Hasen
Ich ziehe ihn an der Hand mit mir über die Wiese, wir laufen Slalom zwischen den Gartenmöbeln und herumstehenden Grüppchen. So viele Leute kennt die alte Frau, so viele Leute erinnern sich positiv an sie und wollen mit ihr feiern.
Ein heeres Ziel für das Alter, das sie heute erreicht hat. Aber ich stelle mir lieber vor, mit achtzig in einem Schaukelstuhl zu sitzen, eine Katze auf meinem Schoß, mein geliebter Ehemann bringt mir einen Tee und setzt sich mit einem Buch zu mir. Ich habe noch nie viele Menschen gebraucht, um glücklich zu sein. Und neunzig werden will ich vielleicht gar nicht.
Bevor wir auf dem schmalen gepflasterten Weg an den Himbeersträuchern vorbei um die Nummer 45 herumgehen, weiche ich für ein paar Schritte vom Weg ab, angle nach dem dünnen Schaltuch, das meine Mutter immer um den Träger ihrer Handtasche gebunden hat. Getragen hat sie es noch nie, soweit ich weiß. Mit der Beute in der freien Hand, ziehe ich Jannik weiter, bringe ihn im Vorgarten zum Stehen und halte das Tuch hoch. Zartrosa Wildseide mit weinroten Ornamenten am Rand.
„Mach die Augen zu.", fordere ich mit gedämpfter Stimme. Seine Augen zucken misstrauisch zusammen. „Ich dachte, du willst mir was zeigen?" Ich schüttele den Kopf. „Eher etwas vorführen."
Einen Moment lang scheint er meine Mimik ergründen zu wollen, bis er die Schultern zuckt. „Gut, ich mache die Augen zu. Aber ohne das Tuch. Wenn ich dir vertrauen soll, vertraust du mir auch."
Einverstanden deute ich ihm an, sich bereit zu machen und er schließt tatsächlich seine Augen. Ob er ahnt, um was es geht? Habe ich mich schon verraten?
Aufgeregt ziehe ich ihn erneut hinter mir her, bedacht darauf, ihn auf etwaige Unebenheiten im Gehweg hinzuweisen. Er stolpert mir nach, lässt sich anstandslos führen. Ich glaube ihm, dass er die Augen verschlossen hält.
Seine Hand in meiner ist nicht neu, dennoch fühlt es sich anders an, sie nicht wie bei einer Begrüßung gleich wieder loszulassen. Seine Finger sind schlank und lang, die ganze Hand kommt mir zierlich vor in meiner, schutzbedürftig. Dabei ist Jannik mir eher gegenteilig beschrieben worden. Oder ist das nur meine zusammengereimte Vorstellung eines Casanovas?
Am Ende der Siedlung angelangt, weise ich ihn darauf hin, dass wir die Straße überqueren. Es ist die Straße, auf der wir früher als Kinder mit Kreide gemalt und Gummitwist gespielt haben, keine wirkliche Gefahr. Dennoch will ich, dass er die Augen öffnen kann, wenn er sich dabei unwohl fühlt. Geplant habe ich das hier nicht.
Wir bleiben vor dem kleinen Wiesenstück stehen, ich blicke zu den drei Bäumen herüber, die mir auf dem Hinweg aufgefallen sind. Die Beschaffenheit des Bodens unter unseren Füßen ändert sich - gut möglich, dass Jannik weiß, wo wir sind. Immerhin wohnt er hier und geht diesen Weg sicher regelmäßig entlang.
Auch ich schließe die Augen, sobald ich uns zwischen den Stämmen positioniert habe. Seine Hand lasse ich noch nicht los.
Mit geschlossenen Augen hört man es besser, mit jedem Atemzug immer deutlicher, das Summen über uns. Hektisch, aber geordnet, viel beruhigender als das stakkatohafte Stimmengewirr in Rosies Garten.
„Die Linden blühen." Ich öffne die Augen und blicke direkt in Janniks, die mich bereits betrachten. Ein Lächeln umspielt seine Lippen, zu schwach, um das Grübchen hervorzukitzeln. Dafür ist das ehrliche Strahlen in seinen Augen Beweis genug, dass er sich freut.
