12.

Gedankenverloren rühre ich mit dem Löffeln in meiner rechten Hand in dem Macchiato, der vor mir steht. Dabei sollte ich meiner Schwester dabei zuhören, die sich Gedanken über meinen Ausflug mit Ruby gemacht hat. Dass ich bereits eine Liste zuhause liegen habe, wo schwarz auf weiß steht, was ich für meine Nichte und mich geplant habe, scheint ihr dabei herzlich egal zu sein, denn ohne Punkt und Komma philosophiert sie vor sich hin und schwingt ihren Finger hin und her. 

"Ah, und vergesst auf keinen Fall den Markt zu besuchen! Oh, und-"

"Soph, ich weiß deine Ideen ja zu schätzen, aber das ist unnötig." Ich sehe zu ihr auf und merke, wie ihr Mund offen steht. "Mir ist bewusst, dass du dir wünschst, dass deine Tochter sieht, woher ihre Mutter kommt, du solltest aber nicht vergessen, dass das auch mein Zuhause war. Vertrau mir einfach, okay?"

Ertappt beißt sie sich auf ihre Unterlippe, bevor sie zaghaft nickt. Dabei schwingt ihr pechschwarzer Pferdeschwanz auf und ab, bis er auf ihrer Schulter zum Ruhen kommt. "Das tue ich und das weißt du auch. Ich ..."
Sie zuckt mit ihren Schultern und ihr Mund verzieht sich zu einem entschuldigenden Lächeln. "Ich dachte eigentlich, dass Jason und ich ihr Valencia zeigen würden. Was nicht heißt, dass ich deine Idee, es ihr zu schenken, nicht toll finde, denn das tue ich."
"Aber es nagt schon etwas an dir", spreche ich ihre Gedanken aus, was ich durchaus nachvollziehen kann. Ich werde vermutlich niemals wissen, was es heißt ein eigenes Kind zu haben, daher kann ich nur erahnen, was für Gefühle dies in Sophia auslöst. Dass sie und Jason mir diesen Urlaub also abgesegnet haben, bedeutet mir mehr, als sie denkt. 

"Wenn du möchtest, kannst du mir einfach schreiben, was du ihr zeigen wolltest, und ich schaue, was nicht auf meiner Liste steht. Ich hatte sowieso viel freie Zeit eingeplant, von daher sollte es kein Problem sein, wenn das ein oder andere noch dazukommen sollte."
Keine Sekunde später hat sie ihr Handy gezückt und tippt wild drauf los. Ich nutze den Moment und schaue aus dem Café, in dem wir sitzen. Beobachte wie die Menschen voller Hektik an uns vorbeiziehen und sich offensichtlich vom einen zum anderen Ort hetzen. Mittlerweile vermisse ich das Gefühl, Zeit zu schätzen, denn ein unsterbliches Leben ist zwar unendlich, doch irgendwann kommt man an den Punkt, an dem es sich anfühlt, als würde alles still stehen. 

Erst das Summen meines Handys in meiner Hosentasche lenkt meine Augen zurück zu Sophia, die mich fragend mustert und ihre Lippen abschätzend verzieht. "Ist alles okay bei dir? Du wirkst so abwesend."
"Nein nein, alles gut." Ich setze ein Lächeln auf, bevor ich einen Schluck meines Cappuccinos trinke und die Hitze des Getränks willkommen heiße, ohne auf die eingekommene Nachricht zu reagieren. "Ich habe nur überlegt, wann es zeitlich passen würde. Da ich in den Ferien wahrscheinlich viel bei Ally arbeiten werde, wird es vermutlich erst in den kommenden Ferien bei mir passen. Ich muss Ruby nur fragen, ob es bei ihr auch passt. Außer, ihr hattet da schon etwas vor?"

Sofort schüttelt sie den Kopf, obwohl sie sich überlegend gegen ihr Kinn tippt. "Wir haben nichts geplant. Es wäre nur toll, wenn du uns rechtzeitig bescheid gibst, vielleicht können Jason und ich dann auch zeitgleich verreisen. Zumindest würde es sich dann anbieten." Ein Seufzen schlüpft aus ihrem Mund. "Manchmal vermisse ich die Zeit auf der Hell wirklich. Vielleicht wäre das eine Gelegenheit für uns, wieder auf See zu fahren, um zumindest wieder auf Wasser zu sein. In Erinnerungen schwelgen. Und wir müssten uns keine Sorgen um Ruby machen, immerhin wäre sie bei dir sicher."

