Kapitel 12: Erinnerung



Wie durch Nebel konnte Justin Erinnerungsfetzen an sich vorbei ziehen sehen. Er sah Kleinigkeiten, die vollkommen ohne jeglichen Zusammenhang gezeigt wurden und diese Kleinigkeiten stellten anscheinend Caras erstes Lebensjahr dar. Er konnte kaum etwas erkennen, es ging alles viel zu schnell und er musste aufpassen, dass er die Konzentration aufrecht hielt und nicht von den Erinnerungen hinaus katapultiert wurde. Doch plötzlich liefen die Erinnerungen langsamer ab und er sah, wie eine Frau mit langen, im Nacken zurück gebundenen, schwarzen Haaren sich über ihn, beziehungsweise Cara, da es ihre Erinnerung war, beugte. Ihre Augen leuchteten blau und sie sah besorgt aus. So als befände sie sich hinter einer Mauer hörte er sie nur sehr leise und dumpf, doch er verstand sie glücklicherweise dennoch.

„Sie haben uns gefunden Landon , wir müssen hier weg!", rief sie aus, während sie nervös eine Strumpfhose über Caras Beine zog. Dies musste unweigerlich Caras Mutter sein.

„Beruhige dich Helen! Es wird alles gut!", hörte er eine weitere Stimme, eine männliche, doch die Person dazu bekam er nicht zu Gesicht. Die Erinnerung verblasste schnell und er sah, wie es um ihn herum dunkel war. Offenbar war es nachts und er wurde von jemandem an die Brust gedrückt, der Kopf wurde gestützt, während die Person in hohem Tempo lief. Beinahe so, als würde sie vor etwas flüchten. Er sah die Sterne über sich vorbei ziehen, die jedoch schnell zu einem Meer aus Licht wurden und schließlich verblassten und komplett verschwanden als es wieder dunkel wurde. Bei der nächsten Erinnerung lief die Person offensichtlich nicht mehr, aber ihre Brust senkte sich schwer auf und ab.

„Ich kann nicht. Ich kann sie nicht einfach weggeben. Sie wird glauben, dass wir sie nicht wollten Landon! Was wird sie für ein Leben führen ohne uns?", fragte Caras Mutter, doch leider konnte man nichts sehen, denn Caras Gesicht war weiterhin an die Brust der Frau gedrückt.

„Helen, du weißt, dass wir keine andere Wahl haben! Michael hat uns die ersten Spitzel geschickt und die werden nicht eher Ruhe geben, bevor sie dich und sie haben!", die Stimme klang aufgeregt und vollkommen außer Atem.

„Ich kann das nicht...", die Stimme Caras Mutter erstickte beinahe in Tränen, das konnte Justin genau spüren. Er spürte auch, wie ihn das was er hier gerade bezeugte mitnahm und er musste erneut aufpassen, dass die Erinnerungen ihn nicht wieder hinausschmetterten.

„Helen du musst!", und jetzt spürte Justin, wie Cara aus den Armen der Frau genommen wurde. Immer noch erkannte er den Mann nicht, doch er hörte wie etwas knarrte.

„Lass mich mich bitte noch verabschieden.", und er hielt seiner Frau das Baby entgegen. Sein Gesicht lag jedoch im Dunkeln und war auch nur kurz zu sehen, denn Cara fixierte ihre Mutter. Helen küsste ihre Tochter, sog noch ein letztes Mal den Geruch von ihr ein, bevor sie sich schniefend abwandte.

„Ich liebe dich mein Baby, vergiss das bitte niemals!", hörte Justin sie noch sagen, bevor es erneut knarrte. Dann wurde das Bündel, das jetzt die Augen geschlossen hatte und somit Justin keine Möglichkeit gab, irgendetwas zu sehen auf etwas kaltem abgelegt. Und dann hörte er ein weiteres Baby schreien. Kurz darauf schloss sich die Klappe und es wurde dunkel.

Justin schreckte zurück und zog sofort seine Hände von Caras Schläfen. Diese konnte sich gerade noch aufrecht halten in ihrem Stuhl und als sie merkte, dass Justin seine Hände weggezogen hatte öffnete sie ihre Augen.

„Und? Konntest du etwas sehen?", fragte sie hoffnungsvoll und Justin nickte.

„Deine Eltern haben dich geliebt Cara. Sie wollten dich niemals weggeben!", fühlte er sich sofort verpflichtet ihr mitzuteilen und sie lächelte, bevor sie ihre Augen schloss und plötzlich zur Seite kippte.

Dorian, der neben ihr kniete und ihre Hand in seiner gehabt hatte, wurde von ihr überrascht und schaffte es gerade noch, sie rechtzeitig aufzufangen bevor sie auf dem Boden landete.

