- Kapitel 4: Hunger macht hitzköpfig
Asavi hatte es mit Zars widerstrebend angenommener Hilfe bis auf die Couch im Wohnzimmer den kurzen Flur hinunter geschafft und saß mit hochgelegten Beinen zwischen den Polstern. Sie schwieg größtenteils, da ihre Nervenenden allesamt lauter schrien, als jegliches Gespräch, das sie mit Zar hätte führen können. Er hatte ihr versichert, dass Juraj bald zurück wäre, um ihr Izabelas Wunderheilmittel zu verabreichen, aber er ließ sich Zeit. So viel, dass selbst Zar irgendwann immer wieder unruhig aus seiner Lektüre aufschaute und zum Fenster spähte.
»Vielleicht wurde er von Schakalen gefressen«, mutmaßte er nach über einer Stunde Wartezeit, in der die Sonne weit über den Horizont geklettert war und grünliches Licht durch die bemoosten Fenster warf.
Asavi verzog als Antwort das Gesicht, kaum dazu in der Lage, etwas anderes außer den Schmerzen wahrzunehmen. »Witzig. Siehst du nach? Ich glaub, ich hätte jetzt doch gerne Izabelas Wundermittel.«
Zar hob die Schultern, schmiss seine Lektüre „Sturmhöhe" auf den Tisch und stand auf. »Ich geh mal nachsehen, aber wenn Juraj sauer ist, dass ich dir von der Seite gewichen bin, dann geht das auf deine Kappe. Ich hatte ihn grad so weit, dass er mir meine Wohlgesonnenheit dir gegenüber zumindest zugesteht.«
Asavi ließ ihren Kopf nach hinten auf die Lehne sinken. »Du tust so, als wäre Juraj ein schießwütiges Monster.«
Zar hob beide Augenbrauen. »Wenn du ihm dein heutiges Missgeschick in der Früh gestehst, dann wird er zum schießwütigen Monster.«
Asavi lächelte verkniffen. »Gut zu wissen. Und du meinst sicherlich dein Missgeschick.«
Zar verschränkte die Arme vor der Brust. »Um ehrlich zu sein, reizt es mich nicht unbedingt, nach Juraj zu suchen.«
»Du bist ein Waschlappen.«
»Ich lege Wert auf meine Unversehrtheit, das ist etwas vollkommen anderes.«
Asavi verzog den Mund und machte sich daran, Zar auszublenden, was ihr Anbetracht der Umstände nicht weiter schwerfiel.
Erst eine vorsichtige Berührung an der Schulter riss sie aus dem Dämmerzustand. Anstelle von Zar ragte Jurajs riesenhafter Schemen über der Couch auf und blockierte das wenige Licht, das durch den Sonnenuntergang durch die Scheiben sickerte.
»Ich muss ein paar Vitalwerte messen«, sagte er sachlich und setzte sich auf den niedrigen Beistelltisch vor der Couch.
Asavi bemühte sich, in eine aufrechte Position zu rutschen, aber es gelang ihr nicht. Sie blinzelte desorientiert in das Zwielicht und rieb sich den knurrenden Magen.
Jurajs Blick fiel von ihrem Gesicht zu ihrem Bauch. »Ich habe Obst- und Nussbäume gefunden. Und einen ganzen Garten voller Beerensträucher.«
»Klasse«, stöhnte Asavi und presste sich die Faust auf den Magen. »Ich bin allergisch gegen Obst und Nüsse.«
Jurajs Gesichtsausdruck verfiel und er stellte die schwarze Medizintasche entsetzt neben sie auf die Couch. »Du hast überhaupt nichts erwähnt! War Anjas Bericht dermaßen-«
Asavi schüttelte mit einem schwachen Schnauben den Kopf. »Ich mach bloß Witze. Ich hab keine Allergien. Nicht gegen Pflanzen zumindest«, murmelte sie und massierte das dumpfe Magengrummeln fort.