Ihre Worte sorgen dafür, dass mein Lächeln sich in ein echtes verwandelt und nicke zustimmend. "Ich bin mir sicher, dass Jason es begrüßen würde, mit seiner Frau mal wieder eine Reise allein zu zweit zu machen." Im selben Moment beginnt ihr Handy zu klingeln und sobald sie auf die Anzeige sieht, sagt ihr Blick mehr als Worte, bevor sie es an ihr Ohr hält. "Hey Baby."

Während sie ihrem Mann zuhört, widme ich mich dem Rest meines Getränks und widerstehe der Versuchung in die Tasche zu greifen, um nachzusehen, von wem die Nachricht ist. Denn mein erster Gedanke war genau der, der mich hat zögern lassen. Es dauert jedoch nicht lange, bis ich Sophia meinen Namen sagen höre und sie grinsend in meine Richtung schaut. "Hast du heute noch etwas vor?"

Sofort schüttle ich den Kopf, mustere sie aber fragend, woraufhin sie einen Fingern wartend hebt und noch "Ja, das passt. Dann bis gleich!", sagt und auflegt. Dann widmet sie sich ganz mir und ich weiß nicht, ob das Funkeln in ihren Augen etwas Gutes oder Schlechtes verheißt. "Lust auf ein paar Drinks?"

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Mit Sophia's Wagen brauchen wir nicht lange, um uns durch den Stadt-Verkehr zu schlängeln und die Strecke in Richtung der Berge anzuvisieren. Da nicht nur mich die Ferien betreffen, sondern natürlich auch Ruby, wundert es mich nicht, dass die drei diese Zeit nicht in dem Appartement in der Stadt wohnen, sondern diese nutzen, um sowohl Ruhe als auch Abgeschottenheit und frische Luft zu tanken. Die Fahrt bietet meinen Gedanken dennoch genügend Zeit, um in Richtungen zu wandern, die ich bisher gut abwenden konnte und ich gedenke dies nicht zu ändern. Und wer weiß, vielleicht tut meinem Kopf die Luft auf dem Anwesen auch ganz gut und lenkt ihn wieder in die richtigen Bahnen.

Wollen wir es hoffen.

Sophia schien währenddessen hinter dem Steuer zu entspannen, was mich nicht wundert. Sie war schon immer diejenige von uns, die die Kontrolle in der Hand haben musste. Ich kenne auch nur eine einzige Person, bei der sie diese vollständig abgibt, und ich glaube kaum, dass sich das jemals ändern wird. Vielleicht ist auch das der Grund, dass sie immer mehr im Vordergrund stand und ich im Schatten.

Eine Mischung aus Erleichterung und Anspannung breitet sich in meinem Körper aus, als wir in weniger als zwei Stunden auf dem Anwesen der Grants ankommen und mich der Anblick dessen wie immer umhaut. Wie viele Hektar ihr Gelände insgesamt besitzt, will ich mir gar nicht ausmalen, und zu wissen, dass es einen Bereich ganz für mich allein gibt, den ich bisher aber kaum genutzt habe, hinterlässt zusätzlich Unwohlsein in mir.

Sophia scheint es zu spüren, was ich an ihrem verständnisvollen Lächeln erkenne. "Keine Sorge, ich habe mich bis heute auch nicht daran gewöhnt, dass das alles mir, uns gehört." Ihre Augen wandern auf den Eingang. "Ich meine, von einem kleinen Häuschen in Valencia zu einer Villa in einer der angesehensten Städte Amerikas - das ist ein beachtlicher Sprung, wie sich unser Leben verändert hat, oder?"

Ich zucke mit den Schulter, denn wenn ich ehrlich sein soll, hatte ich nie das Gefühl, dass sich in meinem Leben viel geändert hat. Nicht ich bin es, die all das hat, was sie sich niemals zu träumen gewagt hätte. Und nicht ich bin es, die von sich sagen kann, dass sie vollends zufrieden mit ihrem Leben ist.

Denn ich bin es nicht. 

Aber mir das einzugestehen ist eine ganz andere Sache. Geschweige denn darüber nachzudenken, was ich mir wünsche.

Wir steigen aus dem Wagen und ich folge Sophie durch die Eingangstür, in der geschwungener Schrift der Name Grant prangt. Ich weiß nicht wieso, doch in dem Moment spüre ich ein Ziehen in meiner Brust, der sich auch nicht abschütteln lässt, sobald wir im Wohnbereich ankommen und dort Jason antreffen, der offensichtlich auf uns zu warten scheint. Auch wende ich meinen Blick ab, als er seine Frau sofort zu sich zieht und sie mit einem Kuss begrüßt.

Was stimmt nur in letzter Zeit nicht mit mir?

