Zwischen den Sternen

Pov Liv

Ich lag wieder in meinem Bett, doch Ruhe fand ich keine. Mein Körper war erschöpft, aber mein Geist war hellwach, brannte förmlich vor dieser neuen Erkenntnis, die sich tief in mir festgesetzt hatte. Die Wächter waren Julien. Julien, der lang vermisste Freund von Joon. Es war fast unmöglich zu begreifen, und doch fügte sich alles zusammen. Die Mondkristalle, das helle Licht, Zekes verstörende Erinnerungen – alles deutete darauf hin.

Joon saß am Rand meines Bettes, sein Gesicht eine Maske aus Unglauben und Verwirrung. Ich hatte ihm alles erzählt, von den Bildern, die Zeke mir gezeigt hatte, bis hin zu der plötzlichen Erkenntnis, dass diese fünf mächtigen, unheimlichen Wesen alle Teile von Julien waren.

>Aber wie soll das möglich sein?< fragte Joon schließlich und rieb sich nachdenklich das Kinn. >Ju war ein ganz normaler Mensch. Kreativ, ja, aber keinesfalls esoterisch oder übernatürlich. Er war einfach... er selbst.<

Ich zuckte mit den Schultern, spürte das Gewicht dieser Erkenntnis immer noch auf mir lasten. >Mehr als dieses helle Licht konnte ich nicht sehen< sagte ich leise. >Ich weiß nicht, wie es geschehen konnte. Am einfachsten wäre es, wenn Zeke sich an alles erinnern könnte – an alles, was passiert ist.<

Joon seufzte und sah aus dem Fenster, als könnte er dort eine Antwort finden. >Zumindest scheint Zeke dafür zu sein, dass sich alles wieder zurückentwickelt und sie wieder zu Ju werden. Die Frage ist nur, ob der Rest es genauso sieht.<

Das war der Knackpunkt. Zeke wollte, dass sie wieder eins wurden, das hatte ich in seiner Verzweiflung gespürt. Aber Eos? Santa? Fips? Ruhn? Würden sie freiwillig ihre Unsterblichkeit aufgeben? Ihr Leben als Wächter gegen die Menschlichkeit tauschen?

>Warum könnte das überhaupt passiert sein?< fragte ich schließlich, mehr zu mir selbst als zu Joon. >Dass sich jemand einfach in fünf übernatürliche Wesen aufteilt? Das klingt doch alles so... unwirklich.<

Joon sah mich an, sein Blick wurde nachdenklicher, fast melancholisch. >Naja, jetzt wo wir drüber reden< begann er langsam, >macht es auf eine gewisse Art Sinn. Wenn man sich die Wächter genauer anschaut... sie alle haben Eigenschaften von Ju. Es war mir nie so klar, aber jetzt, wo du es sagst...< Er verstummte und schien in seinen Erinnerungen zu graben, als ob er die Puzzle-Teile neu zusammenfügen würde.

>Welche Eigenschaften meinst du?< fragte ich neugierig, mein Herz schlug schneller, als ob ich kurz davor war, eine tiefere Wahrheit zu erfahren.

Joon lehnte sich zurück und begann, die Wächter aufzuzählen:

>Zeke, der Anführer, immer bedacht auf das große Ganze. Julien war nie jemand, der impulsiv gehandelt hat. Er hat immer alles durchdacht, jede Entscheidung abgewogen. Genau wie Zeke. Ruhn... Er hat diese düstere Seite, als ob er ständig gegen seine inneren Dämonen kämpft. Julien hatte auch diese Seite, auch wenn er sie nie offen zeigte. Er konnte unglaublich hart zu sich selbst sein. Santa< Joon lächelte bei dem Gedanken an den Wächter. >Julien konnte immer das Beste in jeder Situation sehen, egal wie schlimm es war. Er hatte diese unerschütterliche Freude am Leben, diese Gabe, anderen Hoffnung zu geben, selbst wenn alles aussichtslos schien. Genau wie Santa. Eos< Joon verzog das Gesicht. >Seine Wut, seine Stärke... Julien konnte sehr beschützend sein, wenn es um die Menschen ging, die er liebte. Manchmal war es fast beängstigend, wie sehr er sich in etwas hineinsteigern konnte, wenn er das Gefühl hatte, dass jemand ungerecht behandelt wurde. Und Fips< fügte er hinzu und lachte leicht. >Der freche Rebell, immer auf der Suche nach Spaß, immer bereit, Regeln zu brechen. Julien hatte definitiv diesen Hang zur Rebellion, vor allem wenn er das Gefühl hatte, dass die Regeln sinnlos waren.<

Ich lauschte Joons Worten und plötzlich schien alles Sinn zu ergeben. Julien war all diese Dinge gewesen – die Weisheit, die Dunkelheit, die Freude, die Wut, und der Spaß. Sie alle waren Teil von ihm, und als er sich aufgespalten hatte, hatten diese Teile eine eigene Form angenommen. Die Wächter waren nicht nur Teile seiner Seele, sie waren Manifestationen dessen, was Julien in sich getragen hatte.

>Wenn sie  wirklich Julien sind< flüsterte ich. >Sie sind alle er – nur in getrennten Formen.<

Joon nickte langsam, als er selbst die Wahrheit erkannte. >Ja... aber wie sollen wir sie wieder vereinen?<

Ich hatte keine Antwort darauf. Ich konnte nur spüren, dass der Schlüssel in mir lag. Diese Erkenntnis war tief in mir verankert, als ob die Lösung für all das in meiner Menschlichkeit, in meiner Verbindung zu Julien, zu den Wächtern und den Mondkristallen lag.

Aber der Weg dorthin war noch verschleiert.