Juraj atmete erleichtert auf und strich sich das Haar nach hinten. »Bist du laktoseintolerant?«
»Nein, ich bin deppenintolerant«, grinste sie. »Wieso? Hast du Milchkühe gefunden?«
Juraj lächelte erleichtert und öffnete die Medizintasche. »Nein. Nur einen eingestürzten Weinkeller und einige Lebensmittel im Gasthaus gegenüber.« Er legte Asavi ein Blutdruckmessgerät an und musterte sie durch seine dunklen Wimpern. »Wie geht es dir?«
Asavi hob die andere Schulter und starrte auf die Manschette um ihren Oberarm, die sich auf einen Knopfdruck hin schmerzhaft um ihren Bizeps zusammenzog. »Beschissen. Meine Hüfte schmerzt wie Sau und ehrlich gesagt, ist mir ziemlich schwindelig. Ich hab außerdem Hunger.«
Juraj nickte, las den Wert ab und entfernte das Blutdruckmessgerät. »Dein Puls ist zumindest stabil und kräftig. Erstaunlich kräftig dafür, dass du so viel Blut verloren hast – trotz Infusion.«
Asavi hob die Schultern. »Das ist die Renitenz in meinem Blut. Und vermutlich der Tatsache geschuldet, dass ich eine Sense bin. Was auch immer das heißen mag.«
Juraj hob ruckartig den Kopf und starrte sie aus wachsamen Augen an.
»Was denn? Hat Izabela ja behauptet. Weißt du wie unwahrscheinlich dämlich und zum Schießen gleichzeitig es wäre, wenn die Sense des Sensenmannes wegen einem luschigen Hüftschuss verreckt?«
Jurajs Gesicht verlor alle Farbe und er verstaute das Gerät. »Darüber solltest du keine Scherze machen.«
»Nein?«, fragte Asavi provokant. Der zusätzlich beißende Hunger machte sie nicht gerade kooperativ. »Worüber soll ich mich dann amüsieren? Darüber, dass du offensichtlich wusstest, welches Potenzial ich in mir trage? Oder wolltest du mir im Zuge eines elaborierten Scherzes mitteilen, dass Csaba mit seiner beschissenen Ahnung Recht hatte? Dass Joska jeden Grund hätte, mich in die Luft zu jagen, wenn er sich nur an dieses kleine Detail erinnern könnte? Wenn diese ganzen Spinner recht haben, dann schlummert in mir eine Atombombe, nur schlimmer! Und wenn du dich jetzt fragst was kann denn bitte schlimmer als eine scheiß Atombombe sein, dann zweifle ich an jedem Wort, das du je mir gegenüber hinsichtlich deiner historischen Allwissenheit verloren hast! Da wäre zum einen der Mond, der unter Österreich herumgammelt«, sie streckte ihm sauer einen Finger ins Gesicht, »Engel wie Vega, die allem Anschein nach Hexen aus dem All sind, gegen die keine Schusswaffe dieser Welt was ausrichten kann«, Asavi streckte einen zweiten Finger aus, »und nicht zuletzt der blöde Tod in Person!« Sie streckte einen dritten Finger aus und fuchtelte mit der Hand vor Jurajs Gesicht herum. »Und dann soll ich sein Werkzeug sein? Geh bitte!«
Juraj hob beschwichtigend die Hände und griff behutsam nach ihrem wild schlenkernden Arm, um ihn aus seinem Gesicht zu schieben. »Ganz ruhig. Ich habe nie behauptet, dass wir uns global betrachtet momentan in einer guten Lage befinden.«
Asavi schnaubte erbost durch die Nase. »Ich werde dem Tod den Arsch versohlen.«
»Ist gut«, nickte Juraj wohlwollend.
»Joska hatte recht. Er ist zwar ein Psychopath, aber er hat zumindest in einer Sache einen gesunden Menschenverstand. Mach die Waffe vom Tod platt und deine Sterblichkeit hat sich gegessen.«
Juraj schüttelte bestimmend den Kopf. »Niemals. Nein. Asavi. Joska hat nicht Recht.«
»So? Und woher weißt du das? Vielleicht willst du mich mithilfe eines Satirebeitrags über Izabelas Weltrettungsfantasien aufklären, oder was zum Kuckuck ich bitteschön mit dieser beschissenen Drecksinformation anfangen soll?«
Juraj wich ein wenig vor ihr zurück, nahm ihr Handgelenk aber zur Sicherheit wieder auf, um ihren Puls zu fühlen. »Ich bin nur ein Pilot.«
Asavi wollte ihm ihre Hand entziehen, aber Juraj hielt sie effektiv davon ab. »Erzähl mir alles, was du weißt, oder ich sterbe dir aus Protest davon.«
Juraj öffnete seine perfekten Lippen zu überraschter Empörung und legte ihr Handgelenk vorsichtig auf ihren Schoß. »Das mache ich gerne. Aber ich weiß nicht, wie das deinem Gemütszustand irgendwie zuträglich sein soll.«
»Was meinem Gemütszustand zuträglich ist und was nicht, ist ja wohl meine Sache«, fauchte Asavi und verzog den Mund.
