jeno's sister (draft)
tw: suicide
[please take care of yourself]
'Es ist Montagmorgen. Ich stehe nicht auf. Ich bleibe liegen. Die Uni interessiert mich nicht. Meine Mitbewohnerin interessiert sich ja auch nicht für mich. Sie geht, ruft nur halblaut eine Verabschiedung. Denkt vermutlich, dass ich einfach frei habe. Aber das habe ich nicht. Ich habe direkt um acht eine Vorlesung. Nur dass sie mich nicht interessiert. Nichts interessiert mich. Nur die Klinge, die seit einem Monat in meinem Schrank ruht, in meiner Schmuckschatulle.
Ich brauche unzählige Minuten, um überhaupt aufstehen zu können. Schon letzte Woche kam ich kaum morgens aus dem Bett. Was für ein Glück ich haben musste, dass ich es trotzdem immer rechtzeitig geschafft habe. Doch ich hätte es mir sparen können. Hätte mir all die Jahre im Unterricht sparen können, denn es ist sowieso alles nutzlos, wenn man stirbt.
Langsam öffne ich den Deckel des Geschenks meiner Mutter, lächle bei dem Gedanken an sie. Erst gestern habe ich mich von ihr und meinem Vater verabschiedet. Ihre Briefe liegen sorgfältig gefaltet auf meinem Nachttisch, selbst die Beschriftung habe ich schön hinbekommen. Ich werde sie mitnehmen. Ebenso Jungwoos und Jenos. Meine Brüder, mein Zwilling und mein kleiner Welpenbruder. Ich hoffe sehr, dass er mir verzeihen wird, dass er es verkraften wird, ohne mich weiterzugehen, wo ich ihn doch zu jedem Schritt ermutigt habe. Manchmal dachte ich, ich könnte für ihn weiterleben, manchmal für Jungwoo. Meistens hat es mir geholfen, um das Metall nicht in die Hand zu nehmen. Doch jetzt gerade habe ich kein schlechtes Gewissen, bin ganz ruhig, als ich es zwischen die Fingerspitzen schließe, ganz vorsichtig. Noch soll die Klinge meine Haut nicht durchschneiden.
Ich lege sie zu den Briefen, diese vier sind die wichtigsten. Die anderen habe ich in eine Kiste gelegt, sie ist ebenfalls in meinem Schrank. Zum letzten Mal kontrolliere ich, ob alle enthalten sind, zum letzten Mal setze ich imaginär einen Haken, zum letzten Mal schließe ich meine Schranktür. Meine Kleidung liegt bereits bereit. Ein blaues Kleid mit Netzstrümpfen. Selbst Ohrringe und eine Kette habe ich dazugelegt. Doch im Wasser tut diese sich nicht sehr gut, weshalb ich sie nur auf den Briefumschlag meiner Mutter lege, um nicht zu vergessen, dass sie sie bekommen soll.
Nachdem ich mich also umgezogen habe, nehme ich Briefe, Klinge und Kette mit ins Badezimmer. Ich kämme mir die Haare, wage sogar einen Blick in den Spiegel. Ich bin das letzte Mal in meinem Leben zufrieden mit meinem Aussehen.
Ich falte noch meinen Schlafanzug zusammen, während ich entfernt das Wasser in die Badewanne laufen höre. Ein Rauschen, schön, und doch so hässlich, vergleicht man es mit dem Tosen wahrer Wellen in den endlosen Meeren. So wunderschön in allen Blautönen. Wieder muss ich lächeln. Beim Weggehen sammle ich mein einziges Bild vom Regal auf, ich merke fast gar nicht, was ich tue.
Das Erste, was ich darauf erblicke, ist Jeno. Mein kleiner Welpe. Ich liebe ihn so sehr und hoffe, dass er ein schönes Leben führen wird. Ich wünsche ihm, dass Jaemin an seiner Seite bleibt, er ist so wichtig für ihn, auch wenn er das niemals zugeben wird. Jungwoo, mein bester Freund und größter Feind. Wie oft haben wir uns früher gestritten, nur wegen eines Spielzeugs? Jetzt kommt es mir so banal vor, doch früher war es das größte Problem, das wir haben konnten. Wäre es doch nun auch nur ein Spielzeug, um das man sich streiten müsste.
Ich stelle das Bild neben die Briefe auf die Fensterbank, richte die Kette. Das Rauschen verstummt, als ich den Wasserhahn ausdrehe, lediglich die winzigen Wellen lassen seine Wucht erahnen, mit der er das Wasser hinausbefördert hat.