Dann schaut er empor, beobachtet wie ich auf dem Weg zur Feier die kleinen, gewissenhaften Arbeiter bei ihrem Treiben. Mein Blick wird unterdessen magisch angezogen von der sanften, geraden Linie, mit der sein Kiefer auf das Kinn zuläuft, und von dem in dieser Haltung deutlich hervortretenden Adamsapfel. Egal, wie oft ich es denke und versuche, die Gedanken zurückzudrängen: Es ändert nichts daran, wie schön dieser Mann ist.
Ich habe keine Ahnung, wie lange wir dort so stehen, Hand in Hand, den Blick immer im Wechsel in die Baumkronen oder auf den jeweils anderen gerichtet. Ich spüre ihn auf mir, wenn ich zwei Meter über mir versuche, die Bienen und Hummeln in dem Blüten- und Blätter-Gewirr zu erkennen. Er erhitzt mein Gesicht, meinen Nacken, meine Schulter. Dann bin ich wieder an der Reihe. Brauen, Nase, Lippen, Kinn, wieder die Nase. Von der Seite ist sie einfach perfekt. Ich will ein Foto hiervon: Dieses akkurate Porträt, die im seichten Wind flackernden Lichtpunkte auf seinen Wangen, in seinem Haar.
Ich verpasse den Takt, durchbreche den Rhythmus, nach dem ich nun wieder an der Reihe wäre, Insekten zu beobachten, und begegne seinem Blick. Erst, dass er meine Hand loslässt, erinnert mich daran, sie noch gehalten zu haben. Was mache ich hier? Wieso habe ich ihn hergebracht?
Janniks Blick zuckt zwischen meinen Augen hin und her, kurz hinab zur Wiese. "Willst du wieder zurück zur Feier?", frage ich. Hoffe, ein bisschen Normalität erzeugen zu können, damit er das hier vergisst. Jannik schüttelt den Kopf. "Ich wollte sowieso nicht lange bleiben.", gesteht er. Mag er auch keine Menschenansammlungen? Hat er noch etwas vor?
Er reagiert auf mein Schweigen, indem er noch etwas sagt. "Willst du wieder hin oder vielleicht noch etwas unternehmen?" Überrascht suche ich in seinen Augen nach etwas, das mich seine Worte leichter verstehen lässt. Ob ich noch etwas unternehmen will ... mit ihm?
"Stadtpark?", fragt er, nachdem ich erneut keine passende Entgegnung finde. Erleichtert nicke ich, ärgere mich sogleich darüber. Ich sollte zurückgehen. Mit ein paar Fremden reden, ein bisschen Salat essen, mit meinen Eltern die Feier verlassen. Stattdessen stimme ich zu, meinen Nachmittag mit Jannik zu verbringen. Mo wird es herausfinden. Und dann? Was ist mit unserer Verbindung?
"Ich würde mich nur gerne kurz umziehen. Kommst du eben mit rein?" Jannik deutet an sich hinab: Die dünnen Beine in der enganliegenden schwarzen Stoffhose. Dann hinter sich, in die Richtung, aus der wir kommen. Zu seinem Wohnhaus.
"Du bist ja auch verrückt, dich bei dem Wetter so warm anzuziehen.", bemühe ich mich um ein unverfängliches Gespräch. Er zuckt mit den Schultern, schweigt. Ein paar Schritte später schließt er die Haustüre auf und lässt mich vor sich hindurchtreten. Und schlagartig umhüllt mich ein bekannter Geruch.
Zwei Szenen blitzen in meinem Kopf auf, wechseln sich miteinander ab. Beide Szenen sind von diesem Geruch gefärbt, und doch riechen sie verschieden: Moritz in der Kneipe, so dicht wie nie zuvor. Der Ärmel seines Hemdes ganz nah, als er meinen Nacken umfasst. Kurz danach Kokos in seinen Haaren - Janniks Schuld. Dann Jannik im Kino, sein ganzer Körper von oben bis unten an meinen gedrängt.
Mir wird bewusst, dass beide Männer zusammenleben, den gleichen Basisgeruch verströmen, getönt von jeweils einer persönlichen Note. Ob das ihr Waschmittel ist? Benutzen sie das gleiche Duschgel? Ich schlucke bei dem Gedanken, dass sie wohl auch die gleiche Dusche benutzen. Worauf habe ich mich bloß eingelassen?
