Kapitel 23
Wenn man einmal in seinem Leben den absoluten Tiefpunkt erreichte hatte, dann war es schwer wieder daraus zukommen.
Dies galt für Collin. Vor zwei Tagen war er aufgewacht und seitdem hatte ich ihn nicht mehr besucht. An jenem Tag bin ich mit gemischten Gefühlen ins Verbindungshaus zurückgekehrt. Auf einer Seite gab es nichts Schöneres, als Jo zu sagen, dass Collin wieder wach war. Auf der Anderen ging es um mich selbst, denn wären sie mich in den zwei Tagen wiederholt fragte, ob ich mitkommen möchte, um ihn zu besuchte und jemals mit dem Kopf schütteln musste, verbrachte ich meine Zeit wütend in unserem Zimmer.
Ich ließ die Anderen gehen. Sie sollten Collin aufheitern, denn ich war dafür nicht gebrauchen, zumindest zurzeit. Meine Gedanken war ganz woanders. Ich zwang mich in den Unterricht und verbrachten ihn auf die gleiche Weise, wie ich es in meinem Zimmer tat. Meine Gedanken drehte sich nur um eine Sache — meine Gefühle für Collin. Ich musste darüber nachdenken, denn ich konnte es nicht länger einfach nur ignorieren. Mein Herz arbeitet dagegen wie das Immunsystem. Mir war klar, dass ich mir nicht weiter etwas vorlügen brauchte. Ich empfand mehr für Collin als nur Freundschaft, aber würde das jemals das überwiegend, was ich für Logan verspürte?
An dem heutigen Tag waren meine Gedanken jedoch ganz woanders. In zwei Tagen würde er nochmal an seinen Wunde operiert werden, damit alles gut verheilen wird. Jo hatte mir zwar gesagt, dass die Ärzte sich keine Sorgen um die OP machten, trotzdem tat ich das insgeheim. Heute trat ich mir extra in den Hintern und verabschiedete mich nach unserer letzten gemeinsamen Lesung von Jo. Ich hatte sie gefragt, ob sie mit will, aber sie hat es ausgeschlagen. Ich vermutet, dass sie mir Zeit mit ihm alleine geben wollte, da ich die letzten Tage nicht mitgekommen waren.
Ich kriegte den nächsten Bus und fuhr bis zur nächstgelegenen Haltestelle in Richtung Krankenhaus. Mike hatte mir schon angeboten, mich nach seinem Unterricht abzuholen und fahren, aber ich lehnte freundlich ab. Seine ganze Familie hatte mich in der letzten zeit hin und her kutschiert. Meine Schuld gegenüber ihnen wuchs damit umso mehr.
Mit schnellen Schritten meldete ich mich bei der Rezeption an, damit ich weiter hoch zu der Station konnte. Ich befürchtet, dass Mr und Mrs Terrell womöglich da waren. Ich wüsste nicht, was ich ihnen sagen konnte, nachdem ich mich zwei Tage lang nicht mehr blicken, geschweige denn von mir hören lassen habe. Vermutlich hatte Jo ihnen kurz mitgeteilt, dass es mir gut ging oder ich zumindest so erschien, aber mehr nicht.
Als ich an der Tür klopfte, bewies ich mich jedoch als falsch. „Herein", hörte ich es und trat in das Zimmer ein.
„Ali", sagte er etwas sprachlos. Nicht sprachlos, weil er mich sah und es ihn überraschte, sondern wohl eher wegen seiner schwachen Durchblutung. Ich stellte meine Tasche beiseite und zog mir einen Stuhl zu ihm an das Bett heran.
„Wie geht es dir?", fragte ich vorsichtig, nicht wissend, was ich ihn sonst fragen sollte.
„Besser. Nur das Atmen ist ein wenig schwer."
„Es fehlt mehr Blut, als sie vermutet hatten, nicht wahr?"
Collin presste seine Lippen aufeinander. „Sie haben es unterschätzt, aber ich sterbe nicht."
