10.

Immer wieder tippe ich mit dem Textmarker gegen meine Lippen, während ich in meinem Drehstuhl von rechts nach links schwinge und zurück. Eigentlich sollten meine Gedanken voll und ganz auf den Unterlagen vor mir liegen, die Alison noch heute durchgehen muss, da es sich um dringliche Angelegenheiten handelt. Doch mein Kopf schweift unwiderruflich aus diesen vier Wänden, zu einem gewissen Mann, der auf eine Art und Weise meine Gedanken beherrscht, die dermaßen von falsch sind, dass ich sie sofort von mir schieben sollte. 

Aber aus irgendeinem Grund ist das leichter gesagt als getan. 

Noch immer muss ich an seine Hände denken, deren warme Haut meine festhielten. Das verschmitzte Grinsen auf seinem vollen Mund, das sich einerseits über mich amüsiert, andererseits aber auch so verführerisch einladend aussahen, dass es mich nicht wundert, wieso so viele Frauen den Drang danach haben, sich ihm an den Hals zu werfen. Und sobald man in dieses tiefe Blau blickt ...

Ruckartig schüttle ich meinen Kopf, gebe ein lautes Seufzen von mir und stehe auf, um mich an die Fensterfront zu stellen. Für eine einfache Angestellte besitze ich dennoch einen Luxus, von dem viele in meiner Position nur träumen können. Ein eigenes Büro, das nicht nur mit hochwertigen Möbeln ausgestattet ist, sondern auch eine tolle Aussicht auf einen Teil von San Francisco bietet. Ein Lohn, der überdurchschnittlich für einen Beruf wie meinen ist. Ein Arbeitsfeld, wo ich mich nicht nur mit allen Mitarbeitern verstehe, sondern auch sagen kann, dass unsere Chefs fair und gerecht zu allen sind. Und genau deswegen versuche ich immer mein Bestes zu geben, nicht nur, weil diese Menschen zu meiner Familie gehören, sondern auch, weil ich es ihnen schuldig bin, ihnen so viel zurückzugeben, wie sie mir reichen. 

Mich auf diese Dinge zu fokussieren, schafft es, dass ich nicht mehr an Benni denken muss, sondern mich voll und ganz auf den Stapel Papiere konzentrieren kann, bis ich viel schneller als erwartet fertig bin und zufrieden auf meinen nun leeren Schreibtisch schaue. Dann nehme ich die Blätter unter meine Arme und verlasse mein Büro, um ein paar Meter weiter an die nächste Tür anzuklopfen und zu warten, bis Alison's weiche Stimme erklingt und ich die Türklinke runterdrücke. Wie immer erstrahlt ihre Statur in einem perfekt anliegenden weißen Kleid, das sämtliche ihrer Kurven betont und in Szene setzt. Lächelnd hebe ich den Stapel hoch, woraufhin sie anerkennend nickt und dann auf ihren Schreibtisch deutet. "Leg es einfach dort ab, ich sehe es mir gleich an."

Wie geheißen, staple ich alles in der Mitte des dunkelbraunen Holz, stelle mich dann neben sie und schaue mit ihr aus dem Fenster. Kann ich mich schon nicht über meine Aussicht beschweren, kann man bei dieser glatt neidisch werden. Man kann wahrhaftig über die ganze Stadt sehen, während aus meiner Sicht einige Hochhäuser diese ein wenig beeinträchtigen. Doch hier - hier hat man das Gefühl, dass Black Industries sich im höchsten Gebäude der Stadt befindet. Dass wir alle überragen - und in gewisser Weise stimmt dies auch. 

"Ist alles okay bei dir?", ertönt irgendwann ihre Stimme durch die Stille, die sich über uns gelegt hat. Ich versuche zu lächeln, denn an sich lautet die Antwort ja. Ja, bis auf die Tatsache, dass ich auf eine Weise an ihren Sohn denke, was ganz und gar nicht angebracht ist. Und das nicht nur, weil wir quasi eine Familie sind, sondern auch, weil ich nicht nur um ein Vielfaches älter bin als er, sondern ihn schon sein ganzes Leben begleite. Und verdammt, ich bin seine Tante!