Ich lasse meinen Blick um mich schweifen und merke, dass ich mich nicht einmal daran erinnern kann, wann ich das letzte Mal hier gewesen bin. Erst, als ich eine Hand auf meiner Schulter spüre, wende ich mich wieder zu ihnen und blicke geradewegs in Jasons's Augen, versuche mich an einem Lächeln. "Jedes Mal, wenn ich hier bin, fühle ich mich, als würde ich einen kleinen Palast betreten. Das ist echt beängstigend."

Schmunzelnd küsst er meine Schläfe, kann sich aber das Grinsen einfach nicht verkneifen.  "Es ist auch schön dich zu sehen, Val." Er nickt zu Sophia, fügt ein "Ich dachte mir ihr wollt mit Sicherheit einen der guten Weine trinken", hinzu und nickend folge ich ihm. Sophia hat es sich währenddessen auf der Sofalandschaft bereits gemütlich gemacht und ihr Glas in der Hand. Während Ich lasse mich nun ebenfalls auf das angenehme Polster fallen und lasse mir dankend mein Glas reichen, bevor wir drei anstoßen und ich meines an die Lippen führe. Der bittersüße Geschmack rinnt meine Kehle hinunter, und ich könnte sogar schwören, einen Hauch von Blut zu schmecken. Oder meine Geschmacksknospen gieren bereits so sehr danach, dass es langsam wirklich Zeit wieder eine gute Ration zu mir zu nehmen.

Seufzend lasse ich mich nach hinten fallen, schwenke das Glas in meiner Hand uns sehe vom einen zum anderen, bevor meine Augen auf Jason stoppen. "Ich weiß nicht, was Sophia dir am Telefon schon gesagt hat, aber wegen meinem Geschenk für Ruby, haben wir uns heute ein wenig darüber unterhalten."

Seine Stirn runzelt sich, bevor er den Kopf schüttelt. "Ich bin ganz Ohr." In Kurzfassung erzähle ich ihm von der Liste, auf denen ich bereits die Orte und Plätze angefangen habe zu sammeln, die ich Ruby zeigen will, sowie der Zeitraum, an den ich gedacht hatte. "Da es in den jetzigen Ferien zu kurzfristig ist, dachte ich eventuell an den Herbst, dann ist es einerseits nicht brühend heiß, andererseits könnten wir die gesamten Ferien verreisen. Ich kann Ally frühzeitig Bescheid geben und um Urlaub bitten."
"Und wir könnten auch einen kleinen Urlaub zwischenschieben", fügt Sophia hinzu und auch ohne ihr Gesicht sehen zu müssen, weiß ich, dass bestimmte Gedanken in ihm zu sehen sind.

Jason nickt und trinkt einen Schluck, bevor seine Augen von Sophia wieder bei mir landen. "Das klingt nach einer guten Idee, Ruby wird sich mit Sicherheit freuen. Hat sie auch Wünsche geäußert, was sie gerne machen möchte?"
Ich schüttle den Kopf. "Bisher ist es zu einer richtigen Planung gar nicht gekommen. Heute war es das erste richtige Mal, dass ich es angesprochen habe. Aber das wollte ich ändern, sobald ich sie sehe."

"Wie wäre es wenn du übers Wochenende bleibst? Ich kenne da noch jemanden neben Ruby, der sich darüber sehr freuen würde. So ist genug Zeit um den Plan ein wenig realistischer zu machen."
Ich schaue über meine Schulter zu Sophia, die mich anlächelt, aber den hoffnungsvollen Ganz in ihren Augen nicht verbergen kann. Ich nicke in ihre Richtung, füge ein "Sehr gern", hinzu und merke, wie ernst ich diese wenigen Worte meine. Es ist zu lange her, dass ich wirklich Zeit mit meiner großen Schwester verbracht habe und nicht nur wenige Stunden.

Jason stellt sein Glas daraufhin klirrend auf den Tisch und steht auf, sieht uns dabei wissend an. "Wie wäre es, wenn ihr das Haus für euch nutzt und ich zu Logan rüber gehe. Soweit ich weiß sind Benni und Eliza nicht zuhause und Alison hat Sarah eingeladen, da kann Logan bestimmt ebenso gut seinen Bruder gebrauchen."
Unwillkürlich zucke ich leicht zusammen, versuche es aber zu verschleiern, indem ich meine Schultern kreisen lasse. "Das klingt nach einer guten Idee." Ich werfe einen Blick über meine Schulter. "Was sagst du - ein waschechter Mädelsabend mit Fast Food, Mädchenfilmen und ganz viel Spa-Feeling?"

Statt etwas zu sagen, steht Sophia auf, geht auf ihren Mann zu und gibt ihm einen Kuss auf die Wange, dreht sich dann aber zu mir und hält mir ihre Hand entgegen. "Dann lass uns mal keine Zeit verlieren und alles vorbereiten. Ruby kann sich ja uns später anschließen, wenn sie Lust hat."