Seine harte Fassade schmerzte es ihn überhaupt anzusehen. Ich konnte nicht lesen, was er gerade über mich dachte. Ob er sich freute mich zu sehen oder ob mich am liebsten direkt wieder wegschicken würde. Ich wusste, dass er mir das nie ins Gesicht sagen würde, aber ich wollte seine Gedanken so gerne kennen.
Ich stieß einen leisen Seufzer aus und griff nach seiner Hand. „Das wird schon wieder. Bald kann deine Wunde heilen und dann wird es dir wieder gut gehen."
Collins Blick fiel auf unsere Hände und ich bereute sofort, dass ich so leichtsinnig nach seiner Hand gegriffen hatte. Es war eine Geste, die ich in den letzten Tagen einfach zu oft bei ihm verwendet hatte, dass ich gar nicht über die möglichen Nachfolgen nachgedacht hatte, sobald er wach war. Sein Blick traf meinen.
Ich wusste, dass er keine Angst vor der Operation hatte. Er fühlte sich einfach nur schwach, was er nicht gewohnt war. Er schluckte hörbar und legte seinen Kopf zurück. Kreislaufschwäche. Nun war ich diejenige, die ihre Lippen aufeinander presste, um nichts zu sagen. Im Raum zog Stille ein. Das Einzige, was zwischen uns stattfand, waren unsere Handdrücke.
Er drückte mal.
Ich drückte mal.
„Musst du gleich wieder weg?", fragt er mich, als hätte es nicht anders erwartet.
Sanft schüttelte ich den Kopf. „Nein, ich kann bis zur Schließungszeit bleiben, wenn du das möchtest."
Seine Mundwinkel zog sich in die Höhe. Es war das erste Lächeln seit dem Grinsen, nachdem er aufgewacht war und es tat gut es zu sehen. Mein Blick beobachtet seinen ganzen Körper. Seine Haut war blass geworden, als hätte sie monatelang keine Sonne mehr gesehen. Seine Augen waren oftmals fast halb geschlossen, da er so müde war. Ganz abgesehen von all den Versorgungsschläuchen, an die er verbunden war. Es war alles andere als schön ihn so zu sehen. Ich kannte ihn als einen lebensfrohen Menschen, der bereits am frühen Morgen mit zu viel Energie voll gepumpt war und mir stattdessen einen Kaffee holen musste und nun saß ich neben ihm in dem Tiefpunkt seines Lebens.
„Würdest du mit mir was gehen? Meine Beine schlafen sonst noch ein.", fragte mich Collin, worauf ich still nickte.
Er schob die Bettdecke beiseite, damit ich ihm helfen konnte sich aufzurichten. Das schwere Atmen zeigte, wie sehr sich seine Lunge anstrengend. Das Lächeln auf meinen Lippen war schwach, als er zu mi hoch sah. Ich half ihm in seine Hausschuhe, die seine Mom ihm noch gebracht hatte, bevor er sich aus dem Bett drückte. Die Schläuche konnte er nicht einfach abmachen. Kurz erklärte er mir, wo ich was drückten musste, damit wir den Halter für die Blutversorgung mit uns ziehen konnten.
Als ich mich umdrehte, sah ich, was er versucht zu verstecken. Seinen Blick. Er fühlte sich hilflos.
Wir gingen aus dem Zimmer zum langen Flur hinaus und gingen hinüber bis zum Fahrstuhl. Mit diesem fuhren wir in den obersten Stock, wo man eine gute Aussicht über die Stadt hatte. Ich rollte den Halter hinter Collin her, während er sich seine Hände in die Sweatshirt Jacke stopfte. Ich nahm es ihm nicht übel, schließlich ließ ich die Stange des Halter auch nicht los.
„Alles okay bei dir?", fragte ich nach einer Weile leise.
Stille.
Ich wusste, dass das kommen würde.
„Collin", forderte ich ihn erneut auf, noch immer ruhig aber zugleich auch wütend, dass er mir keine Antwort auf diese einfache Frage. Womöglich war diese Frage nicht einfach für ihn, aber er konnte mir doch vertrauen.
