Ich wüsste gerne...
"Was soll das, Jannik?" Ich kann meinen Blick nicht vom Gesicht des jungen Mannes lösen, der seinerseits überall hinschaut als zu mir.
Mir wird bewusst, dass außer mir in meinen Gedanken, der Pfleger nicht der erste ist, der ihn Moritz nennt. Auch Rosie ist diese Verwechslung unterlaufen, dabei kennt sie ihn bereits seit er ein kleiner Junge war. Länger als Moritz. Was spielen sie für ein Spiel?
Es muss die Verwirrung sein, die mich wütend klingen lässt. „Was ist das für ein Spiel? Ihr seht euch nicht mal ähnlich, aber macht einen auf Doppeltes Lottchen? Ihr habt wohl vergessen, dass ich den blonden Moritz erwarte." Janniks Blick ist nach wie vor an den Krankenhausboden geheftet. „Hab' ich nicht vergessen.", murmelt er.
Entgeistert starre ich ihn an, wünschte, er würde es wagen, auch in meine Augen zu sehen. Will wissen, was in ihm vorgeht. Ist er beschämt, weil er ihre Scharade aufgedeckt hat? Ist er enttäuscht, dass es vorbei ist? Langsam wird mir bewusst, was das bedeutet. Dass Thorsten irgendwie doch Recht gehabt hat mit seiner absurden Vermutung. Sie waren nicht auf ein Techtelmechtel zu dritt aus, aber geteilt haben sie mich irgendwie doch. Wer von ihnen war was? Wen habe ich kennengelernt? Mit wem diese intimen Nachrichten ausgetauscht? Oder waren sie das womöglich beide zusammen? Was haben sie von diesem Spiel?
Wie mutig er mir manchmal vorkam, mein Mo, fällt mir wieder ein. Ich stelle mir den Blonden vor, wie er für die Teile verantwortlich war. Er wirkt souveräner, furchtloser. Vielleicht war dieser hier, der neben mir sitzt, für die anderen Texte verantwortlich. Die unsichereren, neugierig fragenden. Er wirkt aufmerksamer, hat sich an Details erinnert. Meine Allergie, die Fotos, Markus. Während der Blonde das mit dem Kokosgeruch zwischendurch vergessen zu haben scheint.
Und Jannik? Wer ist überhaupt Jannik? Einer von beiden muss der Sohn seiner Eltern sein, der andere der als Kind Dazugezogene. Aber hat Jannik diese Dinge getan, von denen ich gelesen habe? Ist er der "Stecher", als den Mo ihn bezeichnet hat? Hat er ihm den Schwarm vor der Nase weggeschnappt, damals zu Beginn der Pubertät?
Schließlich wird mir auch klar, wieso die Erwähnung des Kusses mit Jannik Mo nicht gestört zu haben schien. Entweder war es der Dunkelhaarige selbst, der mir zu der Zeit geantwortet hat, oder es war ohnehin abgesprochen, was sie einander in Bezug auf mich an Intimität zugestehen. Dass ich mit beiden das gleiche erlebt habe, wird mir mit Schrecken bewusst. Jeweils der Kuss, kurz nacheinander: In der Kneipe und im dunklen Vorraum des Kinos. Die intimeren Berührungen erst am vergangenen Wochenende, beide Situationen nur durch ein paar Stunden voneinander getrennt. Haben sie auch jeder einmal diese verruchten Nachrichten mit mir ausgetauscht? Der Gerechtigkeit halber? Woher können sie gewusst haben, dass ich mich auf beide einlassen würde? Oder wäre das jedem in meiner Situation so gegangen? Sind die Vorwürfe, die ich mir gemacht habe, weil beide Männer mir gefallen - der aus den Texten und der schöne Freund - , am Ende nicht mir anzulasten sondern ihrem Verwirrspiel?
All das geht mir durch den Kopf, während Jannik schweigt. Moritz schweigt. Der Dunkelhaarige. Immer wieder zerteilen sich seine Lippen und er zieht ansetzend die Luft ein, doch er kann sich kein Wort abringen. Bis er schließlich die ersten Worte einer Entschuldigung auszusprechen versucht.
"Sag nicht, dass es dir leid tut!", fahre ich ihm über den Mund. "Eine Lüge kann einem herausrutschen, aber sowas über Wochen hinweg durchzuziehen, das ist Kalkül. Also komm mir nicht mit Entschuldigungen!"
