Zauberer und Spinner

Logan schaut mich an. Ich schaue ihn an. Ich kann die Frage in seinen Augen sehen, aber er spricht sie nicht laut aus. Plötzlich erinnere ich mich, dass wir ja eine Mission haben: Uns vorstellen. Ich hole noch einmal tief Luft und beginne zu sprechen. "Ich bin Anya und er heißt Logan und nochmal sorry wegen eben", rattere ich in einer Geschwindigkeit herunter, die mich selbst überrascht. Fast erwarte ich, mich wiederholen zu müssen, habe den Mund schon geöffnet, als die drei Nicken. Dann beginnt Logan zu sprechen und wenn das hier eine Olympiade des Schnellsprechens wäre, hätte er die Goldmedaille definitiv in der Tasche. "Oh, cool, Anya, wie diese Schauspielerin? Mit J? Logan ist auch cool. Kling so mysteriös. Ist das englisch? Also wenn ich mir einen Namen aussuchen könnte, wäre es definitiv etwas mystisches. Magnus oder Merlin oder so. Weil die klingen nach Zauberern, oder nicht? Dann könnten wir ein Zaubererduo sein, auch wenn meine Kräfte deine definitiv übertreffen, nimms nicht persönlich." Er unterbricht seinen Redeschwall, um ein paar mal tief Luft zu holen und fixiert Logan dann mit einem fordernden Blick. Dem entweicht ein nervöses Lachen, bevor er sich wieder gefangen hat. "Zaubererduo. Klar. Klingt genial." Die Verwirrung in seiner Stimme ist nicht zu überhören, aber er hat ein feines Lächeln auf den Lippen, als könne auch er sich des Zauberers Überschwänglichkeit nicht vollends entziehen.

Ein lautes Räuspern erklingt von Seiten des anderen Jungen, der sich schon wieder die Haare aus dem Gesicht streicht. "Nachdem das jetzt geklärt ist", erneutes Zurückstreichen der Haare, "Ich bin Oskar, der Spinner da heißt Dorian und die Rothaarige Margo." Sein Blick zuckt einmal nach rechts, wie um zu schauen, ob noch jemand etwas einzuwenden oder zu ergänzen hat, doch als nichts kommt, erhebt er erneut die Stimme. "Musst dich übrigens nicht entschuldigen, wegen eben. Irgendwie unsere Schuld, wenn wir im Weg sitzen und so. Außerdem ist mein Bein eh Matsch. Schlimmer wird es nicht mehr, denke ich mal." Sein Mund verzieht sich zu einem schwachen Grinsen, doch es wirkt ziemlich gezwungen, denn seine Augen bleiben so neutral wie vorher und er hat eine Hand in die Decke auf seinem Schoß gekrallt. "Schlimmer geht immer." Der Sarkasmus in Margos Stimme ist kaum zu überhören, trotzdem lächelt sie. Ich weiß gar nicht richtig woran ich das festmache, aber sie hat ein schönes Lächeln. "Pah. Alte Pessimistin." Dorian starrt sie gespielt entrüstet an. Zum ersten Mal seit ein paar Minuten mischt sich Logan wieder ins Gespräch ein. "Sie ist vielleicht pessimistisch, aber du dachtest ich bin tot." "Bin nicht pessimistisch. Nur realistisch." Oskar schmunzelt. "Du hast Spinner vergessen." Dorians Gesichtsausdruck ist eine Mischung aus Belustigung und Nachdenklichkeit. Ich warte nur darauf, dass er etwas erwidert und einen Teil seiner offensichtlich ziemlich seltsamen Gedanken mit uns teilt. Er lässt mich nicht lange warten.

"Spinner." Sein Gesicht verzieht sich in konzentrierter Anstrengung. "Das ist was negatives, oder? Weil es klingt irgendwie negativ, wegen der Gesellschaft und allem, aber..." Er hält inne. "Ich weiß nicht, dass erinnert mich irgendwie an diese Leute, die Faden herstellen. An so Rädern." "Spinnräder?", führe ich seinen Satz fort und ich frage mich plötzlich, ob er vielleicht high ist (nicht das ich wüsste, wie es ist, high zu sein, aber ungefähr so stelle ich es mir vor, ein geordnetes Chaos, dass nur er selbst versteht), aber er wirkt ziemlich klar, bis auf die Tatsache, dass er offensichtlich Faszination in Dingen findet, auf die ich niemals achten würde. Vielleicht ist das einfach seine Art die Dinge zu betrachten. "Hat keinen Grund. Die Leute reden halt so", erwidert Margo. Überraschenderweise scheint sie von seinen euphorischen Ausführungen über historische Gerätschaften kein bisschen genervt, obwohl wir uns kaum kennen und obwohl niemand von uns so wirklich etwas zu dem Gespräch beitragen kann. Es ist dann wohl eher ein Monolog, als ein Gespräch. Im Gegenteil, zum allerersten Mal ist da überhaupt keine Ironie in ihrer Stimme zu spüren, sie scheint eher etwas überrascht, als frage sie sich, warum sie sich darüber noch nie Gedanken gemacht hatte. Jedenfalls schließe ich das aus ihrer Miene, aber meine Menschenkenntnis ist nicht besonders gut, glaube ich.

