Bis spät in die Nacht

Am liebsten würde ich sofort antworten, doch ich zügle mich und esse  zuerst meine Reste von gestern auf. Ich sollte mir vielleicht wirklich  eine gute Einstiegsfrage überlegen. Etwas, das meine Neugier zeigt,  nicht abgedroschen klingt, und mir hilft, ihn tiefer zu verstehen. Ich  will ihn kennenlernen, aber nicht bloß den Fragebogen weiterführen, den  er in der App bei der Profilerstellung ausfüllen musste.

Wie schon zuvor, als ich nach dem perfekten Satz gesucht habe, um  Kontakt aufzunehmen, tippe ich einige Fragevarianten ein und lösche sie  rasch wieder. Noch sind wir anonym. Durch die Funktionsweise der App,  die einem nur die Benutzer in einem gewissen Umkreis anzeigt, weiß ich  aber, dass er in der gleichen Stadt unterwegs ist wie ich. Eine Frage  nach seiner Familie oder seinem Beruf könnte genau diese Anonymität ganz  schnell aufheben. Und dafür verwendet man schließlich keine App ohne  Fotos.

Ich wüsste gerne, wie alt er ist. Zwischen 18 und 25 muss er sein,  wenn er das Alter korrekt abgegeben hat, aber vielleicht ist er sogar  mein Jahrgang. Vielleicht war ich mit ihm in der Schule, im  Ferienzeltlager der Kirche, vielleicht räumt er im Supermarkt Regale  ein, um sich fürs Studium etwas dazu zu verdienen. Aber nach dem Alter  zu fragen wäre nicht gerade das, was er mit „Lass dir aber was Gutes  einfallen" andeutet, oder?

Ich liege bereits im Bett, als mir etwas einfällt.

Was bedeutet der erste März 2015 für dich? Dein Geburtsdatum kann es ja kaum sein...

Ich schicke die Nachricht ab, ehe meine Zweifel mich noch länger davon abhalten.
Seine Antwort kommt postwendend, als hätte er tatsächlich darauf gewartet, dass ich ihm die geforderte Frage stelle.

Ich kann mich nicht erinnern, was an dem Tag passiert ist, keine Ahnung. Wie kommst du drauf?

Die Zahlen hinter deinem Profilnamen ;) Was bedeuten sie dann?

Oh! Was lässt dich denken, dass sie kein zufälliger Vorschlag vom Appbetreiber waren, weil „Fremder" schon vergeben war?

Glaube ich einfach nicht. Aber ich kriege noch eine Antwort!

Mein bester Freund und ich hatten als Kinder eine „Geheimsprache",  bei der wir jeden Buchstaben durch dessen Rang im Alphabet ersetzt  haben. 19-9-5-8-19-20-5?

19-5-8 9-3-8! Aber was soll dann ACAE bedeuten?

War ich nicht mit der Frage dran?

Nö- du hast „Siehste" gefragt :D Aber ich sehe schon, du willst nicht antworten. Verschieben wir das auch auf später?

Gerne! Wenn ich dann jetzt dran bin, würde ich gerne wissen, ob du hier aufgewachsen bist?

Ich muss lächeln. Reibungslos geht es hin und her, er scheint das  Handy ebensowenig aus der Hand legen zu wollen wie ich, obwohl ich  langsam schlafen sollte.

Bin ich. Ich bin sogar noch hier im  Krankenhaus geboren worden, kurz darauf wurde die Geburtenstation  geschlossen. Wo kommst du her?

Dieses Mal dauert es eine Minute, bis die Nachricht erscheint.

Tut mir leid, dass ich es gegoogelt habe, aber so konnte ich eine Frage sparen: Du müsstest 23 sein.
Ich bin mit fünf Jahren hergezogen, zu meiner Tante. Seit ich sechs bin wohne ich aber bei den Eltern meines besten Freundes.
Hast du Geschwister?

Meine Brauen ziehen sich unwillkürlich zusammen, halten Rat in der  Mitte meiner Stirn. Gewieft, wie er sich die Information über mein Alter  erschlichen hat, ich bin beeindruckt, auch wenn ich ihm diese Antwort  beinahe auf dem Silbertablett präsentiert habe. Und was ist mit seiner  eigenen Familie, dass er bei einer anderen wohnt? Sicherlich ist es noch  zu früh, um genauer nachzufragen. Dass er aber trotzdem ehrlich  antwortet, gefällt mir gut. Er hätte auch lediglich die Stadt nennen  können, aus der er als Kind hergezogen ist, und mich in dem Glauben  lassen, er wohne mit seiner Familie zusammen.

Ich habe eine ältere Schwester, vier  Jahre Abstand. Sie eröffnet demnächst ihr eigenes  Geschäft. Wir verstehen uns ziemlich gut.
Wie alt bist du?

Dass er keine Geschwister hat, liegt nach der Aussage über das Wohnen  beim besten Freund nahe. Nachdem er mein Alter herausgefunden hat,  fühlt sich die Frage berechtigt an.

Neunzehn. Ich hoffe, das ist dir nicht zu jung?

