Tsunami

Heiß brannte die Sonne auf die Erde nieder. Sanft rollten die Wellen den Strand entlang. Farryn ging am Ufer lang. Die nackten Füße versanken im warmen Sand und eine leichte Brise streifte seine Haut. Er hielt inne, als er eine weitere Person am Strand entdeckte.
Obwohl er die Figur nur aus der Ferne sah, konnte er sie ohne zu zögern Alisha zuordnen.
Er biss sich auf die Unterlippe und blieb einen Moment lang unentschlossen stehen. Sollte er zu ihr gehen?

Es war nicht lange her, dass Alisha zurückgekehrt war. Und während er dankbar war, dass sie sich schlussendlich doch getraut hatte, zu ihnen zu kommen, konnte er den Hauch von Misstrauen in seinen Gedanken nicht verdrängen.
Alles was er über sie erfahren hatte, hatte ihn zutiefst schockiert. Ihm war aufgefallen, dass Alisha sich oft seltsam verhielt und Sachen wusste, die kein normaler Mensch einfach mal so wusste. Auch die Dinge, die er über sie gehört hatte, von Schülern und auch von anderen Lehrern, hatten ihn verwirrt und er hatte sich schon öfter gefragt, ob da nicht doch was im Busch war.

Aber Alisha war gut darin, Sachen zu verstecken und von sich abzulenken. Sie erzählte nicht viel von sich und scheinbar wusste sie, wie man Leute an der Nase herumführte.
Farryn fühlte sich ein wenig dämlich, weil er es nicht früher kapiert hatte. Nun beobachtete er sie, wie sie da so still und ruhig in der Ferne saß, ohne sich zu rühren.

Die letzten Wochen waren ein Wirbelsturm gewesen und er hatte wenig Zeit gehabt, mit ihr über all das zu sprechen, was ihm auf der Seele brannte.

Aber es gab noch so viele Dinge, die er wissen wollte. Wissen musste.

Also fasste er sich ein Herz und ging auf sie zu. Er erkannte schnell, dass sie seine Anwesenheit bereits gespürt hatte, denn die gedanklichen Wände, die ihre Gefühle abschirmten, waren sofort oben, als er zu ihr trat.
Ein wenig schmerzte diese Erkenntnis. Vertraute sie ihm nicht?

Vertraute er ihr?

Er ließ sich wortlos neben ihr zu Boden. Sie hob leicht den Kopf und schaute ihn von der Seite an, doch er erwiderte den Blick nicht. Stattdessen sah er auf das im Sonnenlicht funkelnde Meer hinaus und zog die Knie an die Brust.

Alisha ließ ihn nicht lange warten. "Du möchtest etwas wissen", stellte sie fest. Ihre Stimme war ruhig und geschmeidig und er spürte, wie sich ihre Gedankenwände stärkten. Sie hatte ihn durchschaut. Würde sie ihre Emotionen weiterhin verdecken, wenn er seine Fragen stellte?
Würde sie ihn anlügen?

Sie hatte es schon oft getan. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wie viel von dem, was sie erzählt hatte, wirklich stimmte.
Wie viele ernste, emotionale Gespräche, die sie geführt hatten, waren ehrlich?

Farryn seufzte und fuhr sich mit der Hand durch die braunen Haare. Zögernd ließ er seine eigenen Wände runter und ließ seine Emotionen zu ihr hinüberschwappen. Er war ein Meister darin, seine Gedanken abzuschirmen, aber er hatte das Gefühl, dass sie auch einer war.
Und wenn er Ehrlichkeit und wahre Gefühle wollte, musste er seine eigenen preisgeben. Denn was er über sie gelernt hatte war, dass sie fair war. Wenn er seine Gedanken nicht abschirmte, würde sie ihre auch nicht abschirmen. Das hoffte er jedenfalls.

"Wie fühlt es sich an? Jemanden zu töten?" Seine Stimme bebte leicht, als er die Frage stellte. Vielleicht war es eine morbide Frage, aber sie war legitim. Alisha hatte ehrlich geantwortet, als man sie gefragt hatte, ob sie ein Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Seitdem hatte er den Gedanken kaum loslassen können. Denn wie konnte er neben jemanden sitzen, wissend, dass diese Person eine andere umgebracht hatte?

Eine lange Zeit war Alisha leise und er forderte sie nicht auf, endlich zu antworten, auch, wenn langsam die Ungeduld kam. Sie würde antworten, wenn es an der Zeit war.

"Schrecklich. Es ist ein Gefühl, das man gar nicht mit Worten beschreiben kann", sagte sie schließlich. Er konnte hören, dass sie versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten, doch ihm entging nicht, wie sich ihr Gesichtsausdruck verhärtete, als er sie endlich ansah.
"Ich krieg es nicht mehr aus dem Kopf, weißt du? Wie er da lag und wie seine Augen mich einfach nur angestarrt haben, aber ohne mich dabei zu sehen." Sie hob den Blick und traf seinen. Und in diesem Moment ließ sie ihre Wände runter und eine Welle der Emotionen traf ihn so hart, dass er fast den Blick abwenden und sie abschirmen musste, weil er sie nicht ertragen konnte

Ein Gefühl schwang am meisten mit, so stark, dass es einen von den Füßen reißen und mit sich zerren könnte.
Schuld.