Wieder nichts.
Augenblicklich blieb ich stehen und hielt ihn an seiner Jacke fest, wodurch er nicht nur wegen der Blutversorgung, sondern auch wegen meinem Griff stehen bleiben musste. „Collin, zur Himmel nochmal. Ich will wissen, wie es dir geht. Und zwar wirklich!", ich blickte ihn eindringlich an.
„Wie soll es mir schon gehen?", stellte er eine Gegenfrage, die mich starr werden ließ.
„Collin..."
„Mir geht es scheiße und ich fühlte mich dämlich. Meine gesamte Familie macht sich wie wild Sorgen um mich und das, obwohl ich selbst daran Schuld bin. Die Ärzte haben später nochmal mit mir alleine geredet, als ich wach genug für ein Gespräch war und weißt du, was sie gesagt haben?"
Ich schwor, ich tat nichts. Nicht einmal Atmen. Für mich blieb alles stehen. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich es hören wollte, aber Collin ließ mir keine andere Wahl.
„Sie meinten, dass mein eigentlicher Blutverlust so massiv schnell war, dass wenn Jo mich nicht rechtzeitig gefunden hätte, dann hätte es nicht mehr lange gedauert, bis ich tot gewesen wäre... ich—ich wäre einfach so weggewesen, wegen einem Fehler, den ich getan habe."
Ich wollte nichts von seinem vermeintlichen Tod hören. Nicht mal annähernd. „Aber sie hat dich gefunden und du lebst. Du bist hier, du stehst vor mir und das ist die Hauptsache; dass du jetzt gerade in diesem Moment noch am Leben bist. Ganz gleich, wer auch immer die Schuld trägt!"
Ich wollte ihn nicht so anfahren, aber ich konnte es nicht anders. Ich konnte nicht ertragen, wie er sich selbst runter redete und ich da stand und nichts tat. In seinen Augen stand immer diese Verletzbarkeit, aber es war mir egal. Ich ging ein paar Schritte auf ihn zu, schwer atmend. „Auch, wenn es jetzt so ist, du lebst und bald wirst du wieder Zuhause sein oder zurück ins Verbindungshaus kehren. Wir werden eine wilde Zeit auf dem College haben und später auf diesem dämlichen Podest stehen. Unsere Eltern werden stolz sein und wir werden uns an die beste Zeit unseres Leben erinnern — mit ihren Höhen und Tiefen. Wir schaffen das. Das hier ist nur das Bergab von unserer Achterbahn, ja?"
Auf einmal schlossen sich seine Arme um mich herum, worauf ich nicht gefasst war. Wir taumelten leicht herum, bis wir uns selbst stoppen mussten, da sich seine Schläuche beinah um uns gewickelt hatten. Ich kicherte leicht und blickte zu ihm hoch. Die Verletzbarkeit war noch da, aber er grinste. Ich wiederholte meinen eigenen Worte in meinem Kopf. Das war nur das Bergab auf unserer Achterbahn.
Ich half uns aus dem Wirrwarr und brachte ihn nach einer Weile zurück auf sein Zimmer, weil er sagte, dass er müde war. Ich versuchte fröhlich zu wirken, obwohl jedes Mal, wenn Collin sich umdrehte, ich ihn kritisch ansah. Er würde nicht mehr derselbe Collin wie bevor sein. Vielleicht ähnlich, aber niemals genau gleich. Diese Erfahrung veränderte ihn. Die Narbe wird ihn sein Leben lang daran erinnern und ich wusste nicht, ob ich das gut oder schlecht heißen sollte.
Wir saßen gerade auf seinem Bett. Er hatte mir extra etwas Platz gemacht, damit wir uns auf seinem Tablet einen Film zusammen ansehen konnten, als ich meine Arme vorsichtig um ihn legte. „Hör auf dir die Schuld zu geben.", wisperte ich ihm zu.
Sein Arm drückte sich fester an ihn und in mir fühlte es sich komisch an.
