Zukunftspläne

Ich habe einen Ohrwurm. Auch mehrere Tage nach der Begegnung im Skatepark will diese Melodie einfach nicht aus meinem Kopf verschwinden. Ich habe kein Problem damit, der Song ist schließlich gut und klingt irgendwie wild. Nach Freiheit. Darum drehen sich meine Gedanken, als ich nach der Schule unsere Haustür aufschließe und mir die Schuhe ausziehe, ein Paar schwarze Vans, die an den Rändern schon ganz abgerubbelt sind, vom Skaten, und als einziges Paar in diesem Regal nicht frisch geputzt aussehen, was daran liegen könnte, dass meine Mutter von Zuhause arbeitet, während mein Vater irgendwie die Zeit totschlägt, mit Tennis oder Einkäufen in der Stadt oder Spaziergängen mit unserem Hund Carlos. Dabei werden die Schuhe nun mal nicht besonders schmutzig. Es sei denn Carlos hat Durchfall, aber das kommt fast nie vor, außer mein Vater hat ihm in seiner Zerstreutheit schon wieder Cornflakes an Stelle von Hundefutter hingestellt. Auf der Suche nach meinem vierbeinigen Freund lasse ich den Blick durch den Flur wandern, aber außer dem gewaltigen, aus dunkelbraunem Holz gefertigten Schrank, in dem wir unsere Jacken aufbewahren, bewegt sich nichts auf dem menschenleeren Flur. Eigentlich bewegt sich gar nichts, der Schrank ist schließlich nur ein uralter Stück toter Baum, der definitiv kein Leben in sich trägt.

Trotzdem wirkt er auf mich schon immer seltsam bewegt, vielleicht wegen seinem dunklen Schattenwurf, der sich mit jeder neuen Wolke ein kleines bisschen verändert oder an seinem Inhalt, den Jacken selber. Dünne Sommerjacken, Wintermäntel, eine schwarze Daunenjacke mit dem Logo der Firma meiner Mutter auf der Brust, irgendwo in der Ecke meine froschgrüne Regenjacke, die mir eigentlich zu klein ist, aber hängen bleibt, weil ich sie gerne anziehe, weil mich die zu kurzen Ärmel nicht stören und weil es sonst noch niemandem aufgefallen ist. Ein ganzer Haufen Jacken, der leicht hin und her schwingt, wenn man ihn öffnet, als würde der Schrank endlich die Luft ausstoßen, die er bei verschlossenen Türen anhält. Jedenfalls war ich überzeugt, dass er das tat, als ich fünf Jahre alt war. Da habe ich auch noch fest daran geglaubt, dass der Schrank lebendig ist. Dass ich ihn von Zeit zu Zeit öffnen muss, damit er nicht erstickt. Ich mochte diesen Schrank, mag ihn noch immer, obwohl er nicht nach Narnia führt. Ich habe es ausprobiert. Aber er war immer da, ist eine Konstante in meinem Leben gewesen, weil er in jedem Flur von jeder Wohnung oder jedem Haus stand, dass ich mal als Zuhause betrachtet habe und das sind viele, weil wir viel umgezogen sind, damals. In diesem grauen Haus wohnen wir jetzt schon seit fast vier Jahren.

Es ist nicht besser oder schlechter als die anderen Häuser, genauso grau und genauso leer mit den zu großen Zimmern, die man einfach nicht gemütlich aussehen lassen kann, egal wie viele Möbel man hineinstellt. Mit dieser Leblosigkeit. Ich haste durch den Flur, meine Socken machen auf dem glatten Holzboden kaum ein Geräusch, dann schleiche ich auf Zehenspitzen die Treppe hoch zu meiner mit Stickern beklebten Zimmertür und schließe sie vorsichtig hinter mir, sobald ich sie durchquert habe. Mein Rucksack landet mit einem dumpfen Plumps neben meinem Schreibtisch und ein Scheppern dringt an meine Ohren, vermutlich meine Bleichdose mit den Stiften, die jetzt wahrscheinlich in meinem ganzen Rucksack verteilt sind. Auch das noch. Augenverdrehend lasse ich mich auf mein Bett sinken. Ich kann nicht mehr. Meine Jeans klebt an meinen Beinen, wenn ich gewusst hätte, dass es so heiß wird, hätte ich mir eine kurze Hose angezogen. Habe ich aber nicht und so war die Doppelstunde Kunst am Nachmittag kaum auszuhalten. Dabei mag ich Kunst eigentlich, aber der schmale Raum direkt unter dem Dach verwandelt sich im Sommer regelmäßig in einen Backofen, dementsprechend schlecht ist auch meine Laune.