Juraj hob beschwichtigend die Hände. »Wenn du – ... wenn die Sense Gevatter Tods vernichtet wird, geht dem Kosmos etwas verloren, das essenziell für den Erhalt der energetischen Ordnung dient. Die Sense bringt, geführt von Gevatter Tod, die Seelen durch die Wand zwischen der irdischen und der transzendenten Welt. Ohne Gevatter Tod ist sie nutzlos, ebenso wie Gevatter Tod ohne seine Sense nutzlos ist. Nur gemeinsam, vereint, können sie ihre unendliche Aufgabe, die nur von der Zeit selbst bezeugt werden kann, verrichten. Und diese Wand, die früher beide Konzepte getrennt hat, ist jetzt fort. Stell dir unser Universum wie eine trophische Pyramide vor.«
»Eine was?«, maulte Asavi.
Juraj nickte beschwichtigend und holte ein Fieberthermometer hervor, um es ihr zu reichen. »Ein Ökosystem funktioniert nur in Wechselwirkung. Damit Organismen wie wir Menschen überhaupt existieren können, braucht es ein Nahrungsnetz in dem von niedrigen energetischen Zuständen, Energie in die höheren Ebenen gebracht wird.«
Asavi starrte Juraj immer noch angefressen an, maß aber ihre Temperatur, ohne ihn zu unterbrechen.
»Simpel ausgedrückt steht Licht an der untersten Stufe, wird von Pflanzen durch autotrophe Prozesse zu Biomasse umgewandelt und diese Pflanzen werden dann von heterotrophen Organismen, also vor allem Tieren und folglich Menschen, konsumiert, um die nächste höhere Ebene dieser trophischen Pyramide zu bilden.«
Asavi zupfte das Thermometer unter ihrer Achsel hervor und reichte es Juraj mit düsterem Blick. »Also Pflanzen fressen Licht, wir fressen Pflanzen und wenn die Sense verreckt, dann implodieren wir alle?«
Juraj schmunzelte und schüttelte den Kopf. Er warf einen Blick auf das Thermometer und nickte zu sich selbst. »Nein. Denn diese trophische Pyramide, die anfänglich als gedeckelt galt, besitzt eine weitere Ebene. Eine Ebene, die – ironischerweise – zurück an den Anfang geht. Die Engel nehmen elektromagnetische Wellen wahr – im Grunde ist Licht nichts anderes – doch im weitaus langwelligeren Spektrum. Menschliche Seelen sind nichts weiter, als extrem langwellige Strahlung.«
Asavi runzelte angestrengt die Stirn. »Also das kapier ich nicht.«
Juraj griff in die Medizintasche und holte einen kleinen Sack hervor, um ihn ihr dann in die Hände zu drücken. »So viel zum Thema Essen«, lächelte er und Asavi lugte misstrauisch in ihn hinein. Eine Ansammlung an roten Beeren und kleinen, runden Früchten duftete ihr derart köstlich entgegen, dass ihr Magen gleich darauf noch einmal lautstark knurrte. Die Erdbeeren und Brombeeren mussten als erstes an ihr Ende glauben und Asavi schaufelte die Stachelbeeren ohne zu zögern nach.
Juraj starrte sie verdutzt an, während sie sich den Saft von den Fingern leckte. »Ich habe schon geahnt, dass du hungrig bist, aber-«
»Was denkst du denn?«, empörte sich Asavi dazwischen und zupfte den Stängel der nächsten Erdbeere ab. »Ich bin am Verhungern. Izabela wollte mir ja nur Suppe und Salat auftischen.«
Juraj betrachtete ihre Finger eingehend und schüttelte dann schluckend den Kopf.