"Möchtest du noch etwas trinken?" Ich schüttele den Kopf, verfolge mit meinen Blicken, wie Jannik knapp nickt und die Treppe nach oben sprintet, wobei er mir seine Rückseite in der engen Hose präsentiert. Das macht er doch mit Absicht! Hat er das geplant? Ist das Umziehen ein Vorwand? Erwartet er, dass ich ihm nach oben folge? Und was dann?
Der kleine Film, der sich in meinem Kopf abspielt, versetzt mir einen Satz heiße Ohren und ein schlechtes Gewissen. Wieso kann ich nicht damit aufhören, ständig und immer wieder so über ihn nachdenken zu müssen? Zum Glück erscheint Jannik so schnell wieder am Fuß der Treppe, wie er sie erklommen hat: Nun in einfarbigem Shirt und Shorts, die bis knapp oberhalb seiner Knie reichen. Sogar seine Knie sind schön.
"Wieso eigentlich der Stadtpark? Der Otto-Dings-Park ist doch näher." Jannik nickt, scheint den Nachnamen des ominösen berühmten Herren auch nicht zu wissen, nach dem der grüne Flecken Erde benannt ist. "Im Stadtpark flitzen zu der Jahreszeit kleine Wildkaninchen rum."
Kaum, dass wir im Park ein paar Abzweigungen genommen haben und hohe Nadelbäume über uns Weg und Wiese beschatten, hoppelt in gewisser Entfernung ein solches vor uns davon ins Gebüsch. Jannik deutet mit ausgestrecktem Arm an der Stelle vorbei, an der es verschwindet, und ich entdecke zwei andere: Halb so groß, neugierig unter ein paar Zweigen hervorlugend. "Da sind zwei Junge, siehst du sie?", haucht er nah an meinem Ohr. Sein Atem streift meinen Hals.
Von meiner Gabel essen bei Sandras Einweihung, die Entschuldigung für den Kuss im Kino, die Beinah-Berührung beim Hinweis auf flauschige Kleintiere: Seine Taktik ist gut. Vielleicht muss ich mir nur immer wieder vor Augen halten, was er damit zu bezwecken versucht. Aber wirkt es dadurch weniger effektiv?
"Kann ich dich etwas fragen?" Wir sitzen im Gras, ich beobachte noch immer die Langohren. Er hat Recht, es sind wirklich viele unterwegs, das ist mir hier bislang nie aufgefallen. Was wird er wohl wissen wollen? "Wenn ich dich auch etwas fragen darf?"
Er nickt, lässt sich nicht davon abhalten, als erster zu sprechen. "Du kochst gerne und deine Schwester backt professionell Süßkram. Wie machst du das?" Seine Hand deutet unbestimmt auf meine Gestalt, dennoch muss ich ein Seufzen unterdrücken. Er kann es ja nicht wissen. Er ist nicht der, der wie Moritz und ich die Oberflächlichkeit fürchtet - auch wenn ich ihr selbst ganz unfreiwillig anheim gefallen bin. Vermutlich mag er einfach schöne Menschen, vor Allem in seinem Bett.
"Ich arbeite körperlich, das trägt schonmal seinen Teil dazu bei, Fett zu verbrennen. Ab und zu bin ich im Fitnessstudio. Und ich ernähre mich in der Regel nicht weit über meinem Leistungsbedarf." Es klingt einfacher, als es sich manchmal anfühlt.
"Was heißt ab und zu?", hakt Jannik nach, bezüglich des Sports. "Etwa drei, vier Mal die Woche an wechselnden Tagen." Ich zucke die Schultern, sehe seine Brauen zusammenzucken. "Und du zählst Kalorien?" Wieder ein Schulterzucken. "Nicht mehr als der durchschnittliche Mann auch." Jannik schüttelt den Kopf. Ich sehe ihm an, was er denkt. Dass der durchschnittliche Mann sowas nicht tun würde. Dabei sind im Fitnessstudio tatsächlich einige, die wesentlich mehr Wert auf ihr Äußeres legen als ich.
