Rosie

Erneut stehe ich in der Straße, in der ich aufgewachsen bin. Seit Ewigkeiten war ich nicht hier und nun innerhalb kürzester Zeit bereits zwei Mal. Mein Blick gleitet über die Fassade der Nummer 47, dann herüber zu der der 43. Wir stehen genau in der Mitte und ich frage mich, ob es wirklich eine gute Idee war, mitzukommen.

Offenbar hat meine Mutter nach unserem Umzug den Kontakt zu der netten Dame gehalten, denn sonst würde sie uns kaum zu ihrem Jubiläum einladen. Ich kann mich nur an wenige Begegnungen mit der Frau erinnern. Wie sie Sandra und mir den Ball zurückgeschossen hat, als wir im Garten versucht haben, Fussball zu spielen, und sich mit ihren alten Knochen dabei wesentlich pfiffiger angestellt hat als wir beide. Wie sie mich einmal gebeten hat, ihre Fuchsien in den Hängetöpfen zu gießen, weil sie ihre Leiter verliehen hatte und nicht auf einen Stuhl klettern wollte. Einmal habe ich sie mit dem Postboten schäkern sehen.

Ich bin neugierig auf die neunzigjährige Rosie, wie fit sie wohl nun noch ist, wie viele Freunde und Bekannte sie hat. Wenn sie uns einlädt, blickt sie entweder auf einen eher kleinen Freundeskreis, sodass sie sich aus entfernteren Bekanntschaften bedienen muss, um ihre Feier ans Laufen zu kriegen, oder wir treffen gleich auf die halbe Ortschaft.

Eigentlich hätte das Geplauder, das bereits von der Straße her zu hören gewesen ist, mir Antwort auf diese Frage geben müssen, dennoch verharre ich erstaunt, als wir um die Hausecke treten und auf ihren Garten blicken. Ein paar Nachbarn scheinen ihre Gartenmöbel herangetragen zu haben, denn nirgendwo ist ein Flecken freier Rasen zu sehen, überall sind Sitzgelegenheiten aufgebaut und Buffetbestandteile aufgetürmt.

Meine Mama nimmt mir den großen Eimer voll Couscous-Salat ab, den sie mich gebeten hat, vorzubereiten, und huscht um ein paar unbekannte Gestalten herum in Richtung der Terrasse. Thorsten und ich wechseln nur einen hilflosen Blick und geben uns Mühe, Schritt zu halten. Wir finden sie neben dem Grill, bereits im Gespräch mit einer mittelalten Blondine, die offenbar auch schon damals hier gewohnt haben muss. Kurz denke ich an die Geschichte über Jannik und frage mich, wie alt sie wohl vor sechs Jahren war. Ob sie das ist?

"Hey, du bist ja der kleine Jonathan!", singt sie, als ihr Blick von meiner Mutter zu mir herüber gleitet. Ich hebe die Brauen, zeige ihr deutlich, dass ich von dieser Bezeichnung nicht angetan bin. Wortlos wende ich mich ab, schnappe mir einen Pappteller und belade ihn mit Baguettescheiben und Kartoffelsalat. Meine Füße tragen mich zu einem spärlich besetzten Tisch am Rand des Gartens, zu der Seite, an die früher unser Garten gegrenzt hat. Ein junges Paar - Sie sichtbar schwanger, er mit einem kleinen gelockten Mädchen auf dem Schoß - sitzt gegenüber einer kleinen Figur mit grauen Haaren.

Erst als der freundliche Singsang ihrer Unterhaltung verklingt, die junge Familie sich erhebt und die Dame meinen Blick auf sich zieht, erkenne ich sie wieder. "Na, wen haben wir denn da? Aus dir ist ein ansehnlicher junger Mann geworden, mein Hübscher." Ich räuspere mich - derlei Komplimente sind akzeptabel aus dem Mund einer Neunzigjährigen, dennoch weiß ich keine passende Erwiderung.