"Ich hab gespürt, wie er aufgehört hat zu atmen. Wie sein Herz aufgehört hat zu schlagen."
Ihre Stimme zitterte und dieses Mal versuchte sie nicht einmal mehr, es zu vertuschen. Sie sprach so offen, so ehrlich.
Sie hielt ihre Gedanken nicht zurück und er spürte, wie die Schuldgefühle sie übermannten. Sie war so eine starke Frau, gab nicht auf und klammerte sich so an ihr Image von einer selbstbewussten, selbstbestimmten Person, die sich von niemanden die Stirn bieten ließ, aber jetzt, wo sie alleine waren, brachen die Gefühle aus ihr heraus und sie ließ es zu.

Farryn sah sie an, sah ihr tief in die großen braunen Augen und nahm die Emotionen, die sie auf ihn übertrug, auf. Er sog sie auf und zwang sich zu positiven Erinnerungen. Er erinnerte sich daran, wie sie zusammen Pizza gegessen und Kinofilme geschaut hatten, wie sie mit Jack Karten gespielt oder sich beim Essen über die Schüler aufgeregt hatten.
Er erinnerte sich daran, wie er sie unterstützt hatte, als sie noch ganz neu an der Schule war und es ihr schwerfiel, sich einzufinden, und daran, wie er beobachtete hatte, wie sie Jack nachgesehen hatte, nachdem sie ihn mal wieder abgewiesen hatte. Er hatte es damals schon gedacht. Sie wusste, dass da mehr war, aber sie ließ es nicht zu. Und jetzt war es vielleicht zu spät dafür.

Er schluckte schwer, als die Erinnerungen ihn überfluteten und sich auch in ihr Gedächtnis einbrannten. Wie konnte er solche Erinnerungen mit dem, was sie ihm da erzählte, vereinbaren?

Wie konnte das dieselbe Frau sein, die jemanden getötet hatte?

"Weißt du, was das schlimmste ist?" Es war ein Tonfall, den er nie bei ihr hören wollte. Aber vielleicht war es einfach an der Zeit, dass auch jemand wie Alisha endlich ihre Gefühle freiließ. "Ich würde es wieder tun, wenn ich in der selben Situation wäre," flüsterte sie, als wären die Worte zu schrecklich, um sie laut auszusprechen.
Ihr Atem stockte und Farryn musste wegschauen. Er ertrug den Blick in ihren Augen nicht. Er ertrug es ebenso wenig, wie sein Herz schmerzhaft gegen seine Brust hämmerte und wie ihre Trauer ihn zu ertränken schien.

"Du bereust es nicht?", zwang er sich, zu fragen.

"Ich kann es nicht. Ich hasse das Gefühl. Aber es war Notwehr", erwiderte sie, leise und verunsichert. So ganz anders, als er es von ihr gewohnt war.
Farryn kratzte sich nervös am Nacken. Er spürte, wie sie sich zur Ruhe zwang und ihre Gedanken eindämmte. Er konnte es ihr nicht verübeln. Er war selbst überwältigt von dem, was sie gesagt hatte, aber noch mehr von ihrer Offenheit, ihrer Ehrlichkeit.

Vielleicht hatte sie das Gefühl, dass sie ihm das schuldete. Vielleicht vertraute sie ihm aber auch einfach. Oder vielleicht suchte sie sein Vertrauen.

Er zögerte nur einen Moment lang, doch er atmete durch und griff nach ihrer Hand. Ihre Finger zitterten und sie zuckte, doch sie sagte nichts, als er ihre Hand festhielt und sich zu ihr rüber lehnte und die Arme um sie schlang. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und wenn ihn nicht alles täuschte, funkelten in ihren Augen unvergossene Tränen.
Aber sie umarmte ihn zurück, drückte ihn fest an sich, und legte das Kinn auf seiner Schulter ab.

Sie war vollkommen reglos und reagierte zunächst nicht.

Aber dann drückte er sie an sich und sagte, "Auch wenn du es dir nicht verzeihen kannst und ich nicht in der Position bin, so etwas zu verzeihen, weiß ich, dass es nicht gewollt war. Dass du keine andere Wahl hattest. Ja, du hast Fehler gemacht. Aber ich denke, dass du eine zweite Chance verdienst."

Und dann umarmte sie ihn endlich zurück, ließ sich in seine Arme fallen und legte das Kinn auf seiner Schulter ab.

Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr sie diese Worte gebraucht hatte. Ernste, ehrliche Worte. Das Versprechen einer Chance, von der sie selbst nicht glaubte, dass sie sie verdiente.

Bei sich dachte Farryn, dass das vielleicht alles war, was man brauchte. Die richtigen Leute, die bei einem blieben und zu einem standen, wenn der Tsunami von Gefühlen und Problemen auf einen zukam.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top