Füße
"Verdammt, was stimmt nicht mit dir, Jonathan!?" Im letzten Moment, bevor sie zur falschen Seite kippen kann, umfasst Thorsten von unten die schwankende Leiter, auf der ich stehe. Keine Ahnung, wie das passieren konnte. "Erst versaust du mir die Hälfte vom Material, weil du es im falschen Verhältnis mischst, und ich kann beschwören, dass du schon dreimal über deine eigenen Füße gestolpert bist. Geh nach Hause! Iss was, entspann dich. Nimm dir den Rest der Woche frei. Und komm gefälligst erst wieder, wenn du niemanden auf meiner Baustelle in Lebensgefahr bringst!"
So wütend habe ich ihn bisher selten erlebt, doch richtig treffen tut es mich nicht. Es ist mir egal. Ich bin zu müde, um mir darüber Gedanken zu machen, was ich falsch gemacht habe, oder mich darüber zu amüsieren, wie er voller Herzblut von "seiner" Baustelle spricht. Vermutlich hat er Recht und ich sollte den Schlaf nachholen, der mir fehlt. Nur wieso sollte es plötzlich funktionieren, die blöden Gedanken loszuwerden, wenn es schon in den letzten Nächten nicht möglich war?
Ich komme mir erbärmlich vor, mich von dieser Sache so aus der Bahn werfen zu lassen. Das ist nicht meine Art: Nach der Geschichte mir Markus hat sich keines meiner Gefühle auf meine Arbeitsfähigkeit ausgewirkt. Aber es fällt mir seit Tagen schwer, zu schlafen, und wenn mir dann am frühen Morgen doch die Augen zufallen, sehe ich sie vor mir. Moritz - alle beide. Wie sie über mich lachen, dass ich ihnen auf den Leim gegangen bin. Wie sie über ihre Entlarvung gelangweilt die Schultern zucken und sich einem der anderen zehn Typen zuwenden, mit denen sie zeitgleich das selbe Spiel getrieben haben. Eines ihrer hämisch dreinschauenden Gesichter verletzt mich wesentlich mehr als das andere, doch vor Allem enttäuscht bin ich von Mo: von dem perfekten Konstrukt, das sie in meinem Kopf geschaffen haben. Ich habe mich in jemanden verliebt, den es nicht gibt.
Auf gewisse Weise war mir das schon vorher bewusst. Man kann sich in einen körperlosen Charakter verlieben, ganz bestimmt, aber man kann nicht erwarten, dass sich etwas Reales daraus ergibt. Der Körper, den ich ihm in Gedanken zugeschrieben habe, hat ihm nicht gehört, das war mein Stand der Dinge - Ausreichend, um zu wissen, dass dieser Mo nicht existierte. Aber zu erfahren, dass auch der Charakter, den sie mich haben kennenlernen lassen, nicht echt ist, trifft mich schwerer, als ich es noch bei der Entdeckung im Krankenhaus für möglich gehalten habe.
"Weißt du, was wir machen?" Sandra ist für Ablenkung. Das war schon immer ihr Plan B, wenn Reden nicht funktioniert hat. In Ablenkung ist sie unschlagbar. Sie denkt sich wundervolle Beschäftigungen aus, die Körper und Geist in Atem halten und einen gerne tagelang beschäftigen. Ich bin also erwartungsvoll gespannt auf den Campingtrip, auf den sie mich mitnehmen will, oder den Buchclub, in dem sie mich eingetragen hat. Vielleicht gibt es auch ein Speeddating-Event und sie verpflichtet mich, bis zum Ende der Woche mindestens drei der Männer wiedergetroffen zu haben.
"Wir machen uns einen ganz gemütlichen Sonntag, wie früher. Wir gehen Schwimmen, dann gibt es zuhause Kakao mit Orangengeschmack und Käsetoast aus dem Sandwichmaker. Wir gucken irgendwelche alten Folgen von der Sendung mit der Maus. Wir können eine Bude aus Matratzen und Decken bauen und uns Geheimnisse erzählen. Bist du dabei?"