Ich hoffe sehr, dass es im Tod ein Leben gibt, das auf mich wartet, ein Leben, in dem ich meiner Familie bei ihrer nahenden Zukunft zusehen kann, wie sie sich ihren Zielen nähern und schlussendlich erreichen. Jenos Schulabschluss möchte ich sehen, den Jungen, mit dem er zum Ball geht. Ich denke, es wird ein Junge sein. Ich hoffe es. Ich möchte nicht, dass er unglücklich sein wird. Es ist sein großer Tag, er muss doch glücklich sein.
Ich möchte so viele Dinge noch mit ihm erleben. Seinen Führerschein. Seinen Abschluss. Seine erste Beziehung. Sein erstes Mal betrunken nach Hause kommen. Sein erstes Mal bei etwas Verbotenem erwischt werden. Seine erste verhauene Klausur. Das alles habe ich erwartet, mitzubekommen, doch mein eigenes Leben zwingt mich in die Knie, zwingt mich in den Tod, bevor ich es erreichen kann.
Aufseufzend lasse ich mich ins Wasser gleiten, nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen habe, sehe meinem Haar und dem Kleid dabei zu, wie es herumtreibt. Geradezu graziös, dabei habe ich keinerlei Ähnlichkeit mit einer Meerjungfrau. Wenn ich gefunden werde, herausgezerrt werde, wird die Kleidung ganz nass an meiner Haut kleben, das Wasser wird kalt sein, ebenso mein Körper. Ich frage mich, wann ich wohl gefunden werde. Ob meine Mitbewohnerin mich zuerst sieht. Ob die Universität anrufen wird. Alles Fragen, zu denen ich die Antworten nie erfahren werde. Das erste Mal, dass ich eine Antwort möchte, bei der ich zufrieden bin, sie niemals zu kennen.
Wieder denke ich an Jeno, an seine Wissbegierigkeit, als er noch nicht in der Schule war und Jungwoo und mich zwang, ihm alles haarklein zu erklären. Er müsse ja gut werden, sagte er immer mit seiner süßen Kinderstimme, mindestens so gut wie wir. Doch er wurde besser, übertraf Jungwoo und mich mit Leichtigkeit, tut es immer noch. Er ist der Beste. Wird es immer sein. Egal, ob er etwas gut macht oder nicht, ob er besteht oder durchfällt. Er ist mein kleiner Welpe, mein Ein, mein kleiner großer Schatz. Er ist zu schnell gewachsen, viel zu schnell. Wird er sich ebenso schnell von meinem Tod erholen?
Zum ersten Mal habe ich Angst, die Antwort einer Frage nicht zu kennen.
Jungwoo wird es hoffentlich auch. Ich möchte nicht, dass sie leiden. Sie dürfen nicht leiden. Niemals. Dafür sind sie, beide, zu sensibel. Ich hoffe, unser Band wird seine Hoffnung aufrecht erhalten, und vielleicht kann ich ja doch zu ihm kommen. Ihn besuchen, in seinen Träumen, in kleinen Gesten im Alltag. Mein Seelsorger, mein Alles, meine zweite Hälfte. Er ist der beste Zwillingsbruder, den man haben könnte. Es tut mir leid, dass ich eine schlechte Zwillingsschwester, eine schlechte große Schwester bin.
Mit einem Lächeln auf den Lippen setze ich die Klinge an meine Haut, spüre ein befreiendes Gefühl, als das Blut mein Handgelenk hinunterläuft. Anfangs lasse ich es auf das Wasser tropfen, sehe der roten Flüssigkeit dabei zu, wie sie sich in dünnen Fäden im beinahe bläulich scheinenden Wasser verteilt. Bis es irgendwann weniger wird und ich meinen Arm unter die Wasseroberfläche sinken lasse. Die Schwaden des Blutes, denn sie sehen aus wie Rauch, der in der Luft hängt, verteilen sich, färben das Wasser langsam rot. Mein Arm wird schwach, ich lege meinen Kopf auf den Wannenrand. Meine Augenlider senken sich sofort, ich spüre meinen Herzschlag. Ruhig und gleichmäßig unter meinen Rippen, anders als ich erwartet habe.
Langsam werde ich schwächer, ich spüre es mehr in meiner Seele als in meinem Körper, und mit einem Mal denke ich noch an mein Ein und mein Alles, vereint mit mir im Gras, lachend, wie der Kleinste spielerisch nach einem blauen Schmetterling greift, und das Lächeln, das mir auf den Lippen liegt, erlischt mit dem Rest Leben in mir.'
19-10-03
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