»Es gibt sogar Birnen und Äpfel«, mischte sich eine weitere Stimme ein, »aber die wollte er dir nicht bringen, weil er meinte, sie wären noch nicht reif genug.«
Asavi hob den Kopf. Zar war im Türrahmen erschienen und deutete auf sie. »Aber wenn ich mir dein Fressverhalten so ansehe, weiß ich nicht, ob wir dich auf den Garten loslassen können.«
Asavi wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen und starrte ihn finster an. »Dann mach dich nützlich und hol mir mehr. Ich bin hier sowieso mit einer Physikstunde beschäftigt und brauche Hirnnahrung.«
»Was du brauchst«, mischte sich Juraj ein, »sind noch fünf bis sechs Tage absolute Ruhe.«
»Pff«, schnaubte Asavi. »Versuchs mit zwei Wochen.«
Juraj zog vorsichtig die Decke von ihrem Schoß und Asavi ließ ihn hochkonzentriert auf die Kirschen in ihren Händen gewähren. »Das wird nicht nötig sein. Wenn deine Vitalwerte im grünen Bereich liegen, dann kann ich dir den Wundverschlussbeschleuniger geben.«
Asavi runzelte skeptisch die Stirn. »Also was ist denn jetzt mit den Engeln und dem Licht?«
Juraj nickte. »Jeder Körper emittiert Strahlung, solange er über null Kelvin liegt. Null Kelvin«, hakte Juraj ein, nachdem er Asavis resignierten Blick bemerkte, »bedeutet, dass es keine Teilchenbewegung mehr gibt. Erst dann tritt der absolute Tod ein. Wenn sich kein Atom mehr bewegt, kann es keine Reaktionen, kein Leben mehr geben.«
»Könntest du auf den Punkt kommen?«, seufzte sie und beobachtete Jurajs Hände aufmerksam dabei, wie er sich an dem Gazepolster zu schaffen machte, ihren schwarzen Spitzenslip anhob und den Verband löste.
Juraj nickte konzentriert. »Menschliche Seelen emittieren eine so langwellige Strahlung, dass sie eigentlich nicht messbar ist. Myriametrische Strahlung kommt dem, was wir menschliche Seele nennen, am nächsten. Wenn ein Mensch also stirbt, braucht es eine Weile, bis diese Strahlung verschwindet. Aber sie tut es, weil Gevatter Tod diese Seelen aufsammelt und in die nächste trophische Ebene führt, in der die Engel leben. Oder gelebt haben.«
Zar räusperte sich vom Türrahmen aus. »Wenn die Seele nur besonders langwellige Strahlung ist, hätten wir sie dann nicht längst aufgezeichnet?«
Juraj schenkte Zar keine Beachtung, sondern legte den schmutzigen Gazepolster behutsam zur Seite. Asavi biss sich fest auf die Lippen. Die Verletzung sah hässlich aus. Blut und Wundflüssigkeit sickerte über die aufgerissene Haut und betäubte ihre Empfindung so stark, dass sie Jurajs Hände gar nicht wahrnahm. »Shit«, fluchte sie durch zusammengebissene Zähne.
»Entschuldige«, murmelte Juraj. »Und ja, man hätte sie messen können, allerdings nicht in einem Zeitrahmen, der Gewissheit verspricht«, antwortete er Zar mit verzogenen Augenbrauen. »Um die Seele eines Menschen mit irdischen Geräten aufzuspüren, würde man einen Empfänger für mehrere Dekaden auf ein und denselben Menschen ausgerichtet halten müssen.«
»Also ist die menschliche Seele eher etwas wie kosmische Hintergrundstrahlung«, konstatierte Zar und runzelte die Stirn.
