Abschied
Der Abend war ruhig und sanft, das Licht in Santas Werkstatt gedämpft und warm, als Ruhn mich beiseite nahm. Seine Augen – tief und undurchdringlich wie die Dunkelheit zwischen den Sternen – suchten meinen Blick, und zum ersten Mal seit all den Ereignissen spürte ich eine Schwere in ihm, die über das bloße Pflichtgefühl hinausging.
>Liv< begann er, seine Stimme ein wenig rau. >Ich schulde dir Klarheit. All das… der Kuss, die Nähe, das Menschliche… es war Julien, nicht ich.< Seine Worte trafen mich, eine leise Ernüchterung, die ich in meinem Innersten gespürt, aber verdrängt hatte. Er und Julien hatten sich miteinander verschmolzen, und nur dadurch konnte Ruhn diese Nähe zulassen – konnte er fühlen, als wäre er einer von uns. Ich nickte langsam, auch wenn es schmerzte. Ein leiser Stich in meiner Brust, eine Spur von Verlust, die ich nicht ganz abschütteln konnte.
>Ihr werdet zurück in eure Welt gehen müssen< sagte Ruhn sanft, beinahe widerwillig, als hätte er gegen seinen eigenen Verstand anzukämpfen, um das auszusprechen. Ich wusste, er hatte recht. Die Schlacht war geschlagen, die Magie stabilisiert, und es war Zeit, wieder in unser eigenes Leben zurückzukehren.
>Dann heißt es wohl Abschied nehmen< sagte ich leise. Ich spürte, wie sein Blick an mir haftete, und es lag etwas darin, das vielleicht nie Worte finden würde – eine leise Verbundenheit, die über den Moment hinausging. Er nickte, und obwohl sein Gesicht reglos blieb, glaubte ich für einen kurzen Moment, dass auch er den Abschied schwerer nahm, als er zugab.
Wir umarmten uns, und die Berührung war leise und voller Abschied, doch in mir pulsierte das Wissen all dessen, was wir gemeinsam durchlebt hatten. Ruhn, der düstere Wächter, der mir eine Welt voller Magie gezeigt hatte, voller Gefahren und Wunder, in der ich mich selbst und mein eigenes Potenzial neu entdeckt hatte.
Als wir uns voneinander lösten, blieb seine Hand noch kurz geschlossen. >Das ist für dich< sagte er schließlich, seine Stimme kaum mehr als ein Hauch. Ich blickte auf seine Hand, die Finger noch zur Faust geballt, und sah das Glänzen der goldenen Knochen auf seinem Handschuh. Mit einem leichten Zögern streckte ich die Hand aus, und etwas Kühles, Glattes fiel in meine Handfläche. Es war ein kleiner goldener Zahn, funkelnd und geheimnisvoll.
Ich wollte etwas sagen, doch Ruhn legte einen Finger an seine Lippen, das stille Zeichen, dass ich in diesem Moment nicht weiterfragen sollte. Etwas Magisches und Ungesagtes lag in der Luft, ein Abschiedsgeschenk, das mehr bedeutete, als Worte es fassen konnten.
>Es ist alles vorbereitet, um euch zurückzuschicken< erklang Zekes Stimme hinter mir. Schnell steckte ich Ruhns Geschenk in meine Hosentasche, verstaute die Erinnerung an ihn und all das, was wir erlebt hatten, an einem Ort tief in meinem Herzen. Ich sah ihm ein letztes Mal in die Augen, sprach mein leises Lebewohl und wandte mich dann ab.
Der Abschied fiel schwerer, als ich es mir eingestehen wollte. Das Traumland, die Magie und die Wächter waren mir längst mehr als fremde Legenden geworden – sie waren zu einem Teil meiner eigenen Geschichte geworden. Und so verspürte ich den Drang, noch ein paar letzte Worte mit Zeke und Fips zu wechseln, bevor Julien und ich zurückkehrten.
Zeke, der bis eben noch das Portal vorbereitet hatte, kam auf mich zu, als ob er mein Zögern spüren konnte. Sein Gesicht wirkte erschöpft, gezeichnet von dem, was er durchgemacht hatte, und dennoch glühte in seinen Augen ein sanftes, warmes Licht.
>Liv< begann er und legte mir eine Hand auf die Schulter. >Du weißt, ich habe dir und Julien viel zu verdanken. Ohne euch…< Er stockte und atmete tief durch. >Ohne euch hätten wir die Maskenmänner nicht aufhalten können. Das Traumland wäre ein anderes – ein gefährlicher Ort.<
Ich konnte die Dankbarkeit in seiner Stimme hören, doch etwas in mir wusste, dass die Worte, die wir gerade sprachen, nicht annähernd erfassten, was wir zusammen durchlebt hatten. >Zeke< erwiderte ich leise, >es ist mehr als das. Ich habe durch dich – durch euch alle – eine Welt entdeckt, von der ich nicht wusste, dass sie existiert. Es hat mir gezeigt, dass es auch in unserer Welt Magie gibt… auch wenn sie anders ist.<
Zeke lächelte. >Du wirst diese Magie weitertragen, Liv. Ich sehe sie bereits in dir. Die Wächter wählen sich keine Verbündeten ohne Grund, und Ruhn, wie… unnahbar er auch sein mag, hat auch in dir etwas Besonderes gesehen.<
Ich senkte den Blick und nickte. Die Worte wogen schwer, aber auch ermutigend. Ich spürte das Gewicht des kleinen goldenen Zahns, den Ruhn mir gegeben hatte, tief in meiner Tasche, als wäre er das letzte Stück eines Rätsels, das ich eines Tages noch lösen würde.
