Der Hauch von normalität

Ich stand hinter dem Tresen, starrte auf die glänzende Espressomaschine und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Seit ich das Café aufgeschlossen hatte, kämpfte ich gegen die Verwirrung, die wie ein dichter Nebel in meinem Kopf hing. Der Geruch von frisch gemahlenem Kaffee umgab mich, doch selbst der konnte die Last auf meinen Schultern nicht mindern.

>Mensch, Liv, du siehst aus, als hätte dich ein Opossum überfahren!< lachte sie.

Ich riss mich los aus meinen Gedanken und bemühte mich um ein müdes Lächeln. >Es heißt wie ein überfahrenes Opossum, Quinn< seufzte ich.

Sie wedelte ab. >Egal!< Mit einem fröhlichen Grinsen zog sie einen Stuhl heran und ließ sich nieder. >Also, wegen deinem Geburtstag…<

Ich hörte nicht mehr weiter zu. Ihre Stimme wurde zu einem fernen Murmeln, das sich wie Wasser in meinem Kopf verlor. Eigentlich hatte ich gedacht, ich würde ihr jetzt einfach nur in die Arme fallen wollen, sie umarmen, wie um mich selbst daran zu erinnern, dass ich hier und jetzt war. Dass alles „normal“ war. Aber stattdessen rasten die Gedanken unaufhörlich durch meinen Kopf. Die Wächter. Joon. Das Hotel. Diese schimmernden Mondkristalle. War das alles real gewesen, oder doch nur ein Traum?

Ich blinzelte, als Quinns Gesicht plötzlich besorgt wurde. >Hallo? Erde an Liv?<

>Was?< Ich versuchte, die Fassung zu wahren, aber ich sah das Misstrauen in ihren Augen.

>Sag mal, alles okay bei dir? Du bist nicht ganz da.<

>Ja... ich hab nur nicht besonders gut geschlafen< murmelte ich und wich ihrem Blick aus. Ich konnte ihr das alles nicht erklären – wie hätte ich das auch in Worte fassen sollen? Jedes Mal, wenn ich versuchte, das alles zu ordnen, wurde mir schwindelig. Es fühlte sich an, als würden die Erinnerungen jedes Mal, wenn ich sie zu greifen versuchte, in meinem Kopf zerrinnen, wie Sand durch meine Finger. Aber die Zweifel blieben: Hatte ich das wirklich alles erlebt? Waren die Wächter echt? Joon? Hatte ich wirklich mit einem Teil von Julien gesprochen? Der Gedanke daran ließ mich frösteln.

>Okay, also...< Quinn sprach wieder, doch ich hörte nur das Nötigste. Ich nickte ab und zu, tat so, als würde ich zuhören, während sich die Fragen in mir weiter türmten, Schicht auf Schicht. War ich vielleicht verrückt geworden? Wäre das alles nur ein Traum gewesen, hätte ich es längst vergessen, oder? Stattdessen fühlte es sich so intensiv an, so… nah.

Ich rieb mir die Schläfen und versuchte, das Gefühl zu unterdrücken, dass ich irgendwo anders hingehörte.

Quinns Stimme zog mich zurück in die Realität. >Du denkst schon wieder an die Uni, hab ich recht?< fragte sie schmunzelnd.

>Was? Nein!< entgegnete ich hastig und versuchte, so entspannt wie möglich zu wirken.

>Na, was soll’s denn sonst sein?< Sie lachte, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten, doch dann schien ihr ein neuer Gedanke zu kommen. >Oder gibt es da plötzlich jemanden, den ich kennen müsste?<

>Nein. Ich…< Meine Worte stockten, als mein Blick nach draußen wanderte. Da war etwas. Ein kleines, vertrautes Leuchten, das zwischen den vorbeieilenden Menschen auf der Straße glitzerte und mir einen Moment den Atem raubte. Lumi?

>Ich bin gleich wieder da< murmelte ich und stürzte ohne weiteres Zögern nach draußen.

Die kalte Herbstluft schlug mir entgegen, als ich auf den Gehsteig trat und mich hektisch umsah. Nichts. Es war alles wie immer – Menschen in Eile, Autohupen, das entfernte Murmeln der Stadt. Und doch war ich mir sicher, dass ich eben noch… Verwirrt ließ ich meinen Blick über die Straße wandern, in der Hoffnung, ein kleines Licht oder eine Bewegung zu erkennen. Aber alles wirkte plötzlich so gewöhnlich, so ruhig, als wäre nichts gewesen. Der Druck in meiner Brust ließ nur langsam nach.

