Regen in der Nacht

Ich hatte das Kleid gegen die bequemen Sachen von Julien getauscht und war müde ins Bett gefallen. Es war definitiv einer meiner nerven auf reibensten Geburtstage ... wobei nichts die Angst im Hotel damals vor Ruhn toppen konnte.
Ich fiel in einen Traumlosen schlaf.
Irgend wann in der Nacht wachte ich auf und verspürte den Drang etwas zu trinken.

Das leise Knarren der Dielen unter meinen Füßen hallte in der stillen Dunkelheit des Hauses, während ich mich langsam zur Küche vortastete. Mein Hals war trocken, und ich war durstig – oder vielleicht hatte mich auch nur ein unruhiges Gefühl geweckt, das ich nicht richtig benennen konnte. Kurz bevor ich die Küche erreichte, bemerkte ich ein schwaches Licht, das aus dem kleinen Zimmer neben dem Wohnzimmer sickerte. Die Tür war nur angelehnt, aber die leuchtende Wärme der Bildschirme darin schien den Raum in einem vertrauten Schimmer zu tauchen.

Neugierig öffnete ich die Tür ein kleines Stück weiter und erkannte Julien, wie er konzentriert am Schreibtisch saß. Mit den Kopfhörern auf den Ohren und dem Kopf leicht gesenkt, wirkte er, als wäre er ganz in seine Arbeit versunken. Er bemerkte mich nicht, also trat ich vorsichtig näher, bis ich mich räusperte. Doch er reagierte nicht. Seine Aufmerksamkeit galt allein den Bildschirmen vor ihm.

Ein kleines Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Ohne nachzudenken, legte ich ihm sachte die Hand auf die Schulter. Er zuckte leicht zusammen, drehte sich überrascht zu mir um und nahm die Kopfhörer ab.

>Hast du mich erschreckt< murmelte er grinsend, die Augen noch ein wenig verschlafen, als hätte ich ihn aus einem anderen Bewusstseinszustand geweckt. >Was machst du hier so spät?<

>Ich war durstig< sagte ich leise, um die friedliche Stille nicht zu stören. >Und dann habe ich das Licht gesehen. Ich wollte nicht stören.<

Julien winkte ab. >Ach, keine Sorge. Wenn ich arbeite, vergesse ich die Zeit. Ich muss nur ein paar Tonspuren anpassen.< Er deutete auf die Bildschirme vor sich, auf denen verschiedene Audiospuren abgebildet waren, die wie unendliche Linien und Wellen über den Bildschirm flossen. Ein kompliziertes Netz aus Klängen und Nuancen, das mir verriet, wie viel Arbeit und Präzision in jedem Detail steckte.

>Das ist alles für dein neues Video?< fragte ich, während mein Blick den Linien folgte.

Er nickte und lehnte sich im Stuhl zurück, als wollte er sich einen Moment der Entspannung gönnen. >Ja, es ist eines meiner letzten Projekte für den Kanal. Es fühlt sich seltsam an, das zu sagen… der Abschied von diesem Kapitel ist irgendwie schwerer als ich dachte.<

Seine Worte hatten eine Schwere, die ich fast fühlen konnte. Ich nickte langsam. >Das kann ich verstehen. Es ist, als würdest du ein Stück von dir selbst hinter dir lassen.<

Julien sah mich an, und für einen kurzen Moment war da diese Tiefe in seinem Blick, die mir schon in den letzten Stunden aufgefallen war. Er wirkte nachdenklich, fast melancholisch. >Ja, genau so fühlt es sich an. Es war nicht nur Arbeit… manchmal war es wie ein eigener kleiner Kosmos, den ich geschaffen habe. Vielleicht ist das, was mich am meisten erschreckt – dass ich nicht sicher bin, ob ich je wieder so etwas finden werde.<

Ich setzte mich auf die Kante des Schreibtischs, den Blick auf ihn gerichtet. >Du wirst neue Geschichten finden, Julien. Neue Welten, die es wert sind, erforscht zu werden.< Ich zögerte und sah zu Boden, bevor ich leise hinzufügte, >Ich kenne das Gefühl, etwas loszulassen, das einen großen Teil von einem ausgemacht hat. Es ist schwer, aber… du bist nicht alleine damit.<

Er lächelte, und es war ein weiches, ehrliches Lächeln, das mir zeigte, wie sehr er diese Worte brauchte. >Danke, Liv.< Seine Stimme klang warm und ruhig, und er sah mich an, als würde er mir etwas sagen wollen, das in seinen Gedanken noch keinen Platz gefunden hatte. >Und danke, dass du geblieben bist. Irgendwie hilft es, jemanden hier zu haben, der… das alles ein wenig versteht.<

Eine Stille legte sich zwischen uns, aber sie war nicht unangenehm. Sie war erfüllt von diesem stillen Einverständnis, dass wir beide etwas suchten – nach Antworten, nach Frieden, vielleicht nach uns selbst.

>Du vermisst die Wächter, oder?< Juliens Frage war ruhig, fast schon vorsichtig, und doch traf sie mich mit voller Wucht. Ich hielt einen Moment inne, meine Gedanken taumelten zurück zu all den Erlebnissen mit ihnen – die Angst, das Abenteuer, und ja, die Momente, in denen ich mich durch sie irgendwie ganz gefühlt hatte.