Dann kam Fips heran, seine Haltung entspannt wie immer, und dennoch merkte ich, dass auch er ein wenig wehmütig wirkte. >Na, Sandmädchen< grinste er mit diesem unverwechselbaren Schalk in den Augen, >wer hätte gedacht, dass du und der Sandmann uns den Tag retten würdet?<
>Hey< lachte ich, froh um die Ablenkung, >du hast uns doch auch ordentlich geholfen. Zumindest zwischen deinen Architekturexpeditionen und all dem ‚Kulturstudium‘, das du betreiben musstest.< Ich verdrehte spielerisch die Augen, woraufhin Fips mit einem gespielt beleidigten Gesichtsausdruck die Arme verschränkte.
>Kultur ist wichtig< sagte er mit erhobenem Finger, und ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen. Doch dann ließ er die Scharade fallen und legte eine Hand auf mein Schulter. >Pass gut auf dich auf, Liv. Es gibt nicht viele Menschen, die dieses ganze Chaos und die Magie in sich tragen können, ohne dabei den Verstand zu verlieren.<
Ich lächelte sanft, dankbar für seine lockere Art und die Freundschaft, die zwischen uns allen entstanden war. >Das werde ich, Fips. Danke… für alles.<
Er nickte und zwinkerte, dann drehte er sich um und murmelte etwas von einer >besonders faszinierenden Schneekugel< die er unbedingt noch einmal sehen musste. Doch ich wusste, dass auch für ihn dieser Abschied nicht leicht war – hinter seiner unbekümmerten Art hatte ich längst ein Herz entdeckt, das sich um seine Freunde sorgte.
Als Fips in den Schatten der Werkstatt verschwand, blieb Zeke noch einen Moment bei mir. Er legte mir eine Hand auf die Schulter und sah mich mit einer Ernsthaftigkeit an, die nichts von der verspielten Art hatte, die er oft zeigte.
>Denke immer daran, Liv< sagte er leise, >du bist nun ein Teil von etwas Größerem. Was auch immer geschieht – diese Erfahrung, die Magie und die Verbindung zu uns, sie werden dich nicht verlassen.<
Ich nickte, und ein kleiner Kloß bildete sich in meinem Hals. >Danke, Zeke. Das werde ich nie vergessen.<
Hinter uns erklang Ruhns tiefe Stimme, die uns daran erinnerte, dass das Portal bereit war. Es war an der Zeit zu gehen. Noch einmal wandte ich mich an Santa, an Fips, an Zeke – jeder von ihnen bedeutete mir nun mehr, als Worte beschreiben konnten. In diesem Moment wusste ich, dass es ein Abschied für immer sein könnte. Doch in meinen Händen, tief in meiner Tasche, lag der kleine goldene Zahn, der mir eine Brücke zur Erinnerung bot.
Julien und ich traten langsam an das Portal heran, ein letztes Mal zurückblickend. Ich sah Ruhn, der mit verschränkten Armen dastand, sein Zepter leicht gegen den Boden gelehnt, und spürte noch immer die stille Präsenz seiner unergründlichen Augen auf mir ruhen.
Dann atmeten wir tief durch, Julien nahm meine Hand, und gemeinsam traten wir durch das schimmernde Portal zurück in die Menschenwelt.
Als wir durch das Portal traten und die Magie der Traumwelt hinter uns ließen, verspürte ich eine seltsame Mischung aus Erleichterung und Sehnsucht, als hätte ich etwas Wertvolles zurückgelassen, das nie ganz mir gehörte. Kaum zurück in unserer eigenen Welt, spürte ich den kleinen goldenen Zahn in meiner Tasche – kalt, aber lebendig in meiner Handfläche.
Und dann traf es mich plötzlich wie ein Blitzschlag: Ich verstand, warum Ruhn mir den Zahn gegeben hatte. Das war kein Abschiedsgeschenk gewesen, kein simpler Glücksbringer, den man einfach so vergisst. Es war eine Verbindung – eine Möglichkeit, ihn wiederzusehen.
Ruhn hatte mir ein Stück seiner eigenen Welt in die Hand gelegt, ein Anker zur Magie der Wächter, die sich jetzt tief in meinem Inneren verankert hatte. Ich spürte es fast als Puls in meiner Tasche, ein leises Summen, das mir klarmachte, dass es nicht nur ein Erinnerungsstück war, sondern eine Einladung. Ruhn mochte hart und undurchdringlich wirken, und doch hatte er mir dieses Zeichen seiner Welt gegeben – nicht, um den Abschied zu besiegeln, sondern um eine Tür offenzuhalten.
Ich zog den Zahn aus der Tasche und betrachtete ihn, das goldene Funkeln, das so unscheinbar war und doch von einer Macht durchdrungen schien, die ich jetzt mehr denn je verstand. Ein winziger, geheimnisvoller Schlüssel zu einer anderen Welt – und ein stilles Versprechen, dass ich zurückkehren könnte, wenn ich es brauchte. Ruhn hatte mir damit mehr als nur ein Souvenir hinterlassen; er hatte mir die Möglichkeit gegeben, ihm wieder zu begegnen.
Vielleicht war dies sein Weg, zu zeigen, dass die Welt der Wächter und die Welt der Menschen nicht für immer getrennt bleiben mussten. Vielleicht hatte er mir auf diese Weise einen stillen Ort in seiner Welt gegeben – einen Ort, zu dem ich zurückkehren konnte, wann immer ich wollte, und an dem er warten würde.
Mit einem sanften Lächeln und neuer Hoffnung in meinem Herzen ließ ich den goldenen Zahn zurück in meine Tasche gleiten. Ich wusste, dass ich ihn irgendwann wieder brauchen würde.
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