, die einzig und allein der Unterhaltung dienten. Doch auch der Tag, an dem ich Cathrin endlich besiegen würde.
Meinen ganzen Vormittag hatte ich mit nichts außer dem Training verbracht. Es war das einzige Thema, über das ich nachdachte. Kein Buch, keine Torte, keine Fahrt mit Quantum oder sonst irgendetwas von meinen Lieblingsaktivitäten hätte daran etwas ändern können. Es war wie ein Geburtstag, den man nur alle vier Jahre feiern durfte, weil man in einem Schaltjahr geboren wurde, auf den man sich so sehr freute, dass man sich ewig nur für einen Tag vorbereitet hatte - mit dem Unterschied, dass mein Trainingsbeginn erst wenige Stunden her war. Dennoch war ich mir, so gut es eben für meine Verhältnisse ging, in meiner Rolle sicher.
Das kurze Kleidchen - oder wie ich es zu bezeichnen pflegte, Fetzen aus Reststoffen, von denen nicht mehr genug übrig waren, um etwas Formelles und Angemessenenes daraus zu schustern - hatte ich extra noch einmal vorher gebügelt. Nicht zu vergessen, die Fusselrolle, mit der ich jede freie Sekunde über die Kleidung gefahren war, aus Angst, es könnte urplötzlich eine Katze auftauchen und sich mir auf den Arm werfen.
Mom bekam mich nur ein einziges Mal zu Gesicht, nachdem ich mit Pyjama vom Frühstückstisch aufgestanden war und mich in der Kabine umgezogen hatte für eine einzige Pause, die während eines der wichtigsten Spiele der Wilddogs stattfand.
Sie stand dort, die Augen nur auf dieses kurze Etwas fixiert. Ihr Schweigen machte mir augenblicklich Angst. Ich hätte mich lieber anschnauzen lassen, dass das mehr als unerhört war, unter den Augen Hunderter so auf einem Feld herumzuspringen und zu tanzen. Ich hätte lieber Hausverbot bekommen - was bei uns so viel hieß wie Bootverbot. Ich hätte lieber meine Stimme gegen Mom und Dad erhoben und ihnen erklärt, wie wichtig mir dieses Auftreten war. Doch da war nur dieses grausame Schweigen, das mir so viel verriet wie ein Stein, der seit Millionen von Jahren an derselben Stelle lag. Die Augen machten mich nervöser, als das Gerede meiner Mom, während sie versuchte, ihre eigentliche Meinung auf den Punkt zu bringen.
"Sag etwas", meinte ich mit unsicherer Stimme zu ihr und verzog aus Angst das Gesicht, sie könnte nun über mich herfallen, wie ein grausames Tier über seine Beute. Doch sie blieb in ihrer Rolle und verschwendete keine Zeit, sich darüber Gedanken machen zu müssen, die ausgesprochenen Worte wieder in ihren Mund schieben zu wollen.
Als ich schon aufgeben wollte und mir im Kopf einen Plan zusammenlegte, der daraus bestand, in meine normalen Klamotten zu schlüpfen und den Fetzen in der Schule auf der Mädchentoilette anzuziehen, brach meine Mom die Mauer zwischen uns ein. -
"Geh schnell, bevor dein Vater dich so sieht. Der würde dir, bis deine Kinder heiraten, Hausarrest geben."
Dankend nickte ich schnell und schlich mich an ihr vorbei. Ich wollte gerade zur Tür hinaus, als meine Mom mich noch einmal stoppte. Mit ihrer Hand umklammerte sie eine Tasse Kaffee mit Eichhörnchen darauf. Ich hielt kurz inne und starrte sie nur an. Ihr Kaffee musste längst kalt gewesen sein. Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst, nämlich dass sie es sich doch noch einmal anders überlegt hatte. Ich biss mir flüchtig auf die Unterlippe.
"Viel Spaß. Amüsier dich schön, okay?"
Glücklich nickte ich erneut und verließ erleichtert das Boot. Dabei grübelte ich, warum mich meine Mom dabei unterstützen wollte. Vielleicht ging es ihr nur darum, dass ich endlich neue Freunde in einem Club fand oder sie hatte sich tatsächlich daran erinnert, wie sie damals noch als eine Jugendliche war. Sicherlich hatte sie sich nicht so brav verhalten, wie ich es heute tat.
Ich fuhr mit meinem Board los. Die Luft war mal wieder stickiger, als mir lieb war und die Sonne brannte mir auf der Haut. Besser wäre es bestimmt, ich würde mich demnächst mit Sonnencreame einschmieren, um keinen Sonnenbrand zu bekommen. Ich hatte irgendwo einmal gelesen, dass Rothaarige anfälliger dafür wären.