„Alter du hast sie ausgeknockt!", sagte er, als er seine Arme um ihrem Oberkörper und ihre Kniekehlen legte und sie hochhob. Sie war immer noch viel zu leicht.

„Ich hab sowas noch nie erlebt!", sagte Justin und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Max schüttete ihm gerade ein Glas Wasser ein, während Dorian mit Cara im Arm aufstand.

„Du kannst uns gleich erzählen was du gesehen hast, ich leg sie schnell hin!", meinte Dorian und wandte sich ab.

„Das kannst du vergessen Alter!", meinte Justin und nahm dankend das Glas von Max an, der ihn jetzt, genauso wie Dorian, überrascht ansah.

„Was meinst du damit?", fragte Dorian langsam und war mehr als nur gespannt darauf, was Justin zu erzählen hatte.

„Ich werde euch rein gar nichts erzählen, solange Cara nicht wieder wach ist. Wenn jemand ein Anrecht darauf hat zu erfahren, was in den letzten Stunden mit ihren Eltern geschehen ist, dann ist es Cara höchstpersönlich und ich werde einen Teufel tun und euch vorher einweihen!", sagte er und leerte in der nächsten Sekunde sein Glas mit einem Zug.

„Ich kann nicht sagen, dass mir das gefällt...", sagte Dorian und wandte sich wieder in Richtung Schlafzimmer. Einige Schritte ging er, bevor er nochmals über die Schulter sah.

„...aber ich kann es verstehen!", schloss er ab und trat ins Schlafzimmer ein, während er die Türen zuzog und Cara schließlich ins Bett legte. Ihr Arm lag quer über ihrem Bauch, sie wirkte noch blasser als normalerweise doch sie atmete ruhig. Irgendwas in Dorian hatte Klick gemacht, als Cara immer wieder vor Schmerz aufgestöhnt hatte und schließlich einen Schmerzensschrei losgelassen hatte. Ehe er überhaupt darüber nachdenken konnte, war er an Caras linke Seite getreten und hatte ihre Hand ergriffen. Und sie hatte sich nicht gewehrt. Sie hatte sich so sehr an seine Hand geklammert wie ein Ertrinkender an ein Seil und während sie all ihren Schmerz versucht hatte, mit dem Druck ihrer Hände zu verarbeiten hatte er wieder leichte elektrische Impulse gespürt. Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht, die sich quer darüber verteilt hatte und zögerte noch einige weitere Sekunden hinaus, das Zimmer zu verlassen. Doch irgendwann konnte er seine Anwesenheit nicht mehr rechtfertigen und so nahm er eine dünne Decke, legte sie über Caras Körper und wandte sich dann von ihr ab.

Als er wieder in die kleine Küche der Wohnung trat, saßen Max und Justin stillschweigend gegenüber voneinander. Die Arme hatten sie auf der Tischplatte abgelegt und beide hingen ihren eigenen Gedanken nach.

„Ok, ich verstehe, wenn du uns nichts von ihren Erinnerungen erzählen willst, aber was war los, als du in ihre Gedanken wolltest? Ich hab sowas noch nie gesehen, wenn du mit jemandem gearbeitet hast!", sagte Dorian und beinahe hätte er geglaubt wütend auf Justin zu sein.

„Ich weiß es nicht. Ich hab es auch noch niemals erlebt, dass jemand so eine starke Barriere aufgebaut hat. Ich wollte aufhören, du weißt, dass ich aufhören wollte!", sagte Justin verteidigend und blickte auf. Dorian sah sofort, dass es Justin selber zutiefst betraf, wie das Ganze abgelaufen war. Und deswegen ließ Dorian von den Vorwürfen ab.

„Cara ist definitiv kein normaler Mensch, so viel ist sicher.", erklärte Justin und blickte zu Dorian auf.

„Dorian wir brauchen deine Zeichenkünste!", meinte er schließlich und Dorian sah ihn skeptisch an.

„Ich werde dir jetzt eine Frau beschreiben, die du aufzeichnen musst. Wir müssen herausfinden wer sie ist!", erklärte Justin ihm und Dorian wusste augenblicklich, dass Justin diese Frau in Caras Erinnerungen gesehen hatte. Und so begann Justin ihm, nachdem er sich seinen Zeichenblock und einen Bleistift geholt hatte, ihm zu erklären wen er gesehen hatte.

Die Frau hatte schwarze Haare gehabt und strahlend blaue Augen, so wie Cara nur das Cara neben dem strahlend blauen auch noch das violette hatte. Ihre Statur war lang und schmal gewesen, soweit Justin hatte erkennen können. Und so zeichnete er, während er Justins Beschreibungen lauschte und Cara im Nebenzimmer schlief. Max hielt sich die ganze Zeit über zurück und hing seinen eigenen Gedanken hinterher.