"Alles gut", antworte ich daher und zucke mit den Schultern. "Ich bin froh, wenn ich den offiziellen Abschluss in der Tasche habe und mich nicht mehr in Herrgottsfrühe aus dem Bett zwingen muss." Ihr Schmunzeln ist alles, was sie darauf sagt, und wir bleiben noch einen kurzen Moment so stehen. Erst das Vibrieren eines Telefons reißt unsere Aufmerksamkeit von der Stadt, woraufhin ich sie allein mit ihrem Gesprächspartner lasse und in meinem Büro nur noch nach meiner Jacke und meiner Tasche greife, ehe ich das Gebäude für den heutigen Tag verlasse. Das Wetter verheißt einen schönen Nachmittag, der genutzt werden will. Und da mir nur drei Personen einfallen, mit denen ich die Sonne und die warmen Temperaturen genießen will - wobei eine kategorisch rausfällt - zücke ich nun mein Handy und tippe die wenigen Worte, bevor ich meine Hand hebe und eines der vorbeifahrenden Taxis anhalte.

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Trotz der Tatsache, dass Vampire viel mehr Alkohol vertragen als Menschen, spüre ich bereits, wie das Karussell in meinem Kopf sich immer schneller drehen will und meine Zunge um einiges lockerer geworden ist als einige Stunden zuvor. 
Nachdem ich mich zuhause in ein lockeres Kleid geworfen habe, haben Matteo, Lynn und ich uns in der Nähe der Golden Gate getroffen und sind eine Weile spazieren gegangen, bevor uns unser Weg erst in ein Target und dann zu seinem Apartment führte. Stunden später sitzen wir mitten in seinem Wohnzimmer, die Flaschen an Sekt und Wein neben uns, und schauen auf den Fernseher vor uns. Der Clou: jeder von uns hat ein Wort, bei dem er trinken muss. Und während Lynn's "Zombie" noch verhältnismäßig wenig auftaucht, habe ich bei meinem "Virus" schon so viel getrunken, dass selbst ich langsam die Auswirkungen des Alkohols spüren kann. Selbst Matteo scheint noch recht nüchtern zu sein, auch wenn langsam aber sich auch sein Gemüt lockerer und gelassen wirkt.

"Wer zum Teufel hat diesen beschissenen Film ausgesucht?", ist auch er derjenige, der seinen Kopf brummend in den Nacken fallen lässt. Lynn's und meine Augenbrauen heben sich gleichzeitig, als wir synchron antworten: "Du!"
Entschlossen greift er daraufhin nach der Fernbedienung und der Bildschirm wird schwarz. Meine Augen bleiben an meinem besten Freund haften, der plötzlich sehr nervös erscheint, zumindest für mich. Denn obwohl er es versucht zu verbergen, verraten ihn sowohl das Spielen seiner Finger an seiner Jeans als auch seine Augen, die nicht recht zu wissen scheinen, was er tun oder sagen soll.

"Gibt es etwas, was du uns sagen willst?", frage ich daher, was auch Lynn's Aufmerksamkeit auf ihn richten lässt. Matteo scheint einen Moment zu brauchen, doch dann formen seine Lippen ein lautloses "Scheiß' drauf", bevor er fragt: "Denkt ihr, es gibt den richtigen Zeitpunkt dafür, den nächsten Schritt zu machen?"

Während ich einen Moment brauche, um seine Worte zu verarbeiten, quietscht Lynn begeistert auf, klatscht in ihre Hände und grinst bis über beide Ohren. "Oh. Mein. Gott!"
Da ich nun auch verstanden habe, worauf Matteo hinaus will, kann ich nicht verhindern, dass sich auch auf meinem Mund ein Lächeln bildet. "Wie lange denkst du darüber nach?"
Unbeholfen reibt er sich über seinen Nacken. "Eventuell eine Weile."