***
Als ich auf dem Schulgelände ankam, zupfte ich mir abermals am Kleid herum, um nicht zu viel Haut von mir preiszugeben. Nun, wo so viele Menschen hier versammelt waren, dachte ich lieber zweimal darüber nach, wie ich auftrat. Meine Haare hatte ich zu einem lockeren Pferdeschwanz verschlungen, allerdings schauten einige Strähnen an der Seite heraus. Ich war sicherlich nicht sehr geschickt darin, einen perfekten Zopf zu binden, da ich eigentlich so gut wie immer meine Haare offen trug - wild und ungebändigt.
Ich lief in die Umkleiden unter der Tribüne. Viel zu spät bemerkte ich allerdings, dass ich den falschen Weg zu den Cheerleader-Umkleiden gewählt hatte und so passierte es, dass ich in der Jungs-Umkleide landete. Sobald ich die ersten oberkörperfreien und zugegebenermaßen auch gut durchtrainierten Jungs sah, die mich sofort erblickten, wurde ich augenblicklich rot. Wie peinlich...
Schnell schritt ich einige Meter zurück, um nicht mehr in dem Türrahmen zu stehen, als ich irgendeine Stimme hörte, die ich zu keinem Gesicht zuordnen konnte: "Hey, heißes Girly! Du bist in der falschen Umkleide gelandet!"
Ach ne.
"Hey, lass sie in Ruhe. Sie hat sich sicherlich nur verlaufen", hörte ich nun Olivers Stimme hinter dem Gemäuer und ein paar Sekunden später stand er plötzlich vor mir im engen Gang.
"Hey. Du bist falsch abgebogen. Du musst in die andere Richtung." - Oliver deutete auf den unendlich langen Gang hinter mir. Er hatte bereits sein Trikot mit den breiten Schulterpolstern für das Spiel an. Der Helm klemmte unter seinem Arm. Ich war mir unsicher, ob ich darüber traurig sein sollte, dass er nicht wie die anderen Jungs oben noch ohne Bekleidung da stand. Und selbst wenn ich mir sicher wäre, wollte ich mir sicherlich nicht eingestehen, solche Vorstellungen zu besitzen. Ehrlich gesagt schämte ich mich für solche Gedankenwirrungen, die mich von der eigentlichen Situation ablenkten.
"Ich, ähm...ich hab wirklich gedacht, es wäre der richtige Weg. Jedenfalls zeigte der Wegweiser hier hin und darauf stand Cheerleader-Umkleiden." - Ich fasste mir verunsichert an die Stirn und prüfte, ob mein Gesicht bereits von einer Schweißschicht überzogen war.
"Was? Das glaub ich nicht. Komm, zeig mir den mal", befahl er. Sofort gingen wir den Gang hinunter. Es gehörte eine seltsame Atmosphäre dazu, seine Schritte hinter mir zu hören, aber ihn dennoch nicht zu sehen und noch komischer nicht einschätzen zu können, wie viele Meter uns voneinander trennten.
"Du siehst übrigens sehr gut in dem Cheerleader-Kleid aus", sagte Oliver und ich hörte in seiner Stimme das Grinsen, das er dabei vermutlich zog.
Zuerst lächelte ich selbst über diese Worte, doch dann spukte mir der Gedanke im Kopf herum, dass er auf meinen Hintern schauen könnte, der vielleicht unter dem Stoff hervorschaute.
Ich hoffte, es sah normal und unauffällig aus, wie ich schnell das Kleid ein Stück tiefer zog. Doch natürlich bekam er davon Wind, sodass ich es sofort bereute, mich so aufgeführt zu haben.
"Oh, lass es ruhig so. Es ist nichts zu sehen, was nicht gesehen werden sollte."
Ich spürte die Wärme und Röte, die mir zurück ins Gesicht stieg. Ich wusste nicht, ob ich mich dadurch eher geschmeichelt oder unwohl fühlen sollte. Also erwiderte ich nichts darauf und ließ die Worte so zwischen uns stehen.
Angespannt hielt ich an und drehte mich zu ihm. Zu meiner Linken lag der Haupteingang, zu meiner Rechten der Wegweiser und vor mir Oliver, der vom Schild zu mir und wieder zurückschaute. Nachdenklich, aber gleichzeitig lächelnd und fröhlich. Irgendwie wunderte es mich, dass er so ruhig vor eines der größten Spiele seines Lebens sein konnte.
"Okay, du hattest recht. Ich könnte schwören, das war vorhin noch anders."
Ich kannte Oliver mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass seine Sätze meistens noch eine andere Bedeutung, wie Metaphern oder Synonyme, enthielten - und mit diesem Satz meinte er offensichtlich, dass Cathrin hinter der Tat steckte. Sie musste es, bevor ich kam, vertauscht haben.