Ich strecke mich auf meinem Bett aus und lasse den Blick über die mit Postern bedeckte Dachschräge genau über meinem Kopf schweifen. Abgebildet sind hauptsächlich Bands und ihre Mitglieder, auf der Bühne, beim Soundcheck, einfach so, aber auch ein Plakat von einem Film, dass ich mit vierzehn aufgehängt habe und dass ich hängen lasse, weil das Bild cool aussieht, auch wenn ich kaum eine Ahnung habe, worin es darin ging. Meine Augen treffen auf ein Plakat von Kurt Cobain, er hat ein leichtes Lächeln im Gesicht und scheint meinen Blick zu erwidern, genau wie all die Menschen auf den Postern um ihn herum. So viele Augen um mich herum, das beruhigt mich irgendwie. Dieses Zimmer fühlt sich mit ihnen nicht ganz so leer an. Und ich mich nicht so einsam. Das Geräusch von trippelnden Schritten auf der Treppe reißt mich aus meinen Gedanken. Unwillig richte ich mich auf, schaue mich noch einmal schnell in meinem Zimmer um und schiebe mit einem Fuß flüchtig ein benutztes T-Shirt irgendwo ins Dunkle unter meinem Bett, während eine Hand nach der Türklinke ausstrecke und dort verharre. Ich muss nicht lange warten, schon in der nächsten Sekunde ertönt ein leises, aber bestimmtes Klopfen, mein Einsatz um die Tür zu öffnen.

Das war es dann mit meinem kurzen Moment der Ruhe, denn meine Mutter steht vor der Tür, in einen modischen Blazer gekleidet und die Haare in einem strengen Zopf nach hinten gekämmt, eine Hand immer noch etwas erhoben, die andere um ein buntes Papierbündel geschlossen. "Du bist schon da." Es ist eine Feststellung, keine Frage. "Ich habe dich gar nicht kommen hören." Da ist er, dieser vorwurfsvolle Tonfall in ihrer Stimme, den sie immer anschlägt, wenn ihr etwas nicht passt. Ich nicke. "Ja, sorry." Ich weiß gar nicht, wofür ich mich überhaupt entschuldige, doch es scheint sie ein bisschen milder zu stimmen. "Du musst wirklich nicht so herumschleichen, zieh doch einfach deine Hausschuhe an, dann würden wir dich auch kommen hören und uns nicht jedes Mal zu Tode erschrecken." Sie zwinkert mir zu, ein breites Lächeln auf dem Gesicht, als Antwort auf diesen glorreichen Vorschlag. "Kann ich machen." Werde ich ganz sicher nicht machen. Erstens sind die Hausschuhe hellrosa, mit einem Bommel vorne dran. Zweitens ist es mir ganz Recht, wenn mich niemand hört. Dann kann mich auch niemand stören, so einfach ist das. Zu meinem Glück scheint das Thema für sie damit abgehakt zu sein, nicht so glücklich bin ich jedoch darüber, dass sie jetzt wieder die Papierrolle hinter dem Rücken hervorzieht und die enthüllten Broschüren auf meinem Schreibtisch ausbreitet, nicht ohne vorher meine Zeichenutensilien unbedacht zur Seite zu schieben und mein geordnetes System durcheinanderzubringen.

Sie dreht sich zu mir um und winkt mich zu ihr. Wiederwillig folge ich ihrer Aufforderung und werfe einen flüchtigen Blick auf die Broschüren, die in aggressiven Großbuchstaben oder verschnörkelter Kursivschrift jeweils eine andere, wie ich meine Eltern kenne renommierte Universität bewerben. Ich kann einen leisen frustrierten Seufzer nicht unterdrücken, als ich mich zu meiner Mutter umdrehe und das sage, was ich jedes Mal sage, nur mit anderen Worten. "Uni? Ich bin gerade mal in der Zehnten, Mama. Zehnte Klasse. Das sind noch drei Jahre, in denen ich viel Zeit habe, darüber nachzudenken. Das ist jetzt echt noch zu früh, oder?" Ich bete, dass sie heute keine Lust hat, diese Diskussion schon wieder zu führen, doch ihr scheint wirklich nie die Energie auszugehen. "Man kann nie früh genug anfangen. Außerdem beginnt bald schon die Oberstufe und da solltest du darauf vorbereitet sein, dein Bestes zu geben. Damit du studieren kannst. Dein Vater und ich wollen doch nur das Beste für dich." Ich senke den Blick und verdrehe unbemerkt die Augen. Das Leben, dass meine Eltern für mich vorgesehen haben, erscheint mir furchtbar langweilig, definitiv nicht erstrebenswert. Nach dem Abi würde ich eigentlich am liebsten ein Auslandsjahr machen, mehr von der Welt sehen als mittelgroße deutsche Städte oder ein Hotel auf Mallorca. Etwas erleben.