Währen Jason uns also allein lässt, widmen wir uns der akribischen Vorbereitung - was bedeutet, einen guten Lieferdienst auszusuchen, allerlei Süßkram und Snacks auf dem großen Wohnzimmertisch zu verteilen und dann das Sofa so kuschelig wie möglich auszustatten. Während die Sonne im Hintergrund langsam ankündigt, untergehen zu wollen, verbringen wir die nächste halbe Stunde im großen Badezimmer, hüllen uns in flauschige Bademantel und stecken das Haar in die Höhe, damit sich keine Strähnen in den Masken verfangen können. Sobald diese auf unseren Gesichtern verteilt sind, sind unsere Nägel dran, die wir kichernd in bunten Tönen lackieren. 

Wir tragen die Masken sogar, als wir dem Lieferanten mit unserer Sushi-Bestellung die Tür öffnen und seinem gleichzeitig amüsierten und geschockten Gesicht begegnen. Sobald dann auch dies auf dem Tisch steht, lassen wir es uns gutgehen, suchen uns eine klassische Komödie mit Seufz-Faktor aus und kuscheln uns zusammen unter eine Decke. 

Je länger ich neben ihr sitze, sie beobachte wie sie schmunzelt oder anfängt zu lachen, desto mehr spüre ich, wie ich genau das vermisst habe. Als wir noch zusammen gewohnt haben, uns eine Wohnung geteilt haben, gab es genug solcher Abende. Ich habe mich nie einsam gefühlt, nie den Drang gehabt, die Nähe eines anderen Menschen zu suchen. Doch wenn ich jetzt darüber nachdenke, desto mehr merke ich, wie sehr mir die Anwesenheit einer Person in meinem Leben fehlt, mit der ich nicht nur wenige Stunden verbringe. 

Vielleicht ist es auch genau das Gefühl, dass meinen derzeitigen Gefühlszustand am besten begründet und warum ich mich plötzlich zu jemanden hingezogen fühle, den ich sein ganzes Leben schon kenne. 

Ich bin so tief in meiner eigenen Welt versunken, dass ich erst merke, dass der Film gestoppt wurde, als ich keinerlei Ton vernehme und zu Sophia schaue, die mich aufmerksam mustert. In ihren Händen die Fernbedienung. "Möchtest du nicht doch mit deiner Schwester über das reden, was dich so aus dem Konzept zu bringen scheint? Und versuch es erst gar nicht abzustreiten, ich bemerke es drei Meilen gegen den Wind."

Ihre Hand greift nach meiner und verschränkt sie ineinander. "Ich bin immer noch deine Schwester, Valeria. Und ich bin immer für dich da. Egal wo, egal wann."
Ich presse meine Lippen aufeinander und versuche das Brennen in meinen Augen zu unterdrücken. "Ich weiß."

Aber es ist leichter gesagt als getan.

"Ich glaube, ich bin momentan an einem Punkt angekommen, an dem ich merke, dass sich etwas in meinem Leben ändern muss. Dass ich es ändern will. Aber ich weiß nicht wie."
"Und was ist es, was du willst?"

Jemand, der mich genauso liebt wie Jason dich.

Ein Leben, bei dem ich mich nicht wie das fünfte Rad am Wagen fühle.

Das Gefühl, endlich anzukommen wie alle anderen.

"Zu viel, wies es scheint", antworte ich stattdessen und sehe von unseren verschlungenen Händen auf. Dabei wird mir bewusst, dass wir noch immer diese grellgrünen Masken tragen und kann nicht anders, als meine Mundwinkel zu heben. "Und endlich dieses Zeug aus meinem Gesicht bekommen."
Wir beide fangen an zu lachen, doch bevor wir uns wirklich zurück ins Bad begeben, drückt Sophia nochmals meine Hand. "Glaub mir, das Gefühl kenne ich. Aber es wird vergehen. Irgendwann. Und dann wird der Zeitpunkt kommen, an dem du dir dein Leben ansiehst und froh über jeden einzelnen Moment bist. Du guten als auch die schlechten."

Ich nehme mir Sophia's Worte zu Herzen und verstaue sie dort sorgsam. Und für den Rest des Abends, an dem sich Ruby tatsächlich noch zu uns gesellt, weigere ich mich die düsteren Gedanken an mich rankommen zu lassen. Nicht einmal, als ich nach Stunden das erste Mal nach meinem Handy greife. Und es scheint mir beinahe wie eine Belohnung, während ich die Nachricht meiner besten Freundin lese und mir denke, dass das vielleicht die Bestätigung für Sophia's Worte ist.

Irgendwann. Und für den Moment reicht mir das.

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