"Schöner Skatepark jedenfalls. Kommt ihr hier öfter hin?", reißt mich Margo zum wiederholten Mal aus meinen Gedanken, mit diesem Versuch das Gespräch wieder in normalere Bahnen zu lenken. Ich nicke. "Fast jeden Tag." Schweigen. Ich sage nicht, dass ich mich hier wohler fühle als zuhause, weg von meinen Eltern und ihren tadelnden Gesichtern, weg von ihren Erwartungen, die mir viel zu hoch erscheinen, einfach weg aus diesem langweiligen Leben, in dem nie etwas wirklich spannendes passiert. Immerhin kann ich beim Skaten abschalten. Ich weiß, dass es Logan genauso geht. Auch wenn es bei ihm noch heftiger ist, diese Abneigung von "Zuhause" im Sinne von "Haus, wo die Eltern wohnen und du deswegen auch". Er hat mal zu mir gesagt, diese Wohnung ist ein Gefängnis, dass ihn einsperrt bis er achtzehn ist und sich ein richtiges Zuhause suchen kann. "Beim Skaten kann ich irgendwie abschalten", murmelt Logan und spricht meine Gedanken von vor ein paar Sekunden damit so exakt aus, dass es fast schon gruselig ist. "Also ich kann nicht skaten, aber der Platz ist schön. So leer." Sie hat Recht.

Gut, vielleicht nicht mit dem Schönheitsding, weil der Boden mit Betonrissen überzogen ist, aus denen schon Unkraut wächst und weil der Park von einer hohen Mauer umgeben ist, deren ursprüngliche graue Farbe unter all den verblassten und frisch leuchtenden Graffitis kaum noch zu erkennen ist. Vielleicht ist es gerade das, was den Park in ihren Augen schön macht. Dieses leicht verwahrloste die-Welt-geht-unter-mäßige. Aber sie hat definitiv Recht damit, dass der Park "so leer" ist, denn hier ist absolut niemand, außer unserer bunt zusammengewürfelten Gruppe, was daran liegen könnte, dass die meisten Leute im neueren Park skaten, der uns zwar zu weit weg, aber definitiv besser in Schuss ist. Hier, im alten Park ist fast nie jemand. Das heißt, außer uns. Das ist auch der Grund, warum es zu dieser Situation vorhin kam, wenn ich so darüber nachdenke. Der Park ist so leer, dass ich keine Menschen mehr in ihm erwarte. Trotzdem. Mein Fehler. Ich hätte besser gucken sollen, langsamer fahren, einen Helm tragen, aber was solls. Es gibt einen Haufen Dinge, die ich eigentlich hätte tun sollen und trotzdem nicht getan habe. Meine Deutschhausaufgabe zum Beispiel, ein Aufsatz zum Thema Freiheit, den ich zwar im Kopf schon einmal komplett durchformuliert habe, aber zu faul war ihn aufzuschreiben. Ich rede mir zwar ein, dass ich ihn heute Abend schreiben werde, aber tief in mir drin weiß ich, dass das eine verdammte Lüge ist.

Dieser Aufsatz wird niemals von irgendjemandem gelesen werden. Und das ist okay. Es ist eigentlich auch okay, dass ich diese anderen Dinge nicht getan habe, denn es ist ja nichts passiert. Meine Mutter sagt zwar immer, dass mir diese "Gedankenlosigkeit" eines Tages zum Verhängnis werden wird, aber bis jetzt merke ich nicht viel davon. Niemand wurde verletzt und stattdessen rede ich mit ein paar Fremden über die Sehenswürdigkeiten des örtlichen Skateparks. Ich kann mir schlimmeres vorstellen, zum Beispiel Zuhause sitzen und einem Vortrag meiner Mutter zuhören, oder alternativ Zuhause sitzen und einem Vortrag meines Vaters zuhören (oder zumindest so tun als ob). Außerdem bin ich nicht gedankenlos. Das Problem ist ja gerade, dass meine Gedanken manchmal so schnell auf mich einprasseln, dass ich nicht mehr mitkomme, wie eine Maus, die unter einem Futterregen steht und verzweifelt versucht, jedes der Teile zu fangen, zu halten und dann zu verspeisen. Ich weiß ja nicht, wie es der Maus geht, aber mir entgleiten die Gedanken regelmäßig aus meinen viel zu kleinen Händen. (Und die echte Welt auch, denn als ich das nächste Mal aufblicke und aus meinem chaotischen Kopf auftauche, habe ich keine Ahnung, was in der Zwischenzeit vorgefallen ist).