"Vielen Dank für die Einladung und alles Gute zum Geburtstag. Wie geht es Ihnen?" Sie macht eine wegwischende Handbewegung, ich bilde mir ein, sie trocken "Papperlapapp" sagen zu hören, doch ihre Lippen bewegen sich nicht. "Wie geht es dir und deiner Schwester? Ich habe gehört, sie hat ein eigenes Café." Ich nicke, erzähle ihr von dem frisch erfüllten Lebenstraum und der Einweihungsfeier. "Ich werde wohl mal vorbeigehen müssen und einen Happen probieren.", verkündet sie, erhebt dabei ihren Zeigefinger, ermöglicht mir einen Blick auf ihre von dunklen Flecken verzierte Haut. Sie wirkt hauchdünn, wie ein feiner Überzug, die letzte Barriere zwischen ihr und dem Anderen. Wie lange dauert es noch, bis sie sich auflöst und Rosie eins wird mit dem Holz des Tisches, dem Gras unter ihren Füßen, der Sommer verheißenden Luft um sie herum? "Das kann ich nur empfehlen."

Sie kichert, die Augen gen Himmel gerichtet, ein Funkeln darin, das mich erkennen lässt, dass das Neunzigjährige an ihr nur der Körper ist. "Ich habe ihr das Häkeln beigebracht. Sie saß verzweifelt auf meinem Sofa, bis sie ein paar Stäbchen häkeln konnte. Immer, wenn ihr ein Fehler unterlaufen ist, kam sie angelaufen und ich musste ihr Werkstück retten. Sie wollte dir einen Schal machen, ist er fertig geworden?" Erstaunt über ihr akkurates Gedächtnis nicke ich. Da gab es tatsächlich diesen Schal, den sie mir irgendwann geschenkt hat, als ich in die vierte Klasse ging. Er bestand aus ungleichen Maschen und willkürlich aneinander gesetzten Stücken, aus Wolle in verschiedener Farbe und Struktur gearbeitet. Ich habe ihn niemals getragen.

"Und du", fängt sie an, eine neue Erinnerung zu teilen. "Du warst so ein braver Junge. Wenn deine Eltern euch zu mir geschickt haben, saßt du immer mit deinem Buch in meinem gemütlichen Sessel. Du sahst aus wie ein Musterschüler." Sie begibt sich in eine andere Sitzposition, scheint mich nachzumachen. Ein gerader Rücken, die Oberschenkel geschlossen und parallel zum Boden. Ihre Hände breitet sie aus, die Innenflächen zu sich gerichtet, als läge ein Buch darauf. Ich muss schmunzeln, auch wenn ich nicht genau erkennen kann, ob sie sich ein wenig über mich lustig macht.

"Moritz!", ruft sie plötzlich, erschreckt mich damit. Er hat nicht erwähnt, dass er auf die Feier einer Nachbarin eingeladen ist, aber das habe ich schließlich auch nicht. Ich wohne seit fast fünfzehn Jahren in einem anderen Teil der Stadt: Wenn einer von uns überrascht sein darf, dann er.

Ein Junge kommt quer über den Rasen auf uns zugeschlendert, die Hände in den Taschen seiner dunklen Jeans vergraben, den Kopf leicht gesenkt, als schäme er sich. Dunkle Locken fallen ihm in die Stirn und auf dem unter hochgekrempelten Hemdsärmeln - es ist weiß, denn um ein schwarzes zu tragen gäbe es kaum eine unpassendere Gelegenheit - entblößten Unterarm schaukelt ein Schiff mit geblähten Segeln.

Jannik? Natürlich, denn auch er wohnt hier. Und auch wenn ich gehofft hatte, ihm nicht mehr ohne Moritz zu begegnen, um die Möglichkeit auszuschließen, einer von uns könne etwas Dummes tun, kribbelt es in meinem Inneren vorfreudig. Doch sie hat Moritz gerufen. Wo ist er? Und wieso hat er sich nicht mehr gemeldet?

Jannik lässt sich vor uns auf die Bierbank gegenüber fallen und blinzelt unter dichten Wimpern hervor. Mein Blick ist unwillkürlich auf seine Lippen geheftet und ich höre Rosie kaum.