>Schon< murmelte ich und spürte, wie mein Blick unwillkürlich ins Leere glitt. >Ich meine, sie haben so viel in meinem Leben gerade geprägt.< Ein schwaches Lächeln spielte um meine Lippen, als ich an Fips und seine alberne, herzliche Art dachte, daran, wie Ruhn mit seiner düsteren Entschlossenheit immer wieder mein Herz schneller schlagen ließ, oder wie Zeke… wie Zeke immer so undurchschaubar war, aber mich dennoch auf seine eigene Weise beschützte.

>Es klingt verrückt, oder?< Ich warf Julien einen unsicheren Blick zu. >Zu wissen, dass das alles irgendwie… nur Geschichten waren und trotzdem so real. Es war so intensiv.<

Julien nickte langsam, und in seinem Gesicht spiegelte sich dieses tiefe Verständnis wider. >Ich glaube, das ist das Gefährliche an den Geschichten, die wir erschaffen. Sie können uns genauso beeinflussen, wie wir sie beeinflussen. Vielleicht…< er zögerte, bevor er weitersprach, >vielleicht sind sie ja auf irgendeine Weise wirklich echt. Nur nicht in der Welt, die wir als Realität bezeichnen.<

Seine Worte ließen mich nachdenklich werden, und ich spürte, wie eine Gänsehaut meine Arme überzog. Vielleicht hatte er recht. Vielleicht lebten diese Geschichten und diese Figuren in einer Welt zwischen Realität und Fantasie, und vielleicht war ich nur zufällig in diese Welt eingetreten.

Vielleicht waren die Wächter nicht ganz verschwunden. Vielleicht würde ich sie eines Tages wiedersehen – sei es in einem Traum, in einer Erinnerung oder auf eine Art und Weise, die sich jeder Logik entzog.

Ein lautes Poltern am Fenster riss uns aus dem Gespräch, und Julien und ich zuckten erschrocken zusammen. Erst jetzt fiel mir auf, dass es draußen heftig regnete; dicke Tropfen liefen an der Scheibe hinunter, und der dunkle Garten draußen wirkte wie ein undurchdringlicher Schleier. Doch da, zwischen den Regentropfen und den Schatten, schimmerte etwas Helles, Kleines, beinahe Schwebendes.

Julien stand langsam auf, seine Augen starr auf das Fenster gerichtet, als könnte er selbst kaum glauben, was er da sah. Ohne ein Wort zu sagen, ging er zur Tür, öffnete sie vorsichtig, und das leuchtende Wesen im Garten schoss mit einem Satz auf mich zu.

>Ein Glück, Liv!< piepste es, bevor ich überhaupt realisieren konnte, was geschah. Ein warmes, vertrautes Gefühl durchströmte mich, als ich den kleinen Geist erkannte, der sich an mich schmiegte. Lumi – der kleine Sternengeist.

Ich schlang behutsam meine Arme um ihn, kaum fähig, das Geschehene zu begreifen. >Lumi?< wisperte ich, die Stimme voller ungläubiger Freude und Verwirrung.

Er drückte sich noch fester an mich, sein kleines Licht zitterte leicht, als würde er beinahe weinen. >Ihr wart plötzlich alle weg und… und Lumi war ganz allein< klagte er leise, seine Stimme kaum mehr als ein trauriges Wispern im Regenrauschen.

Ich strich ihm sanft über den Rücken – oder das, was ich als seinen Rücken erahnte – und spürte, wie ein schmerzlicher Knoten sich in mir löste. >Es tut mir so leid, Lumi< flüsterte ich. >Ich dachte… ich dachte, ich hätte dich verloren.<

Er schwebte ein wenig zurück, sodass ich sein Gesicht sehen konnte – oder vielmehr das helle Leuchten, das mir nun direkt entgegenstrahlte. >Liv nicht verloren< sagte er bestimmt. >Lumi hat gespürt, dass du immer noch… irgendwie… da bist.<

Julien stand schweigend an der Tür und beobachtete uns, ein nachdenkliches Lächeln auf seinen Lippen. Er schien zu verstehen, dass Lumi ein Teil meines Lebens war, der nur schwer in Worte zu fassen war. Ein Bruchstück jener anderen Welt, die ich kaum begreifen konnte, und doch hatte Lumi seinen Weg hierher gefunden, hatte mich gefunden.

>Lumi< begann ich vorsichtig, >wie… wie hast du mich gefunden? Ich dachte, die Wächter wären… fort.<

>Die Wächter… vielleicht weg< murmelte er leise, und sein Glanz wurde einen Moment schwächer. >Aber Lumi ist nur ein bisschen… kleiner als sie. Lumi konnte noch durch das Nichts kommen.<

>Das Nichts?< wiederholte ich, völlig verwirrt.

>Es war komisch. Da war dieses helle Licht und dann das Nichts< erklärte er sanft. >Ein gefährlicher Ort, aber… aber Lumi wollte bei dir sein. Lumi ist gekommen, um zu helfen.<

Ich schloss die Augen und spürte die Tränen in mir aufsteigen, überwältigt von Freude und Schmerz gleichzeitig. Lumi hatte einen Weg durch all das Dunkel gefunden – nur um wieder bei mir zu sein.

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