Juraj hob eine Schulter und holte eine Flasche aus der Tasche, mit deren Inhalt er ein weißes Baumwolltuch benetzte. »Eher etwas trifft es gut. Die Engel ernähren sich von dieser langwelligen Strahlung, so wie wir uns von Pflanzen und Tieren ernähren. Und als der Kosmos noch im Gleichgewicht gewesen ist, gab es eine klare Trennlinie zwischen den trophischen Ebenen der irdischen und der transzendenten Welt.«
Juraj war dabei, das getränkte Tuch großflächig auf die Wunde zu pressen, aber Asavi packte sein Handgelenk mit einem panisch hervorgewürgten Schrei. »Drück das da ja nicht einfach so drauf, spinnst du?«
»Tut mir leid, aber die Wunde muss desinfiziert werden.«
»Aber Engel haben so ein Gerät im Kopf«, hakte Zar nachdenklich aus dem Off ein, Asavis Panik völlig ignorierend. »Sie können diese myriametrische Strahlung wahrnehmen und brauchen keine Dekade dafür, sondern lediglich achtundvierzig Stunden.«
Asavi warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Achtundvierzig Stunden? Woher hast du das denn? Hast du Vega gefragt?«
Zar schenkte ihr ein beunruhigendes Lächeln, das nicht zur Gänze über die Gedanken hinter seinen funkelnden Augen hinwegtäuschte, die versprachen, ausgesprochen Gänsehautmaterial zu sein. »Du erinnerst dich doch sicher an den wunderschönen Sonnenaufgang, ehe Juraj uns beide beinahe zerschossen hätte.«
Asavi öffnete den Mund für eine Erwiderung, schloss ihn dann allerdings wieder und warf stattdessen Juraj einen verstohlenen Blick zu, der sich mit zusammengepressten Lippen über ihre Hüfte beugte. »Ja, doch, daran erinnere ich mich. Aber Juraj hat uns an diesem Morgen gerettet.«
»Klar«, lenkte Zar wohlwollend ein und sein Blick huschte unverhohlen über Asavis vollgekleckerte, halbnackte Erscheinung.
Asavi biss sich auf die Lippe und dachte an seine Worte an jenem Morgen zurück. Dass es niemanden gäbe, der wusste, dass Zar Engel roch. Niemand außer du. Aber bitte sags nicht deiner Mutter.
Juraj nutzte den Moment, in dem Asavi in Gedanken versunken in die Luft starrte und presste das Tuch auf die Wunde. Sie zuckte heftig zusammen und hieb ihm empört mit der flachen Hand über den Kopf. »Autsch! Du spinnst wohl!«
»Entschuldige«, murmelte er betroffen, ließ sich aber nicht von seiner Arbeit abhalten. »Und ja, das ist ein Problem«, ergänzte er Zars Einwand. »Die Engel haben ein Organ im Innenohr, das ihnen diese Suche erleichtert. Das Auris Interna Angelus. Izabela mutmaßt, dass es zumindest zur Ortung der Seelen dient. Tatsächlich bewiesen ist diese Theorie aber nicht.«
Zar runzelte die Stirn, enthielt sich dazu aber. Stattdessen kam ihm ein anderer Gedanke und er blickte aus dem Fenster, während er mit seinen Fingern auf seine verschränkten Oberarme trommelte. »Die Naturgesetze sind außer Kraft gesetzt. Es gibt keine Ebbe und Flut mehr, keine Gezeiten und trotzdem dreht sich die Erde weiter und weiter. Die Engel sind gefallene Sterne, die allerdings unbescholten hier herumwandern, obwohl ein jeder von ihnen das millionenfache an Masse unseres Planeten hat. Mit Logik kommt ihr hier nicht sonderlich weit.«
»Na wunderbar«, zischte Asavi durch den Schmerz in ihrer Hüfte hindurch, der durch das Desinfektionsmittel neue Höhen erreichte. »Jetzt redest du schon wie Izabela. Sie hat dasselbe behauptet – bezüglich Luna-Major«, ergänzte sie zischend und ballte ihre Hände zu Fäusten, um sich irgendwie gegen das höllische Brennen zu wehren.