Lynn ist natürlich sofort Feuer und Flamme. Für sie ist alles, was mit Liebe und Romantik zu tun hat, ein gefundenes Fressen für ihre Klauen, die nur danach gieren, Amor zu spielen, egal auf welche Weise. Ich lege meinen Kopf schief und mustere ihn, frage mich innerlich, wie es kommt, dass meinem besten Freund diese Frage beschäftigt. Immerhin sind er und Elli schon viele Jahre ein paar - für unsere Art zwar einen gefühlten Wimpernschlag und dennoch so intensiv, dass man denken könnte, dass sie bereits mehrere Jahrzehnte ein Paar wären. Und ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet jetzt die Zeit kommen ist, in der für ihn dieser Schritt infrage kommen würde.

"Du weißt die Antwort doch schon längst", antworte ich sanft, was durch Lynn's energisches Nicken unterstützt wird. Matteo's Schultern lockern sich, was den Startschuss für meine beste Freundin gibt, ihre Gedanken und Vorschläge über das Thema "Wie sieht der perfekte Antrag aus" ausführlich mit uns zu teilen. Man könnte beinahe denken, dass sie nur auf solch einen Augenblick gewartet hat, was bei ihr nicht mal verwunderlich wäre. Da ich mich mit diesem Thema aber nicht sonderlich beschäftigt habe - wozu auch? - höre ich ihr stattdessen einfach nur zu. Lasse mich von ihrer Stimme berieseln und halte Matteo genau im Auge, welche Ideen ihm zusagen und bei welchen er geradezu das Gesicht verziehen muss.

"Wie wäre es, wenn du Ellie zeigst, woher du kommst?", werfe ich ein, als Lynn ihm mehrere Locations in San Francisco zeigt, die für solch ein Ereignis perfekt seien. Aber ich kenne Matteo und weiß, dass wenn er etwas plant, es perfekt sein soll - und was wäre besser als der Frau, die er liebt, zu zeigen, woher er kommt? Und sobald ich das Glitzern in seinen Augen erkenne, weiß ich genau, dass es für ihn beschlossene Sache ist. 

"Ach, du kommst nicht von hier?", fragt Lynn neugierig, woraufhin er den Kopf schüttelt. "Nein, ich bin in Italien geboren. Meine Familie ist hierher ausgewandert", beantwortet er mit einem gehobenen Mundwinkel ihre Frage, bevor er dann zu mir sieht. "Und die Idee klingt wirklich toll. Mir würde sogar schon ein Ort einfallen."
Er erzählt uns von einer Galerie im römischen Stadtzentrum, in der noch heute einige Gemälde aus seiner Familie ausgestellt seien. Meines Wissens nach stammen jedoch alle ausschließlich von seinem Vater Vincenco Marocu, der, laut Sophia, schon damals als Künstler viel gereist sei, um seiner Frau Anna ein gutes Leben zu ermöglichen. 

"Es wäre die ideale Gelegenheit, da ich ihr so einen Teil meiner Vergangenheit zeigen kann, aber auch selbst wieder die italienische Luft atmen kann. Amerika ist natürlich genauso toll, aber man vergisst eben nie, woher man kommt."
Unwiderruflich entstehen Bilder vom Valencianer Hafen, von unserem damaligen Zuhause. Von mamá und papá. Meine Erinnerungen mögen nicht dieselben sein wie die meiner Schwester und dennoch gibt es noch heute den Teil in meinem Herzen, der sich zurück in die spanische Sonne sehnt. Der Kultur, der Erinnerungen, des Lebens vor der Ewigkeit. Wie gut, dass du deiner Nichte etwas geschenkt hast, dass nicht nur ihr einen Teil ihrer Herkunft nahebringt, sondern auch dir zugute kommt.

