Unbegründete Ängste und giftige Gedanken

Eine Viertelstunde später folge ich ihm endlich auf die Straße hinaus, die schmuddelige Bauchtasche um meine Hüfte gebunden, so gut es geht unter meinem weiten T-Shirt und der Jacke versteckt. Ich beeile mich, überquere mit schnellen Schritten die nur leicht befahrene Straße und biege nach ein paar Minuten in einen großen, voller gewaltiger Bäume stehenden Park ein. Es fühlt sich komisch an zu Fuß unterwegs zu sein, ich habe mich inzwischen so sehr an das Skateboard gewöhnt, dass die Geschwindigkeit mich fast verrückt macht, das fehlende Gewicht an meiner linken Seite lässt mich mich seltsam nackt, irgendwie nicht komplett fühlen. Ich gehe an einer Gruppe Jugendlicher vorbei, zwinge mich nicht schneller zu gehen, während das Unwohlsein meinen Körper hinaufkriecht wie eine hinterlistige Schlange. Ich versuche sie abzuschütteln, an irgendetwas anderes zu denken, an irgendetwas außer die warmen menschlichen Körper um mich herum oder die Blicke der Jugendlichen oder ihr Lachen. Aber es geht nicht. 

Die Gedanken haben sich wie Gift in jedem Winkel meines Kopfes verteilt, lassen keinen Platz für irgendetwas anderes außer diesem Gefühl, dieser seltsamen Mischung aus Unbehaglichkeit und Wut und Angst. Ich streife einen der Jugendlichen mit meinem Blick, treffe seinen, senke den Blick und starre hastig wieder auf meine Schuhe, die mit einer dünnen Schicht des rötlichen Staubes vom Weg bedeckt sind. Nicht stehenbleiben. Bloß nicht stehenbleiben, einfach weitergehen, einen Fuß vor den anderen setzen, kann ja nicht so schwer sein. Ich hebe den Blick, will nicht bescheuert aussehen und starre stur geradeaus. Hoffe inständig, dass ich nicht noch einem Blick begegne. Ich kneife die Augen zusammen in der bescheuerten Hoffnung dieses Gefühl damit aus meinem Kopf zu vertreiben, es herauszudrücken wie den Saft aus einer Zitrone. Kann ja nicht so schwer sein. Eigentlich. Aber es ist schwer, verdammt schwer und eine kurze Sekunde lang will ich einfach nur rennen, mein Herz pocht und da ist dieses altbekannte Ziehen in der Brust. Ich renne nicht. 

Ich zwinge mich, das Bild zu waren und ruhig einen Schritt nach dem anderen zu machen. Dann höre ich es, mein Gesicht erstarrt zu einer unbeweglichen Maske. Lachen. Es ist ein lautes Lachen und es kommt aus Richtung der Jugendlichen und gibt der Angst neuen Raum. Sie lachen über dich. Der Gedanke ist da, bevor ich ihn aufhalten kann und obwohl ich weiß, dass das keinen Sinn macht, irrational ist, kann ich mich nicht vom Gegenteil überzeugen. Endlich bin ich an ihnen vorbei, ich bin etwas schneller geworden und laufe auf den herrlichen Schatten eines kleinen Wäldchens zu, meine die Blicke der Jugendlichen immer noch auf mir zu spüren, wie sie sich durch meine Kopfhaut bohren und durch mein erstarrtes Gesicht und durch den abgewetzten Stoff der Bauchtasche, die bei jedem Schritt gegen meine Hüfte schlägt. Mich durchbohren und plötzlich dieses Gefühl sehen und die Gedanken und den Inhalt der Tasche und dann noch lauter lachen. Im Wäldchen angekommen stoße ich einen erleichterten Seufzer aus, schließe kurz erschöpft die Augen, während sich mein Herzschlag langsam beruhigt und das Gefühl verschwindet.

Naja, nicht ganz. Die unterschwellige Wut bleibt und erwacht erst jetzt richtig zum Leben. Ich verfluche mich für dieses Gefühl, ich verfluche mich für die Angst und ich verfluche mich dafür, dass mir diese völlig normale Situation so viele Probleme bereitet. Ich wäre gerne ewig hier stehen geblieben, die Bauchtasche mit einer Hand umklammert und mit dem Rücken an eine alte Eiche gelehnt, aber ich habe noch etwas zu erledigen. Die Tasche muss weg. Ihr Inhalt vor allem. Ratlos sehe ich mich genauer in dem Wäldchen um, immer noch habe ich keine Idee, was ich eigentlich mit der Tasche machen soll. Das Wäldchen ist gut versteckt, die ehrwürdigen Eichen und die im Wind leicht schwankenden Weiden werfen harte Schatten auf den blätterbedeckten Boden, irgendwo halb eingeklemmt zwischen einer jungen Eiche und einem verrosteten Mülleimer steht eine ziemlich verrottete Bank, windschief und von samtig grünem Moss bewachsen. Ich schlendere dorthin, biege ein paar Zweige aus dem Weg und lasse mich schließlich auf dem feuchten Moos nieder, das quasi auf der Stelle meine Hose durchnässt.