Ich spürte, wie mein Kopf vor lauter Gedanken beinahe zu explodieren drohte. Zeke hat etwas in mir versteckt – diese Worte hallten immer wieder in mir wider. Er hatte es gesagt, als wäre es eine beiläufige Information, doch die Bedeutung dahinter war gewaltig. Eine Hintertür, um all das rückgängig zu machen. Aber wie? Und warum erinnerte er sich nicht mehr daran?

>Vielleicht kannst du ja doch zaubern oder so. Probier es doch mal< hatte Joon scherzhaft vorgeschlagen, seine Augen vor Unglauben weit aufgerissen.

Ich hatte nur den Kopf geschüttelt. >Das ist albern< hatte ich gesagt. Aber war es wirklich so albern? Ich war immer noch nur ein Mensch, nichts Magisches, nichts Übernatürliches – zumindest nicht bewusst. Doch die Vorstellung, dass etwas in mir verborgen lag, machte mir eine merkwürdige Angst. 

Joon seufzte tief, sein Magen knurrte laut. Die ganze Situation hatte uns beide erschöpft, körperlich und geistig.

>Du solltest runter gehen und etwas essen< sagte ich und versuchte, ein Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern. >Lumi hat bestimmt etwas Gutes gekocht.<

Er nickte zögernd, schien jedoch nicht bereit, aufzustehen. >Bist du sicher, dass ich dich allein lassen kann?< fragte er besorgt. >Wir wissen nicht, wie die anderen darüber denken. Was, wenn sie dich umbringen wollen oder so? Eos wollte ganz klar, dass einer von ihnen oder du stirbst, und Zeke war strikt dagegen. Das bedeutet doch, dass wir alle fünf Wächter und dich brauchen, um Julien zurückzubekommen.<

Ich konnte seine Sorge verstehen. Die Wächter waren unberechenbar, und ihre Motivationen blieben im Dunkeln. Doch genau in diesem Moment brauchte ich keine weiteren Fragen, keine zusätzlichen sorgen. Ich brauchte einfach nur Raum, um nachzudenken. >Ich kann auf mich aufpassen< versicherte ich ihm. >Keine Sorge. Ich kenne das Hotel, mit Ausnahme von Ruhn, besser als sie alle. Ich würde immer ein Versteck finden, wenn es nötig wäre.<

Mein Lächeln schien ihn ein wenig zu beruhigen. Nach einem weiteren Seufzer verließ er schließlich das Zimmer. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, und mit einem Mal umhüllte mich die Stille. Es war eine fast erdrückende Ruhe, aber genau das, wonach ich mich so sehr gesehnt hatte.

Ich saß noch eine Weile auf dem Bett und lauschte dem Flüstern des alten Hotels. Doch die Gedanken in meinem Kopf schwirrten immer schneller, wie aufgescheuchte Vögel, die keinen Platz zum Landen fanden. Zeke, Julien, die Wächter – und ich. Wo passte ich in all das hinein?

Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich schwang mich aus dem Bett und öffnete den Kleiderschrank. Lumi hatte ihn damals mit Klamotten für mich gefüllt, aber jetzt, zu meinem Erstaunen, war kaum noch etwas darin. Ich fand eine schlichte Jeanshose und ein schwarzes Crop Top. Nicht wirklich mein Stil – ich mochte es nicht, so viel Haut zu zeigen – aber es gab keine große Auswahl. Eine grob gestrickte Jacke hing noch im Schrank, und ich zog sie über das Top, bevor ich mich leise aus dem Zimmer schlich.

Der Flur war still, das Licht gedämpft. Ich wusste, dass alle irgendwo im Hotel beschäftigt waren – Joon beim Essen, Lumi wahrscheinlich noch bei Ruhn, und die anderen... wer weiß. Aber ich wollte ihnen nicht begegnen. Nicht jetzt.

Vorsichtig stieg ich die knarrenden Stufen hinauf bis zum Dachboden. Der Geruch von Staub und altem Holz stieg mir in die Nase, als ich die verstaubten Möbel durchquerte und mich zu einem kleinen Dachfenster vorarbeitete. Es war ein winziges Fenster, halb versteckt hinter einem hohen Bücherregal, aber genau das machte es perfekt für mich.

Mit ein wenig Geschick kletterte ich hinaus und fand mich auf dem Dach des Hotels wieder. Der sternenklare Himmel breitete sich über mir aus, und ein kühler Wind ließ meine Haare tanzen. Ich setzte mich auf die Spitze des Daches, die kalte Schindeln unter mir, und atmete tief ein.

Die Welt war so groß und weit von hier oben, und für einen Moment fühlte ich mich frei. Hinter dem Wald, irgendwo in der Ferne, lag mein altes Zuhause. Ein Ort, den ich kaum noch berühren konnte, als wäre er nur noch ein Traum. Ich fragte mich, was meine Familie gerade tat. Dachten sie an mich? Hatten sie die Hoffnung aufgegeben, dass ich jemals zurückkommen würde?

Doch selbst der Gedanke an mein altes Leben fühlte sich jetzt fremd an. Wie könnte ich nach allem, was geschehen war, einfach zurückkehren? Ich hatte zu viel gesehen, zu viel erfahren. Meine Welt hatte sich unwiderruflich verändert.

Der Himmel über mir funkelte in tausenden von Sternen, und irgendwo tief in meinem Inneren fühlte ich, dass ich hier oben eine Antwort finden könnte – oder zumindest die Ruhe, die ich brauchte, um weiterzumachen. Aber die Fragen ließen mich nicht los. Was hatte Zeke in mir versteckt? Was bedeutete ich in diesem ganzen Geflecht von Erinnerungen, Wächter und dem Geheimnis von Julien?

Ich schloss die Augen und ließ mich von der Kühle des Windes umhüllen, als könnte er die Last von meinen Schultern nehmen. 

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