Endlich sieht er mich an, seine Augen riesengroß. Er trägt wieder diesen waidwunden Ausdruck wie bei unserer letzten Begegnung. Als er mich im Eifer des Gefechts gebeten hat, ihn zu küssen. Als ich noch ein schlechtes Gewissen hatte, wegen des anderen Mannes hinter der Wand. Sicherlich weiß er das längst, hat es womöglich sogar mit geplant. Schließlich hat er mich noch gedrängt, in Janniks Bett zu schlafen. Aber die Schublade hat gequietscht, es war keine Lüge.
Eine leise Stimme in meinem Verstand versucht, an der Phantasie festzuhalten. Obwohl ich für diesen Abend geplant hatte, mich von beiden loszusagen, wegen meiner moralischen Verfehlungen, verlangt etwas in mir weiterhin danach, dass es Mo geben muss. Den, der mir mit seiner arglosen Ehrlichkeit den Kopf verdreht hat. Und ist das hier nicht die Chance, mir einzubilden, dass es der hier ist? Der Hübsche? Immerhin müssen die Nachrichten irgendwoher stammen. Jemand muss die Idee gehabt haben zu dem schüchternen Jungen, der sich für Pflanzenkunde interessiert. Der so unbedingt mutig sein will, dass er sich den kleinen Drachen auf die Brust tätowieren lässt. Wieso also nicht dieser hier? Vielleicht gibt es ihn ja, genauso, wie ich ihn mir zusammengereimt habe.
Es ist ein erbärmlicher Versuch, dem Gedanken eine Chance zu geben. Ich strecke meine Hand nach ihm aus, kriege mit leicht starren Fingern seinen T-Shirt-Kragen zu greifen und ziehe ihn zu mir heran. Sofort lässt er mich gewähren, bis er über mich gebeugt dasteht, den Mund leicht geöffnet, offenbar erstaunt. "Vorsicht, Jonathan, deine Hand.", flüstert er. Ich blicke auf die Verbindung unserer Körper, auf den voluminösen Verband um mein Gelenk, der meine Bewegung einschränkt. Ich spüre diese Stelle meines Körpers kaum, ignoriere sie und ziehe ihn näher. Ich muss es jetzt wissen.
Ihm entgleitet ein erschrockenes Geräusch, das durch meine Lippen geschluckt wird, als würde er stolpern und auf meinen Mund fallen. Sein Geruch ist überall über mir. Sein Basisgeruch verblasst, nach dem langen Dienst außer Haus, der Jannikgeruch dafür umso stärker, den ich gierig einatme. Ich küsse ihn harsch, wild, anders als beim ersten Mal. Denn mir ist durchaus bewusst, dass ich es hiernach nicht wieder tun werde. Ich will bloß eine Hypothese überprüfen.
Bald stoße ich auf seine Zunge, die meine vorsichtig ertastet, sich meinem stürmischen Tempo einfach nicht anpassen will. Immer wieder gleiten unsere Münder voneinander, geben uns Atempausen. Er duftet so gut und schmeckt nach etwas Frischem, Grünem. Schon an dem Punkt ist mir klar, dass der Kuss nicht reiner Zweckerfüllung dient, um herauszufinden, was ich wissen will. Ich genieße es viel zu sehr, mir für ein paar letzte Augenblicke einzubilden, es sei Mo, den ich küsse. Der schöne, dunkelhaarige Mo, der mich so gut versteht.
Dennoch muss ich weiter gehen, muss es endlich wissen. Er seufzt gegen meine Lippen, als meine unversehrte Hand unter den Saum seines Shirts gleitet und seine Flanke entlangstreichelt. Als sie emporwandert und mit sachten Berührungen seine glatte Haut veranlasst, durch das Aufrichten der Härchen seine Erregung zu bezeugen. Als meine Finger neckisch seine Brustwarze umspielen. Quälend ziehe ich den Stoff von seinem Körper, hinauf bis zum Hals und zwinge mich, den Blick auf seine entblößte Brust zu richten.
Jannik ist schön. Neben dem, von dem ich bereits wusste - Gesicht, Nase, Arme, Knie, Intimregion, Schultern - ist auch der Anblick seiner Brust anbetungswürdig. Aber es ist zweifelsfrei Jannik. Denn die Haut ist blank. Kein Drache weit und breit.
Ich schlucke, lasse den Stoff wieder sinken und rücke ein Stück in Richtung des Kopfteils, sodass er mittig im Bett kniet und sich über leeren Luftraum beugt. Sein Blick verrät Enttäuschung, Traurigkeit, nicht abgeklungene Erregung. Aber er ist nicht derjenige, der sich diese Gefühle jetzt erlauben darf. Mich haben die beiden hinters Licht geführt, nicht anders herum.