Ob ich dabei bin? Ein ungewöhnlich entspannter Vorschlag von ihr, der mich augenblicklich überzeugt. Nostalgie hilft doch immer, die Gedanken zu fesseln. Wenn es schon nicht gelingt, sie von Moritz und Moritz wegzulenken, kann ich sie immerhin zu den kleinen lustigen und prägenden Kindheitserinnerungen hinlenken. Ich war ewig nicht mit Sandra im Schwimmbad.
Dass wir ewig nicht gemeinsam im Schwimmbad waren, ist auch Sandras Bemerkung, als wir uns am Beckenrand nach dem Abduschen wiedertreffen und unsere Handtücher ablegen. Allerdings deutet sie dabei an meinem Körper abwärts und scheint erst jetzt zu bemerken, dass ich in den vergangenen Jahren doch deutlich abgenommen habe.
"Und ich dachte, wir teilen zu fünfzig Prozent die gleichen Gene!?", beschwert sie sich, doch richtig Ernst meint sie es wohl nicht. Ihre sanften Rundungen am ganzen Körper gehören einfach zu ihr dazu und ich weiß, sie liebt sie.
"Na komm, wer als erster zwanzig Bahnen geschafft hat!", schlage ich vor und stelle die Badeschlappen am Rand des Beckens ab. "Das hättest du wohl gerne!", gibt sie zurück und streckt mir die Zunge heraus. Rasch haben wir uns auf zwei nebeneinanderliegenden Bahnen einquartiert und schwimmen um die Wette. Während ich immer nach dem gleichen Teil der Strecke auf Hin- und Rückweg eine ältere Dame umrunden muss, schwimmt Sandra ohne Hindernisse und reckt triumphierend vom Rand aus die Arme nach oben, als ich gerade auf der gegenüberliegenden Seite zur letzten Runde ansetze.
Erschöpft klammere ich mich neben ihr an die Fliesen, hinter denen das überschwappende Wasser abläuft, und lehne die Stirn auf meine Unterarme. Auch Sandra neben mir atmet schwer, sie hat alles gegeben.
Ich habe nur am Rande mitgekriegt, dass es lauter geworden ist im Bad. Die älteren Herrschaften, die brustschwimmend auf und ab gedümpelt sind, sind fast alle verschwunden, nun entdecke ich jüngere Leute in kleinen Grüppchen. Tuschelnde Teenager-Mädchen hinter Sandra am Beckenrand. Coole Jungs am Sprungturm. Knapp vor meinem Gesicht tapsen die Füße der übgrigen Badegäste entlang, die aus den Duschen kommend die große Halle betreten. Rötlich behaarte Füße in bei jedem Schritt quietschend Luft entweichen lassenden Latschen. Ich kann nicht wegsehen. Hagere mit Altersflecken und barbiepink lackierten Nägeln in Leoparden-Flip-Flops. Es ist beruhigend, nur auf die Füße zu achten, während ich noch meinen Atem wiederfinde. Gleich will ich Sandra zu einer Revanche auffordern, doch ich bin schneller erschöpft als sonst - der Schlafmangel zeichnet sich in meiner Kondition ab.
Ein weiteres Paar Füße: Jünger, schlappenlos. Die Sehnen treten deutlich unter der leicht gebräunten Haut hervor, die Zehennägel sind ordentlich gepflegt. Oberhalb des linken, keck hervortretenden Fußknöchels ein Schatten. Kein Schatten. Eine Blume.
Obwohl die feinen Linien schwarz sind, sehe ich sie unwillkürlich in Farbe vor mir: Blauviolett mit Farbverlauf in den einzelnen spitz zulaufenden Blütenblättern. Ich verfolge die Füße mit meinen Blicken, als ich nur noch die Achillessehne erkenne und eine weiche Sohle, die sich bei jedem Schritt in meine Richtung hin entblößt. Ich habe noch nie zuvor schöne Füße gesehen.
Aber natürlich müssen auch seine Füße schön sein, geht es mir weiter durch den Kopf, als ich ihn erkenne. Er tritt an eine kleine Frau mit milchweißer Haut und kastanienfarben getönten Haaren heran, die ihr noch trocken nur bis zu den Ohrläppchen reichen. Seine Finger berühren sanft ihre Schulter und sie fährt mit einem breiten Strahlen zu ihm herum. Ihre Hand findet Platz auf seinem Oberarm, schmunzelnd bewegen sich ihre Lippen.