»Richtig. Gevatter Tod hat die Wahrheit des Universums aus den Angeln gehoben, indem er sich aus der kosmischen Gleichung genommen hat. Die Engel wurden früher von ihm in Schach gehalten«, fuhr Juraj fort und band das Tuch mit einer Mullbinde sehr zum Missfallen Asavis an ihrer Hüfte fest. »Und nur er kann die Engel jetzt wieder zurück in ihr Reich treiben.«
»Aber er hat seine Aufgabe vorsätzlich aufgegeben«, murmelte Zar und rieb sich den Nacken. »Er ist ja offensichtlich nicht mehr daran interessiert, den Babysitter zu spielen. Daran wird auch die Überzeugung der Varai nichts mehr ändern.«
»Überzeugung«, wiederholte Juraj trocken. »Die Varai setzen alles daran die Welt zu bewahren. Ihre Kultur, ihre Schönheit, ihre Errungenschaften. Die Menschheit ist vielleicht zu Teilen dafür verantwortlich, dass wir heute in dieser Situation stecken, aber Milliarden von Menschen traf diese Katastrophe ohne Schuld. Besser«, korrigierte er sich kopfschüttelnd, »niemand trägt die Schuld dafür, was vor sechs Jahren passiert ist. Niemanden hier auf dieser Ebene jedenfalls.«
»Sondern der Sensenmann«, knurrte Asavi und bemühte sich, auch die restlichen Kirschen trotz des brennenden Feuers an ihrer Hüfte zu genießen. Juraj nickte leicht und atmete tief durch.
»Das ist der Grund, warum Izabela nach ihm und seiner Sense gesucht hat. Oder immer noch sucht. Gevatter Tod benötigt seine Waffe, andernfalls kann auch er nichts ausrichten.«
»Das sagtest du bereits«, warf Asavi ein.
»Und wenn Gevatter Tod seine Sense erst einmal hat?«, fragte Zar andächtig. »Wer garantiert euch denn, dass er seine Arbeit wieder aufnimmt? Ich denke, ihr vergesst bei dieser Gleichung die wichtigste Komponente.«
Juraj und Asavi warfen ihm einen fragenden Blick zu.
»Habt ihr vergessen, dass er der Tod in Person ist? Derjenige, der laut euren Angaben die Menschen an die Engel füttert? Nur Izabela wäre so dämlich, zu glauben, sie könnte den verfluchten Sensenmann kontrollieren. Oder zu irgendetwas zwingen.«
»Das bedeutet nicht, dass sie es nicht versuchen wird«, wandte Juraj leise ein und beförderte ein weiteres Fläschchen aus der Medizintasche ans Tageslicht. »Sie hatte Asavi. Sie hatte das perfekte Druckmittel. Wer Gevatter Tods Sense hat, hat in diesem Konflikt die Macht.«
»Genau und Izabela gedenkt den Tod ebenso zu missbrauchen, wie sie die Engel missbraucht«, sagte Zar und warf Juraj einen pointierten Blick zu. »Sie will Joska vernichten und dafür ist ihr nichts zu schade. Sie würde die Menschheit vernichten, um ihr Ziel zu erreichen. Sie vernichtet die Menschheit. Aber meint ihr nicht, dass der Tod, sobald er davon Wind bekommt, vielleicht tendenziell einen Hass auf Izabela und somit die restliche Menschheit entwickeln könnte?«
Asavi wedelte mit den Händen. »Der einzige Grund, warum Izabela die Engel kontrolliert, ist Luna-Major? Entschuldigt, aber ihr vergesst hier, dass ich die Depperte bin, die unter einem Stein aufgewachsen ist. Oder, wie der da meinte«, sie deutete pikiert auf Zar, »hinterm Mond.«
Zar zwinkerte ihr zu. »Theoretisch ja. Luna-Major ist ihr Führer, Gevatter Tod ihr Hirte. Sie richten sich nach dem Mond, aber sind auf Gevatter Tod angewiesen, um an ihre Nahrung zu kommen.«
»Gewesen«, korrigierte Asavi und beobachtete Juraj dabei, wie er nebst dem Fläschchen eine viel zu große Spritze hervorholte. Sie rückte instinktiv eine handbreit von ihm davon. »Angewiesen gewesen. Jetzt fressen die Engel ja zügellos einfach jeden.«
Zar nickte und deutete zustimmend auf sie. »Richtig. Und ein sehr schlauer und mittlerweile sehr toter Wissenschaftler erklärte mir, dass das der Grund ist, weshalb die Engel Izabela folgen und nicht dem Sensenmann. Beziehungsweise kein Interesse daran haben die Sense mit ihrem Meister zu vereinen. Sie ernähren sich hier wahnsinnig gut. Nicht wahr, Juraj?«
Juraj hielt inne, den Spritzenkopf in das Fläschen zu stoßen und über sein Gesicht huschte ein beinahe trauriger Ausdruck. Seine Mundwinkel senken sich kurz nach unten, ehe er kräftig schluckte und die Schultern hob.