Ihm saß der Schreck, als Cara plötzlich losgeschrien hatte, immer noch tief in den Knochen und er musste erstmal eine Pause einlegen, um diese Erinnerungen los zu werden. Deswegen beschloss er, an die frische Luft zu gehen. Er musste sich ein wenig bewegen oder er würde in diesem kleinen Appartement noch ausrasten.

„Ich verschwinde, muss mir die Beine vertreten!", erklärte er den beiden jungen Männern, die am Tisch saßen und sich auf ihr Ziel konzentrierten. Dorian war schon relativ weit gekommen und so konnte man schon ein paar markante Details des Gesichts erkennen. Doch er war noch nicht fertig und so ergab das, was Max sah noch kein vollständiges Bild. Bei seinen Worten blickte Dorian auf und sah ihm unverwandt in die Augen. Er musterte ihn, versuchte abzuschätzen was in ihm vor sich ging. Max wusste, dass Dorian der Meinung war, er würde Gefühle für Cara entwickeln, doch dass er auf dem absoluten Holzweg war, würde Max ihm erst mit der Zeit zeigen können. Die Einzige für ihn war Tamara gewesen und das würde sie vermutlich ein Leben lang bleiben.

„Ok, bleib aber nicht zu lang weg, wir wissen nicht wie lange Cara schläft und ich will danach definitiv erfahren, was Justin gesehen hat. Wenn du nicht da bist, werden wir nicht auf dich warten!", erklärte Dorian und Max sah auf die Uhr.

„Du könntest mich auch einfach anrufen wenn du dich nicht weigern würdest dir ein eigenes Handy zuzulegen!", erklärte Max und spielte auf die Tatsache an, dass Dorian nur sporadisch eines hatte, es aber in den meisten Fällen auf mysteriöse Weise verschwand. Max wusste, dass Dorian nur dann erreichbar sein wollte, wenn er es selbst bestimmte. Das war eine seltsame Eigenschaft von ihm.

„Ich ruf dich an sobald Cara wach ist!", erklärte Justin ruhig. Max nickte dankbar und verabschiedete sich von den Beiden, dann trat er in den Gang hinaus und nutzte schließlich das Treppenhaus, um die fünf Stockwerke nach unten zu gehen und letztendlich auf die belebten Straßen New Yorks zu treten. All diese Menschen hatten keine Ahnung, dass sich mitten unter ihnen ein Krieg abspielte, den sie nicht einmal mitbekamen.

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Als Cara aufwachte, pochte ihr Kopf heftig und sie hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Sie lag auf der Seite und verlagerte ihr Gewicht so, dass sie sich auf den Rücken drehen konnte. Dabei stöhnte sie auf und versuchte, nicht direkt alles vollzukotzen. Sofort ging die Zwischentür auf und Justin und Dorian traten herein. Justin sah sehr besorgt aus, währen Dorian wie immer eine sehr neutrale, eher genervte Miene aufgesetzt hatte.

„Geht es dir gut?", hörte sie Justin fragen und merkte sofort, sie hatte die Augen nach dem Eintreten der Beiden wieder geschlossen, dass Justin an ihr Bett getreten war und sich offenbar neben sie gesetzt hatte.

„Ich hab mich definitiv schon mal besser gefühlt! Zumindest habe ich jetzt eine Ahnung davon wie es einem geht, wenn man von einem Bus überrollt wird!", erklärte Cara und verursachte so ein kurzes Lächeln auf Dorians Lippen, bevor ihm bewusst wurde was er da tat und wieder eine neutrale Miene aufsetzte.

„Cara es tut mir wirklich leid, wie das abgelaufen ist. Sowas ist mir noch nie passiert!", erklärte Justin und Dorian merkte ihm an, welche Vorwürfe er sich jetzt gerade machte.

„Ist schon in Ordnung...", Cara griff sich an den Kopf und öffnete langsam die Augen. „Ich hab dich schließlich dazu gedrängt weiter zu machen, oder? Konntest du was sehen? Irgendwas was uns weiter hilft?", fragte sie hoffnungsvoll, stöhnte dann aber erneut auf und schloss ihre Augen wieder.

„Ich glaub ich brauche dringend eine Aspirin. Oder vielleicht zehn, wenn ihr die zur Hand habt?", fragt Cara und Justin sprang dabei auf.

„Ich rufe gleich Max an, der soll welche besorgen. Und danach unterhalten wir uns alle!", erklärte Justin und holte sein Handy aus der Tasche. Jedoch startete er den Anruf nicht sondern zog sich ins Wohnzimmer zurück damit Cara ihre Ruhe hatte. Dorian hingegen lehnte immer noch, wie seit dem Zeitpunkt als er den Raum betreten hatte, an der Wand neben der Tür und hatte Cara und Justin beobachtet.