"Was ist los, willst du keine Revanche?" Ich höre meine Schwester erst, als sie ihre Fingernägel in meine Schulter bohrt und die Worte wiederholt. Benommen schüttele ich den Kopf, kann den Blick nicht von ihm lösen.
Jannik. Jannik mit einer schönen Frau. Er ist es doch, der Schwerenöter, wie Mo ihn beschrieben hat. Kaum ist die kleine Spielerei mit mir beendet, ist die nächste an seiner Seite. Oder wer weiß, wieso sollte er nicht mehrere Eisen gleichzeitig im Feuer gehabt haben? Nur... Seine Stimme dringt in meine Grübelei, sein unterdrücktes Keuchen. Wieso hätte er am Schluss diese Worte sagen sollen? Welchen Sinn hatten sie für das Spiel?
"Komm schon, ich kenn' dich! Du steigst nicht aus dem Wasser, bis du mich nicht einmal geschlagen hast. Du liebst Wettbewerbe!", tönt Sandra in meinen Ohren, bemüht, meine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen. Hat sie ihn noch gar nicht bemerkt? Wie sonderbar, dass ich ihn an der Blume auf seinem Fuß erkannt, obwohl ich weder Blume noch Fuß je zuvor von ihm gesehen habe.
Wettbewerbe, klingt die Stimme meiner Schwester in meinem Kopf nach. Und plötzlich ergibt alles einen Sinn. Es war ein Wettbewerb. Ein "Wer kriegt den dummen Trottel aus dem Internet schneller in sich verliebt". Auf einmal ist alles, was geschehen ist, einleuchtend.
"Was ist denn los mit dir?" Sandras Hand streicht besorgt über meine Schultern. Ohne hinzusehen weiß ich, dass sie meinem Blick gefolgt ist, als sie scharf die Luft einzieht. "Oh Mist."
Ganz genau, denke ich, fühle mich jedoch nicht in der Lage, etwas zu erwidern. Jannik lässt das Mädchen stehen und positioniert sich an einem der Startblöcke. Ich kann nicht umhin, die gespannte Muskulatur seiner Beine zu bewundern. Es ist tatsächlich kein überflüssiges Gramm Fett an ihnen, genau wie am Rest seines Körpers. Er könnte es sich leisten, eine dieser engen Sport-Badehosen zu tragen, die sämtliche Proportionen preisgeben, die sie verbergen sollten. Stattdessen umflattert eine unauffällig grüngraue Shorts seine Schenkel. Ich betrachte seine Schultern, als er sich vorbeugt. Seine lang gestreckten Arme, die verbundenen Hände mit den langen Fingern. Ich kann sie aus der Distanz nicht sehen, aber ich erinnere mich gut an seine Finger. Sein Rücken bildet eine formvollendete Kurve, die Rippen zeichnen sich durch sein Fleisch zaghaft ab.
"Also doch Jannik, der Hallodri.", seufzt Sandra und ich verspüre nicht einmal den Drang, sie darauf hinzuweisen, dass niemand in diesem Jahrhundert mehr diesen Begriff verwendet. Sie klingt verwirrt, doch nicht sonderlich überrascht. Es spielt ihrer Theorie zu, es sei bloß ein Missverständnis.
Ich kann meine Augen nicht von ihm lösen. Seine Zehen krallen sich um die vordere Kante des steinernen Blocks, mit dem ganzen Körper schwingt er leicht zurück, ehe er die Arme pfeilförmig nach vorne schwingt und den Kopf mit ihnen auf eine Linie bringt.
In dem kurzen Moment zwischen dem Absprung und dem Durchbrechen der Wasseroberfläche sehe ich ihn. Einen weiteren Schatten. Nicht direkt auf der Brust, eher auf der Seite. Von frontal mit Sicherheit nicht zu bemerken. Gut möglich, dass es ein Drache ist.
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