Aber das sage ich nicht, ich schweige nur und schaue meine Mutter an und warte darauf, dass sie etwas sagen wird. "Mausi", beginnt sie mit mahnender Stimme und kann mir schon denken, was als nächstes kommt, "Nur weil deine Freunde nicht in die Zukunft schauen heißt das nicht, dass du das nicht tun kannst." Sie seufzt im Angesicht meiner genervten Miene. "Schau sie dir wenigstens mal an." Ihr Blick fällt auf mein Board, dass in einer Ecke steht. "Es ist sowieso zu heiß zum Skaten." Es ist nicht zu heiß zum Skaten. Es ist nie zu heiß zum Skaten. Trotzdem nicke ich ein drittes Mal und setze eine halbwegs freundliche, ergebene Miene auf. Damit sie den Mund hält. Nicht besonders nett von mir, diese Gedanken, aber wir haben diese Diskussion schon so oft geführt, dass ich einfach nichts positives mehr darin finden kann. Meine Mutter sieht skeptisch aus, aber nach einem weiteren vielsagenden Blick auf die Broschüren und einem gemurmelten "Gut" lässt sie mich endlich alleine. Jetzt bin ich noch erschöpfter als eben gerade, trotzdem werde ich den Rest des Tages aus keinen Fall alleine in diesem Zimmer verbringen. Da gehe ich ja ein. Also ziehe ich mir schnell eine kurze Hose an und greife nach einer dünnen Strickjacke, falls es kälter wird und ich länger wegbleibe. Im letzten Moment denke ich an mein Handy und stopfe es irgendwo in meine Tasche, dann knalle ich die Tür hinter mir zu, überwinde die Treppe mit vier großen Schritten und öffne die Wohnungstür, nicht ohne vorher noch einmal kehrt zu machen und meinen Schlüssel vom Flurschrank zu holen.

Ich will die Haustür gerade hinter mir ins Schloss fallen lassen, als die Stimme meiner Mutter mich zurückhält. "Ich sagte doch, zum Skaten ist es zu heiß." Die Besorgnis, die in ihrer Stimme mitschwingt ist so stark, dass ich es ihr nicht abnehme. Nicht abnehmen kann, denn die Gefahr, die sie impliziert, existiert einfach nicht. Außer ihre "Gefahr" ist Logan, der zwar kaum etwas dafür kann, von meiner Mutter aber trotzdem von oben herab behandelt wird. Ich schaffe es einfach nicht sie davon zu überzeugen, dass Logan kein "skrupelloser Krimineller" ist, der "dich auf die schiefe Bahn bringen wird". Sie lebt eindeutig im falschen Film, doch der läuft in Dauerschleife und ist nicht pausierbar. "Ich geh zu Kaja Mathe lernen", murmele ich wieder besseren Wissens. Das scheint sie zu beruhigen. "Achso. Dann viel Erfolg", ruft sie mir zu und schließt die Tür dann endgültig. Nicht "viel Spaß" oder "genieß es", sondern "Viel Erfolg." Ihre Worte hinterlassen einen bitteren Nachgeschmack, der auch nicht verschwindet, als ich mir ein Kaugummi in den Mund schiebe. Pfefferminzgeschmack. Ich schließe das Tor hinter mir und wende mich nach rechts, eine lichte Birkenallee entlang. Zu Kaja geht es nach links, durch ein kleines Kastanienwäldchen.

Ich gehe nicht zu ihr. Ich kann gar nicht zu ihr gehen, weil sie vor einer Woche in den Urlaub gefahren ist. Nach Dänemark, eine Beurlaubung hat sie offiziell wegen einer Krankheit ihres Vaters bekommen, inoffiziell ist ihre Mutter einfach mit dem Schulleiter gut befreundet. In Momenten wie diesen bin ich froh, dass meine Mutter ihre Mutter nicht ausstehen kann, sonst wüsste sie ja, dass Kaja weg ist und erst in vier Wochen wiederkommt. Ich bin etwas traurig, dass sie weg ist, vergraben in irgendeinem Kaff ohne Netz und ohne Möglichkeit sie anzurufen, aber immerhin hat sie versprochen, mir eine Postkarte zu schreiben und immerhin kann ich sie als Ausrede nutzen. Als ich um die Ecke gebogen bin, so weit, dass meine Mutter mich ziemlich sicher nicht mehr sehen kann bleibe ich stehen und hole mein Handy heraus, um meine Nachrichten zu checken, aber da ist kein grüner Punkt an meinem Postfach. Ich schreibe Logan eine kurze Nachricht in der ich frage, ob er gerade Zeit hat für ein Treffen. 

Ein einzelner grauer Haken erscheint. Er hat sein Handy ausgeschaltet. Bevor meine Laune sich noch mehr verschlechtern kann grabe ich in meiner Tasche nach meinen Kopfhörern und stelle die Musik so laut, dass ich meine Gedanken fast nicht mehr hören kann. Vielleicht ist es Schicksal oder einfach Zufall, aber gerade in dem Moment, als My Chemical Romance zu spielen beginnt, Margos Song, hält eben diese mit quietschenden Reifen neben mir an und steigt elegant vom Rad ab.

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