Doch es scheint kein großer Verlust zu sein, denn es herrscht schon wieder Schweigen, aber es ist eine entspannte, fast angenehme Stille, sodass ich zur Abwechslung mal nicht daran interessiert bin, sie zu brechen. Das Trio scheint sich weiter umzusehen, die Augen alle auf unterschiedliche Punkte fixiert. Margos Blick liegt auf der Graffiti übersäten Mauer, sie sieht konzentriert aus und in Gedanken versunken. Oskars grüne Augen scannen den Boden um ihn herum, die Risse und Löcher voller Unkraut, als überlege er sich bereits, wie er sie trotz Rollstuhl überwinden könnte. Als wären sie ein Hindernisparkour und er der geübte Läufer. Ob Oskar sich in seinen Bewegungen genauso eingeschränkt fühlt wie der Läufer nach einem Dauerlauf, der ihm all seinen Atem gekostet hat? Keine Ahnung. Ich versuche irgendeine Regung in seinem Gesicht, festzustellen, doch der Vorhang aus Haaren verbirgt seine Augen dahinter wie Schauspieler, die noch nicht ganz zum Spielen bereit sind. Er sieht auf, bemerkt meinen Blick und weicht ihm hastig aus. Nicht den Eindruck erwecken wollend, ich würde ihn beobachten senke ich den Blick und drehe mich zu Logan um, der geistesabwesend mit seinem Skateboard auf dem Boden spielt, es an einer Seite anhebt und dann herumdreht und dann wieder von vorne anfängt.

Margos Blick trifft meinen. "Fangt einfach an, wenn ihr wollt. Deswegen seid ihr doch hier." Ich lächele ihr dankbar zu, weil ich weiß, dass Logan nicht mehr lange stillhalten kann. Er muss seine überschüssige Energie loswerden. Ich nicht. Plötzlich habe ich gar nicht mehr so Lust aufs Skaten, würde viel lieber hier bleiben und weiter reden, die Gespräche machen zwar kaum Sinn, aber ich fühle mich irgendwie gut aufgehoben. Vielleicht deswegen, weil die drei mit uns reden, als würden wir uns schon von irgendwoher kennen, als wäre es nicht die allerersten Worte, die wir gewechselt haben. Neben mir ertönt ein leises Knirschen, als Logan sich mit einem Fuß vom Boden abstößt und auf eine der Rampen zufährt. Man sieht es ihm kaum an, aber er wartet auf mich, fängt noch nicht richtig an. Mit einem Fuß ziehe ich mein Board heran und mache mich bereit. "Nicht wieder hinfallen bitte." Margo grinst mich amüsiert an. Ich grinse zurück, doch plötzlich verkrampft sich etwas in mir. Mit dem Fuß ausholen, nach vorne lehnen, Geschwindigkeit aufbauen, das alles geht wie von selbst, ein mechanischer Vorgang, der sich in meinen Kopf eingebrannt hat, aber gedanklich bin ich irgendwo ganz weit weg, immer noch bei Margos Worten von eben. "Nicht hinfallen." Nicht hinfallen.

Jetzt realisiere ich, was falsch ist, das Problem ist. Das Problem ist Margo. Nicht sie spezifisch, einfach die Tatsache, dass mir jemand zusieht macht mich nervöser, als sie sollte. Egal. Kopf ausschalten, mach einfach das, was du immer machst. Kann ja nicht so schwer sein. Da ist sie wieder, diese Stimme in meinem Kopf, die genauso genervt ist von meinen ewigen Gedankenspiralen wie ich. Logan winkt mir zu. Ich fahre los, gehe etwas in die Knie, springe auf einen niedrigen Kasten. Bin fast etwas überrascht, als alles glatt läuft und ich nach der Landung immer noch stehe. Gut. Weiter. Der nächste Trick ist schon schwerer, aber sehr machbar und mit jeder gelungenen Aktion wächst mein Selbstbewusstsein und verdrängt die Unsicherheit und nach ein paar Minuten ist alles normal und ich endlich im Flow angekommen. In der nächsten halben Stunde denke ich gar nicht mehr. Mein Kopf ist wie leergefegt, erfüllt mit dieser wunderbaren Ruhe, die ich am skaten so liebe, da ist nichts außer dem Gefühl des Boards unter meinen Füßen und der nächste Trick und das Geräusch meines laut pochenden Herzens, das in meinen Ohren widerhallt.

Dann dringt leise Musik an meine Ohren, die stetig lauter wird. Oskar fährt seinen Rollstuhl zu einer mittelhohen Rampe und stellt einen Lautsprecher darauf ab, während Margo sich mit konzentriertem Blick und ihrem Handy in der Hand durch ihre Playlist klickt. Nach ein paar Sekunden hat sie sich entschieden und My Chemical Romance dröhnt aus dem Lautsprecher. "And if you stay, I would even wait all night, or until my heart explodes, how long until we find our way in the dark and out of harm? You can run away with me anytime you want."

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