„Wie geht's dir wirklich?", fragte er Cara mit vor der Brust verschränkten Armen und das Bild ihrer Hand, die seine zu zerquetschen drohte vor Schmerzen, schoss ihm in den Sinn.

„Absolut beschissen. Ich hoffe, dass ich so einen Scheiß nie wieder erleben muss!", erklärte sie mit dem Arm über ihren Augen, leise. Ihre Brust senkte sich langsam auf und ab vom schweren Atmen.

„Ich auch...", murmelte Dorian, doch Cara hatte ihn verstanden und blickte nun doch auf.

„Danke für deine Unterstützung!", erklärte sie leise und blinzelte einige Male.

„Keine Ahnung wovon du sprichst!", entgegnete Dorian und stieß sich von der Wand ab. „Es ist Zeit für Tacheles. Ich hol dir ein Glas Wasser und dann heißts die Karten auf den Tisch zu legen!", sagte er und wollte gerade durch die Tür treten, als er Cara aufstöhnen hörte. Als er sich umdrehte sah er, dass sie sich gerade erhoben hatte und dabei war, ihre langen schlanken Beine über den Rand des Bettes zu schieben.

„Ich gehe erstmal duschen, solange Max noch nicht da ist!", erklärte sie entschlossen, musste jedoch erstmal tief durchatmen als ihre Füße den Boden berührten. Anscheinend strengten sie selbst diese kleinen Bewegungen extrem an. Erneut griff sie sich mit der Hand an den Kopf und schloss die Augen.

„Brauchst du irgendwie Hilfe?", fühlte sich Dorian plötzlich verpflichtet zu fragen doch bei dieser Frage schüttelte Cara sofort den Kopf und sah ihn an.

„Nein, ich schaffe das Alleine!", antwortete sie ohne Umschweife und in diesem Moment wusste Dorian, dass Cara niemals jemanden um Hilfe bitten würde, wenn es nicht absolut notwendig war. Sie war es gewohnt ihre Dinge selber zu regeln, alleine.

„Ok, wenn was ist dann Schrei einfach!", entgegnete er deswegen und respektierte ihre Entscheidung. Er wusste wie es ihr ging. Er war genauso. Er wollte niemandem zur Last fallen, er wollte niemanden zu nah an sich heran lassen. Denn erst dann war es möglich, verletzt zu werden. Niemand sollte wissen, was in ihm vor sich ging. Er schützte sein Innerstes so gut er nur konnte und genau dasselbe tat Cara auch. Er trat durch die Tür, wo Justin gerade dabei war aufzulegen und ging in die Küche, um Cara ein Glas Wasser zu holen, so wie er es vorher gesagt hatte. Als er zurück kehrte lehnte die Badezimmertür nur an und er sah, dass Licht darin brannte. Er stieß sie leicht auf und sah Cara, die sich gerade mit kaltem Wasser das Gesicht wusch. Ihre Hände waren weiterhin über ihrem Mund verschlossen, als sie die Augen öffnete und sich im Spiegel betrachtete. Durch das Neonlicht, das über dem Spiegel hing, sahen ihre Augenringe noch dunkler aus, ihre Haut wirkte aschfahl. Sie sah krank aus. Noch hatte sie Dorian nicht gesehen und so gab er ihr noch ein paar Sekunden, bevor er an die Tür klopfte und sie sich zu ihm umwandte.

„Hier dein Wasser!", er hielt es ihr entgegen und sie griff mit zittrigen Händen danach.

„Danke!", sagte sie ruhig und leerte dann das Glas in nur einem Zug.

„Ich bin in zehn Minuten bei euch!", erklärte sie und forderte Dorian so indirekt auf, zu gehen, was er auch sofort tat. Er nahm das Glas wieder entgegen, streifte dabei ihre Finger, ließ sich jedoch nichts anmerken und trat aus dem Bad. Kaum hatte er die Schwelle überquert schloss Cara hinter ihm die Tür und schloss ab, so als müsste sie Angst davor haben, dass einer der jungen Männer hier in dieser Wohnung ihre Privatsphäre missachtete. Vielleicht war ihr das aber auch schon passiert? Denn Dorian musste eine Sache zugeben, er hatte keinen blassen Schimmer davon, was Cara in ihrem Leben hatte durchmachen müssen. Er wusste nicht, was sie dazu gebracht hatte so zu werden wie sie es war. Seine Aussage von gestern kam ihm in den Sinn und jetzt in diesem Moment schämte er sich zutiefst für seine Worte.

Irgendwas machte Cara mit ihm, er konnte nur nicht erklären was es war.


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