»Wie dem auch sei«, fuhr Zar nach einigen Augenblicken, in denen er Juraj den Raum gegeben hatte, zu antworten, fort, »Luna-Major hingegen findet diese linkische Strategie weniger nobel. Mich würde es nicht wundern, wenn er sich im Laufe dieser Katastrophe auf Joskas Seite schlägt.«
»Das würde er nicht«, schoss es aus Juraj heraus und Asavi zuckte mit Blick auf seine Hände, die immer noch mit der Flasche und der Spritze hantierten, zusammen.
Zar hob abwehrend die Hände. »Ich mutmaße hier bloß und gehe alle Szenarien durch.«
»Na schön«, meldete sich Asavi zu Wort, »dann hab ich auch eine Szenario: schon mal darüber nachgedacht, dass der Mond der Sensemann ist? Wozu brauchen denn die Engel einen Anführer, wenn sie sowieso alle vom Tod abhängig sind?«
Zar blinzelte sie überrascht an und Juraj betrachtete sie neugierig. »Tatsache«, nickte Zar anerkennend. »Daran habe ich wirklich noch nicht gedacht.«
Juraj warf Zar einen eindringlichen Blick zu. »Aber warum sollte sich dann der Tod selbst erschießen?«
Zar hob die Schultern. »Hast du dir schon mal über seinen Beruf Gedanken gemacht? Stell ich mir nicht gerade ... heiter vor.«
»Er hatte Recht«, raunte Asavi an Juraj gewandt. »Mit Logik kommen wir hier nicht weit.«
»Ich habe immer Recht«, konstatierte Zar selbstgefällig. »Aber die transzendente Morphologie eines unfassbaren Geschöpfs und seine morbiden charakterlichen Tendenzen mal beiseite, sollten wir uns um diejenigen Gedanken machen, die er hier zurückgelassen hat. Denn wenn du hier fertig bist«, er deutete vage auf Asavi und das Haus, »dann müssen wir uns wirklich überlegen, was wir machen. Ich wäre ja dafür, dieses wunderschöne Dorf zu besichtigen, bevor die Engel kommen und uns wie die arme Frau auf der anderen Seite entstellen.«
»Hier sind Engel?«, fragte Asavi alarmiert und tastete instinktiv nach einer Waffe, die sie nicht besaß.
Juraj warf Zar einen vernichtenden Blick zu. »Du hast behauptet, hier gäbe es keine.«
Zar grinste ihn kokett an. »Also hast du mir vertraut. Das schmeichelt mir.«
Asavi warf einen Arm in die Luft. »Könntet ihr später flirten? Sind wir in Gefahr oder nicht?«
Zar winkte ab. »Nein. Nicht unmittelbar. Pauschal gesehen ...«
Asavi warf den leer gegessenen, zusammengeknüllten Beerensack nach ihm, aber wie am Morgen schon, flatterte ihr Geschoss auf halbem Weg zu Boden. »Du bist ein riesen Arschloch, nur, damit du das weißt.«
»Gern geschehen«, lachte Zar.
»Hol ihr bitte mehr zu essen«, unterbrach Juraj. »Wenn du keinen Mehrwert zum Gespräch hinzuzufügen hast, dann würde ich es vorziehen, wenn du keine Panik verbreitest.«
»Immer mit der Ruhe«, beschwichtige Zar amüsiert und hob den Sack vom Boden auf. »Wirk erst einmal dein Wundermittel. Auch, wenn momentan keine Engel in der Nähe sind, würde ich unser Glück nicht strapazieren.« Er streckte sich, drehte sich halb um, deutete dann aber wieder auf sie und hob nachdrücklich die Augenbrauen. »Achtundvierzig Stunden. Vergesst das nicht.«
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