Dieser Ort strahlt einen seltsamen Frieden aus, der nur durch den Gestank gestört wird, der vom Mülleimer in meine Richtung gewabert kommt. Das Gesicht verziehend gehe ich darauf zu und werfe einen vorsichtigen Blick in den Mülleimer, zucke dann zurück beim Anblick einer toten Taube, die halb verwest und von wuselnden Ameisen bedeckt ganz oben liegt. Es ist so widerlich, dass ich eigentlich am liebsten wegrennen würde, aber gerade als ich diesen Gedanken gefasst habe kommt mir ein neuer in den Sinn. Wenn ich gehen will, hat das hoffentlich die gleiche Wirkung auf andere Menschen, die zufällig vorbeikommen. Es sei denn sie wollen sehen, woher der Gestank kommt. Egal. Ich vertraue darauf, dass es schon irgendwie gut gehen wird und immerhin wird das den süßlichen Weedgeruch überdecken. Ich bin mir nicht sicher, ob das ein optimales Versteck ist, aber ich will diese Last keine Sekunde länger ertragen müssen, also hebe ich die tote Taube mit einem Stock etwas an (der Gestank nach verwesendem Fleisch und Hundekacke ist fast überwältigend) und versenke die kleine Bauchtasche dann tief in den zusammengeknüllten Tüten und Pizzakartons, bis sie kaum noch zu sehen ist. 

Nachdem die Taube wieder an ihrem Platz ist, ist sie tatsächlich überhaupt nicht mehr zu sehen, was vermutlich gut ist, trotzdem habe ich ein ungutes Gefühl bei der Sache. Egal. Ich verlasse das Wäldchen auf der anderen Seite, zwinge mich mich nicht umzudrehen und ganz unschuldig auszusehen. Ich bin erst zehn Minuten gelaufen, einfach auf irgendwelchen Wegen desorientiert durch den Park, um so viel Abstand wie möglich zwischen mich und die Drogen zu bekommen, (denn auch wenn mir im Prinzip bewusst ist, dass Weed nicht das Allerschlimmste ist und das mich niemand gesehen hat und das niemand das finden wird und wenn überhaupt wüsste er nicht von wem fühle ich mich trotzdem ein bisschen schuldig), als mir das erste Mal wieder jemand begegnet. Doch es ist nicht einfach irgendjemand und die Panik kocht in mir hoch während ich versuche die Uniformen und Leuchtstreifen und Waffengürtel einzuordnen. Meine Hände beginnen zu schwitzen und plötzlich ist mein Puls wieder auf 180. 

Das sind Polizisten, zwei insgesamt und in ein angeregtes Gespräch vertieft. Ich schaue auf den Boden, beobachte sie aus dem Augenwinkel und versuche meine Atmung zu beruhigen, aber mein Herz pocht einfach weiter. Verdammte Angst. Verdammtes Herz. Verdammte Scheiße. Irgendwie hat mich der Anblick von Polizisten schon immer etwas nervös gemacht, aber das ist kein Vergleich zu dem hier. Denn jetzt habe ich einfach nur eine Scheißangst und es gibt schon wieder keinen Grund dafür, aber anscheinend bin ich heute anfällig für unbegründete Ängste. Oder so. Ich bin so sehr darauf bedacht nicht auffällig auszusehen, dass ich die auf mich zu kommende Gestalt erst bemerke, als sie vor mir stehenbleibt. "Warte mal." Es ist einer der Polizisten, er hat eine tiefe, respekteinflößende Stimme, eine schiefe Nase und buschige Augenbrauen. Ich schaue ihn fragend an, will etwas sagen, irgendwas, aber ich kann nicht, also stehe ich einfach nur da und warte. "Hast du zufällig einen Teenager gesehen? Dunkle Haare, ziemlich gebräunt und er trug einen dunkelblauen Pullover." Ich schüttele den Kopf, bin mir seinem prüfendem Blick unangenehm bewusst und realisiere im gleichen Moment, dass das eine ziemlich genaue Beschreibung von Logan ist. 

Sein könnte, versuche ich mich zu beruhigen, denn diese Beschreibung trifft wahrscheinlich auf tausende Menschen zu. "Sicher?" reißt mich die Stimme des Polizisten aus meinen Gedanken, sie klingt fragend, irgendwie drohend. "Ziemlich sicher", bringe ich heraus und bemerke erleichtert, dass meine Stimme  kaum zittert. "Nur ziemlich?" Die Polizistin hat sich jetzt eingeschaltet, sie hat ein nettes Gesicht und schüchtert mich weniger ein als ihr Kollege. "Naja...", beginne ich, bevor ich mir richtig überlegt habe, was ich überhaupt sagen will. "Ich habe in der Lindenstraße am Weg Jugendliche gesehen, aber ich hab nicht so auf die geachtet." Ich versuche nett rüberzukommen, kooperativ, und gleichzeitig zu ignorieren, dass das eine verdammte Lüge ist und das ich gerade nur versuche, für Logan Zeit zu schinden. Der Polizist sieht so aus, als wolle er noch etwas sagen, wird dann aber von seiner Kollegin unterbrochen. "Okay. Vielen Dank." Dann drehen sie sich um und laufen in Richtung der Lindenstraße los. 

Erst jetzt erlaube ich mir erleichtert zu sein, murmele ein "Tschüss" und setze mich wieder in Bewegung, bin unheimlich froh, dass ich die Bauchtasche jetzt nicht mehr bei mir habe und erlaube mir erst mich umzudrehen, als das Duo schon fast um eine Kurve verschwunden ist. Ich kann die Frau ihrem Kollegen etwas zumurmeln sehen und plötzlich ist es wieder da. Dieses seltsame Gefühl. Die giftigen Gedanken.  

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