4. Kapitel
"Ja, mum, wir sind gleich da. Ja, in Ordnung, ciao", Timothy legte auf und spielte auf seinem Handy irgendwelche Spiele. Meine Mutter shoppte neben mir online bei GUESS und ich saß in einem Berg aus Stoff, der kaum in den Wagen gepasst hatte und mir nun sogar die Sicht aus dem Fenster versperrte. Ich war allein mit mir selbst.
Um mich abzulenken schloss ich die Augen und spielte im Kopf meine Lieblingsmelodie aus Titanic "Roses Theme". Schon die beruhigenden, traurigen Klaviernoten in meinen Gedanken zu hören senkte meinen holpernden Puls.
Ich spürte nicht mehr, wie die Umgebung vorbeiflog. Ich nahm meine Mutter nicht mehr wahr. Timothy verschwand langsam. Das Kleid und die enge Corsage kratzen nicht mehr so sehr.
Zurück blieb nur noch meine eigene Welt. Eine, in der ich frei war.
Ich tanzte mit dem Wind. Er spielte mit meinen Haaren, die mir offen und lang über den Rücken fielen. Sie waren zerzaust und wild. Ich atmete die frische Luft ein, die nach Kiefernadeln und dem Meer roch. Alles auf einmal. Ich hörte Vögel singen und das Brechen von Wellen. Ich war Teil des Windes, Teil des Meeres, Teil der Vögel, die am Himmel für mich sangen.
Ich spürte eine Hand, die meine nahm. Jedoch nicht fordernd, sondern sanft und einladend. Ich wurde in starke Arme gezogen und beschützend im Takt der Musik hin- und hergewogen. Es war ein langsamer und inniger Tanz. So intensiv und nah.
Ich hatte mich noch nie so sicher gefühlt. So geborgen und so angekommen.
Ich war ich selbst und ich wusste, ich konnte es auch bleiben.
Wer auch immer mich hielt, ich wollte nicht gehen.
Doch plötzlich wurden die Berührungen rauer und liebloser. Ein grobes Schütteln meiner Schultern brachte mich ins Hier und Jetzt zurück.
"Tayrenia, was glaubst du eigentlich, wo du hier bist?", schnappte meine Mutter wütend.
"Mitten im Auto einzuschlafen. Jetzt ist dein Make-up verschmiert. So geht das nicht. Das müssen wir nochmal richten. So kannst du auf keinen Fall unter Leute. Herr Gott, du kommst wirklich nicht nach mir. Vielleicht haben sie dich doch im Krankenhaus vertauscht, wie dein Vater und ich immer vermutet haben. Unsere Tochter sitzt sicher gerade in einem Wohnblock und ..." Sie schimpfte noch eine Weile weiter, aber so leise, dass ich sie nicht verstehen konnte.
Während sie ihre Visagistin anrief, die, sofort und pronto!!!!, ins Anwesen der Porter's kommen sollte um einen "desatrösen Totalschaden" zu beheben, rutschte ich unbehaglich auf meinem Sitz hin und her.
Von Timothy kam nichts, um mich vor den Worten meiner Mutter zu verteidigen. Auch das war wenig überraschend. Er spielte weiterhin gelangweilt an seinem Handy, als hätte er nichts mitbekommen.
So einen intensiven Traum hatte ich schon lange nicht mehr gehabt und die Wärme, die ich in den Armen des geheimnisvollen Fremden empfunden hatte, ließ mich die Kälte meiner Familie noch härter treffen.
Ich fröstelte leicht und es störte mich, dass ich die Magie des gemeinsamen Tanzes nicht noch länger auskosten konnte, sondern von meiner Mutter sofort in meine bedauernswerte Realität geschubst wurde. Ohne Magie. Und ohne einen Tanzpartner, der sich für irgendwas interessierte.
Was machte Timothy da überhaupt? Ich schielte unauffällig zu ihm rüber. Was waren das ... Oh mein Gott.. Waren das etwa halbnackte Frauen?! Es schien wie eine Art Dating Seite zu sein. Ich hatte so was zwar nie benutzt, aber ich lebte ja nicht hinterm Mond ... Das dort sah aus, wie tinder... Machte er da noch etwas für heute Abend klar? Nach unserer gemeinsamen Date?
Echt jetzt?!
Was ... für ein mieses ...
In diesem Moment sah er auf und blickte mich an. Er musste meinen fassungslosen Blick bemerkt haben. Doch zu stören schien es ihn nicht im Geringsten. Er zuckte nur unbeteiligt mit den Schultern.
"Dein Problem, wenn du mich nie ranlässt."
Bevor ich irgendetwas Geistreiches sagen konnte (die Frage war nur, was...). Oder etwas unglaublich Dummes tat, wie ihm eine zu knallen, oder auf sein Handy zu spucken (kein Witz, mit diesem Gedanke habe ich kurz gespielt), ertönte die Stimme meiner Mutter.
"Wir sind da."
Als ich mich aus dem Wagen kämpfte, natürlich nach Timothy und zwar ohne seine helfende Hand (natürlich!), fühlte ich mich irgendwie beschmutzt und war noch zorniger als vorher. Ich schüttelte dem Chauffeuer dankbar die Hand, der mich schließlich halb aus dem Wagen gezogen und wieder auf die Beine gestellt hatte. Blödes Ralph Lauren Kleid...
Es machte mich unfassbar traurig, dass ich keine Mum hatte, die mir riet, solche Windhunde, wie Timothy in die Wüste zu schicken.
Nein.
Meine Familie brachte mich eigenhändig zum Schafott, wie ein Mastschwein, das man nur zum Schlachten aufgezogen hatte.
Niemand würde für mich eintreten und ganz sicher würde mich keiner retten.
Das konnte nur ich selber tun. Und das würde ich.
Ich straffte die Schultern, atmete einmal tief ein.
Und ich würde heute Abend damit beginnen!
Keine Ahnung wie, aber mir wird bestimmt was einfallen.
Albert Einstein hat mal gesagt: "In der Mitte der Schwierigkeiten liegt die die Gelegenheit."
Also: Packen wir's an!
Zuversichtlich machte ich mich auf den Weg.
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