"Moritz hier hat als Kind zum Beispiel schon immer im Garten geholfen. Er war ganz aus dem Häuschen von meinem Kräuterbeet und kam immer wieder herüber, wenn er von seiner Seite aus ein bisschen Unkraut dazwischen entdeckt hatte. Aber der liebe Moritz hat es nicht einfach herausgerissen, er hat es ordentlich mit allen Wurzeln entfernt, die kleinen Pflänzchen gesammelt und vorne an der wilden Wiese am Kreisverkehr wieder eingesetzt."

Ich kann nicht verhindern, dass sich ein verrücktes Strahlen auf meinem Gesicht ausbreitet. Ja, das klingt nach Mo und jemand anderen genauso liebevoll über ihn sprechen zu hören, wie ich von ihm denke, macht mich froh. Dann kann ich mit meinem Bild von ihm nicht so falsch liegen.

"Damals wärt ihr vom Alter her zu weit auseinander gewesen, um zusammen zu spielen. Aber schaut euch an, jetzt seid ihr beide erwachsen. Zwei so stattliche junge Männer."

Mehr und mehr irritiert wende ich mich Rosie zu, die Jannik verschwörerisch zuzwinkert. So klar wie gedacht scheint ihr Verstand doch nicht mehr zu arbeiten. Verwechselt sie die beiden? Oder nur ihre Namen? Immerhin könnte das mit den Pflanzen zu beiden passen: Moritz, der sich vielleicht vorstellen könnte, Biologie zu unterrichten, und Jannik, der mir im Wald etwas über essbare Blumen erzählt.

Weiterhin wild zwinkernd drückt sie sich ächzend aus ihrer sitzenden Position empor und begibt sich in Richtung Terrasse von uns fort. Einmal dreht sie sich noch herum und ruft uns zu: "Was für eine perfekte Gelegenheit, das Kennenlernen nachzuholen." Sie kann ja nicht wissen, dass wir einander bereits begegnet sind.

Bei der Erinnerung an einen spezifischen Zeitpunkt innerhalb unserer letzten Begegnung wird mir wieder mulmig zu Mute. Es ist nicht in Ordnung, so zu fühlen. Aber es ist ein erster Schritt, es zu erkennen: Ich mag Mo, aber zu Jannik fühle ich mich körperlich wesentlich stärker hingezogen, das ist alles.

"Wo ist Moritz?", frage ich, noch bevor ich mich wieder traue, ihn anzuschauen. Als ich es dann tue, sehe ich seine Augenbrauen in Überraschung zucken, sich dann enttäuscht senken. "Verabredet.", gibt er vage von sich. Ich nicke, spreche die nächste Ungereimtheit an.

"Wieso nennt Rosie dich Moritz?" Jannik lächelt milde. "Das tut sie schon, seit ich mich erinnern kann." Ich verstehe es nicht: "Ihr habt sie nie korrigiert?" Er zuckt die Schultern, blickt über den Tisch hinweg, irgendwo in eine Menschenmenge. Sind seine Eltern auch hier? Werde ich ihnen noch begegnen? Und wäre es nicht passender, würde Moritz sie mir irgendwann vorstellen? "Als Sechsjähriger findet man so einiges lustig." Als würde ich es verstehen, nicke ich. "Da habe ich ja Glück, dass sie Sandra vier Jahre länger kannte als mich.", merke ich an und bringe ihn mit dem Gedanken, man könne meine Schwester und mich verwechseln, zum lachen. Das Grübchen erscheint in seiner Wange, sein Kehlkopf tritt leicht hervor, als der den Kopf kaum merklich in den Nacken legt. Das wollte ich doch nicht, kann er damit nicht aufhören?

"Du hast ja noch gar nichts gegessen!" Eine mittelgroße Frau tritt hinter Jannik, legt ihre Hand auf seiner Schulter ab. Blond gewelltes Haar fällt offen über ihre Schultern, sie wirkt ein wenig jünger als meine Mutter. Sie rutscht neben Jannik auf die Bank, kurz darauf folgt ein etwa gleichaltriger kahlrasierter Mann, der neben mir Platz nimmt.