"Was?" Ich erahne, in welche Richtung seine Gedanken gehen, dennoch frage ich nach, klinge gereizt. "Ich bin weder zu dünn, noch sehe ich aus, als würde ich Steroide nehmen. Das ist ein gesunder Körper mit Durchschnittsgewicht." Er könnte sich doch an die eigene Nase fassen, kein überflüssiges Gramm Speck ist an ihm, soweit sein bekleideter Läufer-Körper diese Aussage zulässt.
Jannik antwortet nur mit seiner Mimik: Die Lippen zusammengepresst, in den Augen Bedauern und Sorge. Ich bin gereizt, ein bisschen wütend, dass er mich konfrontiert, völlig aus dem Nichts. Gleichzeitig aber bin ich überrascht, wie er meinen wunden Punkt treffen konnte. Alles an meiner Erscheinung ist normal, es gibt keinen Anhaltspunkt für seine Fragen.
Auf sein Schweigen hin werde ich milder. "Wieso fragst du das, wie kommst du darauf?" Er zieht die Unterlippe zwischen die Zähne, zupft an ein paar Grashalmen herum, ohne sie wirklich auszureißen. "Ich hab' bloß... Bevor ich dich geküsst habe-" Er räuspert sich, wollte wohl selbst nicht davon anfangen. Oder ist das bloß Show? "- Ich hab' gedacht, dass du weicher bist. Aber dann habe ich dich gespürt und du hast dich so... "perfekt" angefühlt." Er malt die Gänsefüschen in die Luft. "Ich weiß auch nicht, das hat für mich nicht zusammengepasst. Ich hab' mich einfach gefragt, wieso du das machst."
Verwundert mustere ich ihn. Was will er mir damit sagen? "Was, auf meinen Körper achten?", gebe ich zurück, versuche, nicht allzu patzig zu klingen. Jannik zuckt nun seinerseits die Schultern, ebenso hilflos wie ich mit dieser Situation. "Tut mir Leid, Jonathan. Das geht mich nichts an, ich verstehe bloß nicht, wieso dir das so wichtig ist."
Er sieht unglücklich aus, sicherlich ärgert er sich, gefragt zu haben. Dabei bin ich irgendwie positiv davon überrascht, dass er sich überhaupt darüber Gedanken macht, was in mir vorgeht. Dass er mich offenbar genau genug beobachtet, um bereits nach den paar Begegnungen auf genau dieses Thema zu stoßen. Vielleicht mag er mich ja.
Kurzentschlossen ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und suche nach einem der alten Bilder. Es ist über vier Jahre her, und doch habe ich die Beweise noch nicht vernichtet. Den Bildschirm halte ich Jannik hin, er dreht ihn zu sich, ohne meine Finger zu berühren. Betrachtet den etwas jüngeren, etwas fülligeren Jungen. Ich war nicht dick. Ich war unförmig, das war alles. Die Linien im Gesicht ein wenig runder, die Arme dünner. In keiner Weise ungesund. Und dann habe ich die Kontrolle übernommen.
Jannik lächelt, deutet dann mit dem Zeigefinger auf die Hand, die auf der Schulter des jüngeren Jonathans liegt. Er spricht es nicht aus, vermittelt mir aber das Gefühl, dass er genau wisse, zu wem sie gehöre. Wie viel hat Mo ihm erzählt? Weiß Jannik von Markus? Weiß er genug, um sich zusammenzureimen, dass nur ein, zwei Sticheleien und das unwillkürliche Gefühl meiner Unzulänglichkeit ausgereicht haben, um meine Erscheinung in Frage zu stellen?
Der Bildschirm wird schwarz, das Handy verschwindet zurück in meiner Tasche. Die Erinnerung an das unwohle Gefühl hinkt einen Moment hinterher, lässt erst von mir ab, als Jannik meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Auf seine schlanken langen Finger auf meinem nackten Knie. "Du bist schön, Jonathan. Ein paar Anhaltspunkte von Genuss würden dir gut stehen."
Die Luft um mich herum wird ganz überraschend dünner - ist es die Berührung? Das Kompliment? Die Vorstellung, er könne mich auch in dieser anderen, unförmigeren Version noch attraktiv finden?
Das einzige, das mir einfällt, um wieder aufatmen zu können, ist eine flapsige Entgegnung, doch seine ungekannt direkte Antwort macht meinem Plan einen Strich durch die Rechnung.
"Stehst du da etwa drauf?"
"Dann kann man sich besser festhalten."
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