"Wenn du gehst, schick doch bitte den Pfleger nochmal herein." Meine Stimme klingt kalt, mir ist nicht anzumerken, dass ich den anderen soeben fast verschlungen habe. Die Aussage ist deutlich.
Viel zu elegant für seine scheinbare Gefühlslage gleitet Jannik von der Position über meinen Schenkeln zurück auf das hässliche Linoleum. Überbrückt die paar Schritte zur Tür und greift nach seiner Jacke. Die gehört also ihm? Welche Fakten haben sie noch vertauscht? Ist Moritz der Student? Welcher von beiden ist bei den Großeltern auf dem Bauernhof aufgewachsen? Welcher ist der, der auch mit Frauen schläft? Welcher ist der Ältere?
Er dreht sich zu mir herum, als er die Klinke bereits mit der Hand umschließt. Ich muss raten, was er in den Raum hineinflüstert, so wenig dringt davon zu mir heran. Es klingt wie "Pass auf dich auf" in meinen Ohren. Höflich wie eh und je.
Ich lasse meinen Kopf schwer in das Kissen zurücksinken und atme so bewusst wie möglich ein und aus. Immer wieder ein und aus, um nur an nichts anderes zu denken.
Ich bin zu neugierig. Jetzt will ich es wissen: Was von alldem war echt, was davon welchem von ihnen zuzuschreiben? Wieso haben sie das getan? Wer hatte die Idee dazu? Machen sie das öfter? Wieso haben sie sich zu erkennen gegeben? Weil ich mich verletzt hatte? Und macht es das irgendwie besser, zu wissen, dass trotz ihres rücksichtslosen Spiels meine Gesundheit wichtig genug war, um es zu durchbrechen?
Eigentlich muss ich wohl erleichtert sein, dass sie mir mit dieser Offenbarung die Erkenntnis erleichtern, dass ich die ganze Zeit einem Irrglauben erlag. Nicht nur meinen idealisierten Mo scheint es nicht zu geben, sondern auch Moritz und Jannik nicht in der Form, in der sie sich mir präsentiert haben. So ist es vermutlich leichter, damit abzuschließen, ohne einer Phantasie nachzuweinen, die in meinem Kopf schrecklich perfekt war. Sie haben das Bild mir nichts dir nichts beschmutzt.
Nur vorbei ist es in meinem Kopf noch nicht. So viele neue Fragen materialisieren sich, vermehren sich, wollen unbedingt ergründet werden, bevor ich die beiden hinter mir lassen kann.
Eines ist mir sonderbarerweise bewusst: Hätte ich den Drachen auf Janniks Brust entdeckt, wäre das für mein erbärmliches Herz genug gewesen, um ihm alles zu verzeihen. Dann wäre alles wie in meiner Vorstellung gewesen: Der hübsche Dunkelhaarige, der voller Selbstunsicherheit auf der Suche ist nach jemandem, der sich für ihn entscheidet statt für den charismatischen besten Freund. Es hätte mir gereicht, um ihn Mo sein zu lassen. Ob es den Drachen überhaupt gibt, ob der blonde Freund ihn auf die Brust gezeichnet trägt, interessiert mich dagegen nicht im Geringsten.
Mit einem genervten Ausdruck kommt der Pfleger wieder herein, deutet mir an, mich kurz zu fassen. Jannik hat ihn also tatsächlich noch zu mir geschickt.
"Ich würde gerne jemanden anrufen und dann werde ich gehen. Brauchen Sie eine Unterschrift?"
Gelangweilt nickt der müde Mann, kommt eine Weile später mit einem Telefon zurück. Mein Handy hat Jannik wohl in meiner Küche liegen lassen, in der Not. Ich wähle Sandras Nummer, die ich glücklicherweise auswendig weiß, und setze derweil meine Signatur unter einen Schrieb, der bestätigt, dass ich entgegen ärztlichem Rat das Krankenhaus verlasse. Ich bin nicht in Gefahr, das hat der Pfleger selbst gesagt. Sie müssen sich nur rechtlich absichern.
Sandra stellt keine Fragen und macht sich auf den Weg. So ist sie eben, immer zur Stelle, immer eine Hilfe. Aber die Fragen werden kommen, sobald sie mich in Sicherheit weiß. Und ich hoffe, dass ich immerhin auf einen Teil davon die Antworten kennen werde.
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