Meine Augen wandern zu der untergehenden Sonne, die ihre letzten Strahlen durch die Fenster zu uns scheinen lässt, und spüre das dringende Bedürfnis nach Luft. Und genau dem komme ich nach, indem ich verkünde, dass ich mich langsam auf den Heimweg machen sollte. "Wenn du mir einen Moment gibst, komme ich direkt mit", merkt Lynn an und ist im nächsten Moment schon in Richtung Badezimmer verschwunden. Matteo nutzt die Gelegenheit und kommt auf mich zu, zieht mich in seine Arme und legt sein Kinn auf meinem Scheitel ab. "Danke, Val."
"Wofür?", brumme ich und löse mich soweit, dass ich zu ihm aufsehen kann. "Ich habe nicht viel gemacht. Ich dachte nur, dass-"

"Genau deshalb." Sein Griff um mich verstärkt sich. "Du wusstest genau, was ich wollte, ohne dass ich es aussprechen musste. Weil du mich kennst und das ist nicht selbstverständlich."
"Du weißt, dass ich dir bei allem helfen würde. Du bist nicht nur mein bester Freund, sondern auch meine Familie, Matt."
Ich blinzle das Brennen in meinen Augen weg, nicht nur, weil ich es hasse verletzlich zu wirken, sondern auch, weil es genau das Thema Familie ist, was mir in einer gewissen Sache Kopfzerbrechen bereitet.
Wie jedes Mal, wenn ich ihn bei diesem Spitznamen nenne - und das kommt viel weniger vor als man denkt - küsst er mein Haar, bevor er mich loslässt, nur um seinen Arm um meine Schultern zu legen. "Dito, Kleines. Und denk nicht, dass ich nicht mitbekommen hätte, dass deine Gedanken nicht die ganze Zeit hier waren. Aber das heben wir uns für ein anderes Mal auf."

Wie aufs Stichwort erscheint Lynn vor uns, fertig angezogen und auf mich wartend. Nachdem wir uns von Matteo verabschiedet haben, teilen wir uns ein Taxi, welches erst bei mir halten wird, bevor es sie nach Hause fährt. Das quietschgelbe Fahrzeug reiht sich gekonnt in den Verkehr, der selbst zu später Stunde kaum nachgelassen hat. Mit geschlossenen Augen lasse ich meinen Kopf nach hinten in den Nacken fallen, reibe mir über die Lider und spüre, wie der Tag auch die restlichen Kraftreserven meines Körpers aussaugt. Die Schwarzhaarige neben mir scheint hingegen vollkommen fit, bereit für die nächste Schandtat oder Story. Zu meinem Glück strapaziert sie mich für den heutigen Tag nicht mehr, sondern verabschiedet sich, sobald das Taxi gehalten hat, mit einer festen Umarmung von mir. "Wir sehen uns, Val."

Kurz darauf schlage ich die Wagentür zu, schaue dem Taxi hinterher, bis es nur noch ein kleiner Punkt in der Ferne ist, und wende mich dann zur Eingangstür. Der Tag hat unscheinbar begonnen und endet damit, dass mein bester Freund bereit ist den nächsten Schritt zu wagen. Alle um mich herum scheinen dies zu tun, nur mir will es einfach nicht gelingen. Stattdessen laufe ich wieder und wieder auf der Stelle.

Meine Finger beginnen zu zucken, bereit nach meinem Handy zu greifen und die Ablenkung für solche Gedanken zu mir zu wünschen. Im letzten Moment halte ich mich aber ab und atme stattdessen tief durch. Nein, dieses Mal wird selbst Lenn mir nicht helfen können zu verdrängen, was mich all die Jahre bereits plagt wie ein Parasit, den ich nicht von mir schütteln kann. Und genau deswegen öffne ich meine Haustür und  verschließe sie. Schalte mein Telefon aus und schotte mich vom Rest der Welt ab. Weil es die einzige Möglichkeit ist, mich von etwas abzuhalten, was in diesem Moment eine ganz ganz dumme Idee wäre.

Oh, Valeria, du steckst in ganz schönen Schwierigkeiten.

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