>Ist wirklich alles in Ordnung?< Quinn war mir gefolgt und sah mich jetzt besorgt an. In ihren Augen stand eine leise Sorge, die sie selten zeigte.

>Ja, ich dachte nur…< Ich suchte nach einer Erklärung, die normal klang, und versuchte ein schwaches Lächeln. >Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen… einen alten Freund.<

Sie seufzte, legte einen Arm um meine Schultern und musterte mich mit diesem durchdringenden Blick, der immer schon wusste, wenn ich versuchte, etwas zu verbergen. >Ach, Liv.< Sie schüttelte den Kopf und grinste ein wenig. >Du brauchst wirklich mal wieder eine richtige Auszeit. Vielleicht eine Party mit heißen Typen und guten Drinks. Gut, dass du morgen Geburtstag hast und ich deine Freundin bin.<

Ich zwang mich zu einem Lächeln und ließ sie mich ins Café zurückziehen. Als wir wieder hineingingen, war mir, als hätte sich die Luft um mich verändert. Alles sah aus wie immer – die Theke, die Kaffeemaschine, Quinns fröhliches Grinsen – und doch fühlte ich mich seltsam fehl am Platz, als wäre ich nur halb hier. War es wirklich Lumi, den ich draußen gesehen hatte, oder spielte mir meine Erinnerung einen Streich?

Quinns Worte klangen wie ein Versprechen, dass sie mir das Chaos in meinem Kopf für eine Nacht nehmen könnte. Vielleicht wäre das tatsächlich genau das, was ich brauchte. Ein bisschen Normalität.

Meine beste Freundin bestand darauf, dass wir nach meiner Schicht shoppen gingen. >Du hast morgen Geburtstag! Und wie oft feiert man das schon richtig? Wir brauchen perfekte Outfits – für dich, aber auch für mich!<

Ohne Widerrede zog sie mich von Laden zu Laden, und bald stapelten sich in unseren Armen bunte Stoffe, glitzernde Kleider und schimmernde Oberteile, die mehr Haut zeigten als verhüllten. Ich musste lachen; es war alles so übertrieben, so typisch Quinn – und gerade deshalb fühlte es sich wunderbar normal an.

>Das hier musst du anprobieren!< Quinn drückte mir ein kurzes, funkelndes Kleid in die Hand.

Ich hob es vor mich und zog skeptisch die Augenbrauen hoch. >Bist du dir sicher? Ich meine, es sieht aus, als könnte man das eher als Gürtel tragen.<

>Aber es ist perfekt!< Sie sah mich herausfordernd an und grinste. >Na komm schon, Birthday Girl!<

Also ließ ich mich darauf ein, schloss die Kabinentür und zog das Kleid über. Es schimmerte in tausend Facetten, glitzerte und fühlte sich kühl auf der Haut an. Die seitlichen Cut-outs machten mich erst unsicher, aber dann betrachtete ich mich im Spiegel und musste zugeben, dass es… überraschend gut aussah. Ein bisschen anders, als ich mich sonst zeigen würde, aber morgen war eben auch nicht jeder Tag.

>Zeig dich!< drängelte Quinn ungeduldig von draußen.

Langsam zog ich den Vorhang zur Seite und trat heraus. Quinns Augen wurden groß. >Wow… Liv, das ist es! Du siehst umwerfend aus!<

Ich strich mir über das Kleid und drehte mich einmal im Kreis. Plötzlich kam mir ein Gedanke – dieses Kleid hätte ich vor ein paar Wochen vermutlich nie angezogen, doch jetzt fühlte es sich richtig an. Vielleicht, dachte ich, ist das genau die Veränderung, die ich brauche. Ein kleines bisschen, Schritt für Schritt, einfach anders sein.

>Du brauchst dazu unbedingt diese Ohrringe!< Quinn griff nach einem Paar und hielt sie mir hin. >Glaub mir, die Party wird genial! Und du wirst der absolute Star sein.<

Ich musste lachen, das unbeschwerte Lachen, das ich in letzter Zeit selten gespürt hatte. >Okay, du hast gewonnen.<

Später, als wir mit unseren Tüten voller funkelnder Outfits durch die Straßen liefen, fühlte ich mich endlich wie ich selbst, und doch irgendwie anders – stärker vielleicht. Quinn schloss ihren Arm um meinen und grinste mich an. >Liv, das wird deine Nacht. Wirklich.<

Ich spürte ein Kribbeln, etwas, das wie Vorfreude war, und in diesem Moment war ich einfach nur dankbar für die Normalität, die ich sonst so selbstverständlich genommen hatte.

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