Sind sie das? Ich schaue von ihr zu ihm, dann zu Jannik. Er ist größer als sie beide und seine athletische Figur kann er nur von dem Mann haben. Genau wie die Haarfarbe, denn ihre kaum sichtbaren hellen Brauen und die blasse Haut verweisen darauf, dass ihre Locken nicht gefärbt sind. Sie schiebt meinem Gegenüber einen Pappteller herüber, auf dem ein paar der mitgebrachten Speisen angeordnet sind. Spätestens diese Geste überzeugt mich davon, dass sie seine Mutter ist.

"Danke.", kommt es leise von ihm. Ist ihm das unangenehm? Ihm? Ich sitze hier plötzlich neben den Quasi-Eltern des Mannes, den ich date, und Jannik ist unsicher?

"Der Couscous-Salat ist großartig.", schwärmt sie noch und deutet auf den kleinen Berg neben einem Klecks Tsaziki. Janniks Blick zuckt zu mir herüber, wendet sich eilig wieder dem Teller zu, dann zögerlich seinen Eltern.

"Ähm, das ist übrigens Jonathan.", murmelt er halblaut. Wissen sie etwa, was das bedeutet? Haben sie von mir gesprochen vor ihren Eltern? Hat Moritz mich erwähnt? Oder Jannik? Als wen haben sie mich beschrieben? Wissen die beiden, dass ich Moritz über eine Dating-App kennengelernt habe? "Das sind meine Eltern.", fügt er noch an.

Ich löse meinen Blick von ihm und reiche beiden nacheinander lächelnd die Hand. Anja und Robert, so stellen sie sich vor, und die Namen passen gut, finde ich.
Ihre Augen sind groß und tiefblau, der Blick hinein wie eine freundliche Umarmung. In seinem Gesicht stechen die Lachfältchen um den Mund herum hervor und die schiefe Nase, als sei sie nach einer Schlägerei nicht wieder gerichtet worden.

Sie führt ihre Gabel zum Mund, isst von dem eben noch angepriesenen Salat und verdreht genüsslich die Augen, als würde sie eine Werbung drehen. „Ich muss Rosie später unbedingt fragen, wer den mitgebracht hat, und mir das Rezept geben lassen.", verkündet sie. Mein Blick fällt auf das unregelmäßige Muster aus Astlöchern auf der dunklen Tischplatte, meine Finger verkrampfen sich zu Fäusten. Ich will nicht wie ein Angeber dastehen, selbst, wenn ich vielleicht einer bin. Nicht jetzt, nicht vor Moritz Eltern.

Noch mehr als die unangenehme Situation - denn wenn ich etwas sage, wirke ich eingebildet, wenn nicht und sie findet es raus, wirkt es auch komisch - überrascht mich Janniks aufmerksame Musterung.
„Den hat Jonathan gemacht.", erklärt er. Verwirrt blicke ich auf in seine dunklen Augen. Woher weiß er das?

Vorsichtig lernen wir uns kennen. Sie fragen mich aus, ohne es wie ein Verhör wirken zu lassen, und es wird nicht an einer Stelle deutlich, ob sie bereits im Vorhinein etwas über mich wussten. Dass ich gerne koche, wirft Jannik ein, und gleich fragt Anja mich über weitere meiner Lieblingsrezepte aus. Sie berichtet davon, wie sie von ihrem Großvater das Kochen beigebracht gekriegt hat, der ein eigenes Restaurant hatte, das sie nun in dritter Generation leitet. Das Kochen in der Gastronomie habe sie jedoch aufgegeben und sei nur noch für Papierkram und Zeitmanagement zuständig. "Dafür profitieren wir umso mehr von ihren Kreationen.", wirft Robert ein, umfasst quer über den Tisch ihre Hand und ich muss mir ein Seufzen verkneifen ob dieser kitschigen Geste.

Dann stehen auch die beiden wieder auf und lassen mich mit Jannik alleine. Unwillkürlich scheint eine Spannung von ihm abzufallen und er knüpft interessiert an ein paar der Dinge an, über die wir gesprochen haben. Es geht noch einmal um seine Gartenarbeit als Kind, ich interessiere mich für seine Version der Geschichte. Als er von den Kriterien für bienenfreundliche Bepflanzung anfängt, fällt mir etwas ein.

Ohne Vorwarnung schnappe ich mir seine Hand und ziehe ihn mit mir hoch. "Komm mit, ich will dir was zeigen."

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