"Wirklich komisch", meinte ich, als hätte ich von nichts eine Ahnung: "Okay, ich denke, ich muss los und du sicherlich auch." - Nervös lächelte ich, was ziemlich albernd und kindisch aussehen musste und klopfte ihm mit einer Faust auf die Brust, die von der Ausrüstung gepanzert war. Das war peinlicher gewesen. Ich wollte so schnell wie möglich verschwinden, wie Cinderella kurz vor Mitternacht vor ihrem Prinzen geflohen war.
"Ja, ich sollte auch rauf aufs Feld. Wir sehen uns." - Damit ging er ein paar Schritte zurück, aber legte dabei nicht sein bezauberndes Lächeln vom Gesicht ab. Einen Moment lang verlor ich mich noch einmal in seinen Augen. In mir drehte sich alles, bis er sich von mir abwandte und den ganzen Gang zügig passierte. Ich wartete noch einige Sekunden ab, ob er sich noch einmal umdrehen würde, doch das tat er nicht. Dann machte ich mich selbst auf den Weg in die entgegengesetzte Richtung.
"Da bist du ja endlich, Jennifer!", fuhr mich Cathrins giftige Stimme an: "Deinetwegen kommen wir noch zu spät aufs Feld und dann wärst du der Grund dafür, dass die Wilddogs verlieren, weil es dann kein Glück für sie gibt!"
"Tschuldigung. Irgendjemand hat die Schilder zu den Umkleiden vertauscht", sagte ich rhetorisch, als wüsste sie nicht, wer das war.
"Ja klar, gute Ausrede! Das kannst du deiner Mom erzählen, wenn du wieder zu Hause bist! Jetzt komm! Wir müssen raus und du musst dich lächerlich machen."
Ich tat so, als hätte ich die letzte Anmerkung von ihr überhört und ließ zu, wie sie mich wieder fest am Handgelenk packte und aus der Cheerleader-Kabine heraus schleppte, direkt aufs hell beleuchtete Feld.
Meine Augen mussten sich zuerst noch an das helle Scheinwerferlicht gewöhnen, bis ich sah, wie großartig es war. So viele Menschen ringsherum, die alle auf uns heruntersahen und jubelten. Die Nacht über uns schien nicht mehr zu existieren. Das Blut gefror mir in den Adern und mein Puls erhöhte sich um ein Vielfaches.
Cathrin positionierte mich, wie eine Statue, in die Mitte der anderen Cheerleaderinnen, die sich wunderten, dass eine Neue dabei war. Ich ignorierte sie und konzentrierte mich alleine auf die Tanzschritte, die ich in den letzten Stunden so gut wie praktisch, als auch theoretisch durchgegangen war.
Ich erlitt für eine kurze Weile einen Herzstillstand, als die Musik erklang, die ich mittlerweile in- und auswendig konnte, sodass sie mir schon aus den Ohren kam. Der Song hatte etwas poppiges und irgendwie auch etwas Mitreißendes in sich. Aber das war ja auch so beabsichtigt.
Ich atmete tief durch, bevor die anderen Mädchen und ich anfingen zu tanzen. Zum Glück hatte Cathrin mir die richtige Choreo gegeben - irgendwie hatte ich bereits angenommen, dass sie mich aus Rache oder wie sie es auch immer nannte, eine falsche einstudieren ließ.
Die Einführung verlief so weit gut. Keine Schwierigkeiten. Doch auf Cathrin sollte wie immer Verlass sein.
Nach unserem Tanz liefen die Footballspieler mit eingeklemmten Helmen unter den Armen und blau-weißen Uniformen auf das Feld an uns vorbei. Das Feeling dabei war unbeschreiblich.
Ich erkannte unter ihnen Oliver und Luke, die ebenfalls mit einem Lächeln auf dem Gesicht und winkend zum Publikum, ihre Spuren ihrer Füße im künstlich grünen Rasen hinterließen.
Mein Atmen blieb mir im Hals stecken. Ich sah die Spieler, die sich in ihre Position stellten und ihre Anhänger, die sie anfeuerten. Vor einigen Tagen hatte ich noch dort auf der Tribüne gesessen und auf das Geschehen nach unten geschaut.
Nun versammelten sich auch die Gegner der Wilddogs, deren Namen ich aus irgendeinem Grund vergessen hatte, auf der gegenüberliegenden Seite. Um das Team zu verkünden, dass beginnen durfte, wurde eine Münze geworfen. Natürlich stieg dabei die Spannung.
Die Wilddogs hatten den Anstoß oder wie auch immer man es beim Football nannte.