Ich lächle über seine Unsicherheit und werde wieder daran erinnert,  zu welchem Zweck wir einander kennenlernen. Auch wenn wir jetzt noch  anonym sind und nicht wissen, wie der andere aussieht, beinhaltet der  ultimative Zweck doch, sich irgendwann zu begegnen.

Wenn mir das zu jung wäre, wärst du mir nicht angezeigt worden. Ich bin dir hoffentlich auch nicht zu alt ;)

Ist das deine Frage? Bist du nicht. Haarscharf :P Wohnst du bei deiner Familie?

Nein, ich bin vor ein paar Monaten  ausgezogen. Meine Mutter arbeitet zuhause und man begegnet ständig ihren  Kunden, das war allen einfach nur unangenehm. Wo stehst du in deiner  beruflichen Entwicklung?

Ich merke, wie ich ursprünglich nach seinem  Beruf fragen wollte, doch mit neunzehn Jahren kann ich nicht davon  ausgehen, dass er arbeitet. Vielleicht tut er das und hat bald eine  Ausbildung abgeschlossen. Vielleicht studiert er aber auch oder schließt  erst in diesem Sommer die Schule ab.

Ich mache gerade mein Freiwilliges  Soziales Jahr beim Rettungsdienst. Ursprünglich hatte ich immer vor, zu  studieren, aber es gefällt mir sehr gut und ich könnte mir vorstellen,  Rettungssanitäter zu werden. Was macht deine Mutter denn beruflich, dass  ihr Kunden zuhause habt?

Wow, das finde ich beeindruckend! Da  erlebt man sicher so einiges, das man nicht mehr vergisst. Ich kann mich  nicht entscheiden, ob ich wissen will, ob du mal ein Leben gerettet  hast, oder was dein ursprünglich geplanter Studiengang gewesen wäre...  Suchst du dir eine  Frage aus?
Oh, sie ist psychologische  Psychotherapeutin. Als ich klein war, war den Klienten das egal, wenn  sie mir am Gartenzaun begegnet sind oder ich vorm Praxisfenster im  Garten gespielt habe. Aber mit der Zeit wurde es irgendwie komisch,  zumal die Stadt wirklich nicht so groß ist, wie man meinen könnte...

Ich werde nett sein und beide  beantworten. Ich war bislang bei neun Reanimationen dabei, von denen  vier erfolgreich waren. Beide Situationen können einem ganz schön nahe  gehen, aber wir reden im Team dann viel darüber, damit keiner etwas mit  nach Hause nimmt. Und ich interessiere mich für Botanik, Anatomie,  Sportwissenschaften. Aber um Lehrer zu werden fehlt mir vermutlich das  Selbstbewusstsein. Ich kann gut erklären, hat man mit gesagt, aber mich  vor dreißig Leuten zu behaupten wäre nicht meine Stärke.
Hast du mal einen ihrer Kunden erkannt? Oder der dich?

Ich werfe einen Blick auf die Uhrzeitanzeige  in der oberen linken Ecke meines Handys und runzle die Stirn. So viel  haben wir gar nicht geschrieben, und doch ist es schon sehr spät für  meine Verhältnisse.

Nicht nur einmal! Ich bin nicht hier in  der Stadt zur Schule gegangen und die meisten wollen wohl keine Therapie  dort machen, wo sie wohnen. Einmal stand ein ehemaliger Lehrer von mir  vor der Tür, das war ihm unangenehm...
Gibt es für deine Entscheidung gegen den Lehrerberuf noch andere Gründe als deine Schüchternheit?

Oh, das ist wirklich unangenehm!
Ich  weiß nicht, das kommt mir nicht wie ein einzelner Grund vor. Es ist ja  nicht nur, dass ich vermutlich mit hochrotem Kopf vor der Klasse stehen  würde. Ich würde auch zu leise sprechen, könnte mich nicht durchsetzen  und hätte ziemliche Angst vor den Elterngesprächen. Außerdem fühle ich mich hier im Rettungsdienst gerade einfach wohl.  Vielleicht ist das aber auch feige, weil es eben das ist, was ich kenne.
Es ist schon spät... Wäre es okay, wenn wir morgen weiter schreiben?

Ich schmunzele über die vorsichtige Frage. Was erwartet er - dass ich ihn zwinge, wach zu bleiben?

Das ist vollkommen in Ordnung. Schreibe ich einfach Gute Nacht oder soll ich noch eine Frage stellen? ;)

Zum ersten Mal nach etlichen Nachrichten  zögert er seine Antwort über die natürliche Zeit des Tippens hinaus.  Wird er mir erst morgen antworten? Wünscht er mir keine gute Nacht? Ist  ihm jetzt unwohl dabei, so viel preisgegeben zu haben über seine Ängste?

Erst nach dem Zähneputzen, als ich mein Handy für die restliche Nacht ausschalten will, erblicke ich seine letzte Nachricht.

Da hast du doch deine Frage gestellt ;) Ich wünsche dir auch eine gute Nacht, Hugo.

Lächelnd lege ich das Handy auf den  Nachttisch und versuche, noch ein wenig Schlaf zu finden. Dabei kann ich  jedoch nur daran denken, dass ich morgen früh an der Reihe sein werde,  mich bei ihm zu melden.

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