– – –
Nach dem Film entließ mich Collin und ich versprach ihm, dass ich morgen direkt wiederkommen würde. Dieses Mal würde ich ihn nicht warten lassen. Ich ließ ihn nicht gerne in seinem Krankenzimmer alleine zurück, aber er sagte mir, dass Mike ihn abends besuchen wollte. Ich wollte am liebsten, dass er zurück ins Verbindungshaus kehren würde und wir unseren Alltag leben könnten. Diese Achterbahnfahrt macht langsam nämlich keinen Spaß mehr.
Frustriert öffnete ich die Tür zu Jos und meinem Zimmer. Ich blickte herum, nirgendwo war Jo zu sehen. Verdammt. Ich schritt auf ihr Bett zu, wo ein Zettel lag, den ich erst für Schulnotizen gehalten hatte. Ich hob ihn auf, erkennend, dass Jo es mir hinterlassen hatte.
Bin mit ein paar Anderen zum Lernen in die Bib gegangen. Brauche Ablenkung. - Jo
Ablenkung war Lernen für Jo alle Male, für mich jedoch nicht.
Seufzend ließ ich das Bett wieder los, welches auf das Bett hinunter flatterte. Ich quälte mich aus den Klamotten, die ich den ganzen Tag über getragen hatte und ließ mich auf mein Bett fallen, sobald ich es Bequemeres angezogen hatte. Auf meine Handy wählte ich entschlossen eine Nummer, die für mich für Ablenkung sorgen würde.
„Ali?", ertönte es auf dem anderen Ende der Leitung.
„Hey."
„Was gibt es?"
„Ich war heute bei Collin."
„Warte kurz."
Das tat ich. Schließlich blieb mir eigentlich nichts anderes übrig.
„So, jetzt bitte nochmal."
„Ich war bei Collin und es ist gut und schlecht. Er hat sich die Schuld für alles gegeben, ist wütend geworden... ich weiß nicht mehr, wie ich mit ihm umgehen soll. Er ist andauernd so schlecht drauf und ich weiß, dass das Ganze ihn verändern wird, aber doch nicht so— doch nicht so sehr. Er wirkt mir so fremd, Logan.", erklärte ich, was sich jedoch in ein leises Murmeln verwandelte.
„Beruhig dich, Ali. Es wird schon wieder. Er ist kurz vor seiner OP und das Spendenblut passt sich erstmal seinem Körper an. Du musst ihm Zeit geben. Natürlich wird er nicht ohne Veränderung das Krankenhaus verlassen, aber wir verändern uns alle— rund um die Uhr."
Still lauschte ich seinen beruhigenden Worten. Er lag richtig. Es brauchte Zeit. Es war nicht fair von mir, wenn ich von ihm verlangte, dass er so tun sollte, als wäre nichts passiert. Kurz vor der Linie zum Tod ist ein Treffer, der einen tief runterzieht, aber mit unserer Hilfe wird er es wieder hoch schaffen. Das stand fast.
„Danke", flüsterte ich leise.
„Immer doch", hörte ich ihn liebevoll murmeln. „Bald bin ich wieder bei dir."
„Aber ich brauche dich jetzt.", seufzte ich und wunderte mich eine Sekunde später selbst über meine Aussage. Zum ersten Mal in unserer Beziehung hatte ich ihm zugegeben, dass ich ihn brauchte. Mir war nicht bewusst gewesen, wie sehr ich das. „Ich liebe dich, Logan", fügte ich noch hoffnungsloser hinzu.
„Ich liebe dich auch, Ali. Kommst du klar?"
„Ja, wird schon klappen."
Ein Lächeln überkam meine Lippen. Es musste nicht heißen, dass ich glücklich war. Es hieß einfach, dass ich nicht bereit war, aufzugeben.
Wieso war das Leben nur so kompliziert?
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Was haltet ihr von Collins und Alis Freundschaft? Hat sie in Logan endlich ihren sicheren Hafen gefunden?
Nicht mehr lange, dann ist die Story vorbei...
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