Die Trillerpfeife des etwas übergewichtigen Schiedsrichters erklang und ließ somit das Spiel starten. Unsere Arbeit als Cheerleader war somit für diesen Moment getan und wir konnten uns auf der Seitenlinie das Vorgehen anschauen. Es war spannender, als das letzte. Die gegnerischen Spieler waren besser als die letzten, soweit ich das beurteilen konnte.
Die Minuten vergingen gerade zu schnell. Der Ball wurde von einer Seite auf die nächste getragen und katapultiert, was die Augen mit sich riss. Irgendwann, kurz vor der Halbzeit, erzielte die gegnerische Mannschaft einen Touchdown und gleich darauf auch die Wilddogs. Dann erklang das Geräusch für die Pause. Doch nicht für uns Cheerleaderinnen.
Cathrin zog mich wieder zurück aufs Feld, als hätte ich keine eigenen Beine zum Laufen und ehe ich mich versah, erklang ein neuer Song, den ich noch tausendmal hätte hören können. Im Hintergrund wurden sanfte Gitarrenakkorde gespielt, die beinah hinter der poppigen Melodie vollständig verschwanden.
Auch dieses Mal gab es keine Schwierigkeiten. Als auch diese Halbzeit vorbei war und die Spieler ihre Position wieder einnahmen, überwältigte Cathrin mich jedoch mit einer Information, die anscheinend alle wussten, außer ich.
"Alles klar, Girls! Ihr kennt die Choreo. Ach Jennifer. Das ist etwas selbst einstudiertes, das wir aus einer alten Schublade herausgezogen haben. Kam sehr kurzfristig. Wir werden das über die letzten Minuten des Spiels tanzen. Stell dich einfach nach hinten, dann kann dir nichts passieren, ja?"
Wut stieg in mir auf. Natürlich konnte ich Cathrin nicht einmal für einen Abend trauen. Sie war einfach nur eine falsche Schlange, die jeden um den Finger wickelte.
Doch ich nahm es hin. Ich hatte bereits einen guten Auftritt hingelegt. Was machte es, wenn ich nur ganz hinten etwas mit den Händen wedelte?
Neue Musik erklang, die mir noch niemals zuvor ins Ohr gekommen war. Die Trillerpfeife erklang und verkündete die letzten Minuten des Spieles. Am liebsten hätte ich das Geschehen auf dem Feld weiter von der Seitenlinie aus mitverfolgt.
Mein Blick wanderte zu Oliver, der den nächsten Spielzug Hut Hut seinen Playern verkündete und die Position einnahm, um den Football entgegenzunehmen.
Er sah so unglaublich gut mit seinem Trikot und dem Helm auf dem Kopf aus. Was würde ich nicht alles dafür geben, etwas Zeit zu zweit mit ihm zu verbringen, ohne Angst haben zu müssen, dass Cathrin unerwartet auftauchen würde.
Wie geplant wedelte ich etwas mit den Händen umher. Keiner schien zu bemerken, dass ich die Choreo nicht beherrschte, bis...
Die Mädchen erhoben sich und bildeten vor meiner Nase eine hohe Pyramide. Ich stand dahinter und schaute bloß hinauf auf diese riesige Mauer aus Schülerinnen.
Jetzt reicht es endgültig! Cathrin war eindeutig zu weit gegangen!
Ich würde mich hier und jetzt an ihr rechen! War mir egal, wenn ich von Hunderten von Zuschauern beobachtet wurde, wie ich dem Cheerkäptin die Haare vom Kopf riss.
Gerade bahnte ich mir den Weg an der Pyramide vorbei, als ich Schreie vom Spielfeld hörte. Zwei bekannte Stimmen, die sich schon fest in meinen Schädel gebohrt hatten. Schimpfwörter fielen unaufhörlich.
Ich zögerte keinen Augenblick, um zwischen Olivers und Lukes Auseinandersetzung zu funken. Sie prügelten während des Spieles aufeinander ein. Alle Zuschauer waren verblüfft darüber. Der wichtigste Tag ihrer Karriere und sie stritten sich und machten die ganze harte Arbeit, die sie über Monate aufgebracht hatten, mit einem Mal zunichte.
Ich trennte die beiden voneinander, die sich mittlerweile auf dem Boden wiedergefunden hatten. Doch das stoppte sie keines Falls. Alle meine Instinkte schrien, dass das ein böses Ende nehmen würde und ich hier gerade meinen markellosen, ohne blaue Flecken übersäten Körper aufs Spiel setzte. Doch wenn es eine Sache gab, die ich verabscheute, seit ich hier in Elizabeth City angekommen war, dann das Streiten von Oliver und Luke. Man durfte sie wirklich keine Sekunde zusammen ausgesetzt lassen, sonst fielen sie wie wilde Raubkatzen übereinander her.
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