Theorie und Praxis
Das, was als nächstes passiert, ist zwar neu, überrascht mich aber kein bisschen. Als ich so leise wie möglich die Haustür aufschließe und gerade auf Zehenspitzen die knarzende Treppe in Anlauf nehmen will, steht meine Mutter vor mir. Schneeweißer Morgenrock, zerzauste Haare, den Mund zu einem so schmalen Strich verzogen, dass ihre Lippen kaum noch zu sehen sind. Man braucht nicht besonders intelligent zu sein um zu bemerken, wie wütend sie ist. Scheißwütend. So wütend, dass sie erstmal kein Wort herausbringt und mich einfach nur anstarrt, die Hände in die Hüften gestemmt, ein wütendes Funkeln in den Augen. Ich starre sie an, bemühe mich eine neutrale, schuldbewusste Miene aufzusetzen und überlege gleichzeitig, was ich diesmal getan habe. Oder besser nicht getan habe, denn in diesem Moment fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Ich habe ihr nicht geschrieben, habe nicht Bescheid gesagt, wie lange ich bleibe und die altehrwürdige Standuhr zeigt schon fast halb eins. Kurz steigt Ärger über mich selbst in mir hoch, in der nächsten Sekunde schlägt er jedoch zu Ärger über sie um. Weil es doch eigentlich noch gar nicht so spät ist. Weil man mit sechzehn auch mal länger wegbleiben können sollte, ohne das die Eltern gleich austicken. Vor allem an einem Freitagabend kurz vor den Sommerferien.
Mein Blick wird vom ungewohnten Anblick ihre zerzausten Haaren wie magisch angezogen. Wenn das hier eine meiner Zeichnungen wäre, wären sie die kleine Abweichung vom Original, dass das Bild irgendwie falsch aussehen lässt, das Detail, dass man stundenlang anstarrt um rauszufinden, was denn nun genau daran falsch ist. Ich brauche nicht länger als eine Sekunde, um den Fehler in diesem Bild zu finden. Sie trägt ihre Haare sonst immer streng nach hinten gekämmt, niemals offen und niemals unordentlich, weil man sich das, Zitat "Als Chefin einer einflussreichen Firma nicht erlauben kann". Es ist eigentlich keine große Sache, aber aus irgendeinem Grund stört mich dieses Detail enorm, am liebsten würde ich hingehen und ihre Haare richten, damit es nicht mehr so aussieht, als hätte sie die Kontrolle verloren. Die Kontrolle über ihre Ordnung. Tue ich natürlich nicht, stattdessen stehe ich einfach nur da und warte schweigend darauf, dass sie etwas sagt. "Wo warst du?" Ihre Stimme klingt kalt, seltsam emotionslos, als wäre sie eine völlig andere Person, nicht mehr die Mutter, die ich kenne. Obwohl das hier eigentlich doch ganz gut zu ihr passt, wenn ich so darüber nachdenke. Im nächsten Moment wird es ganz deutlich. Das hier ist die Ruhe vor dem Sturm und ich steuere in meinem kleinen Segelboot genau auf die wogenden Wellen zu.
Die Ruhe vor dem Blitzlichtgewitter mit so lärmendem Donner, dass das ganze Haus vibriert. So kommt es mir jedenfalls vor. "Bei Kaja", antworte ich und diese zwei Worte bringen das Fass zum Überlaufen. "Hast du eigentlich eine Ahnung, wie spät es ist? Nein? Dachte ich mir." Ihre Stimme ist plötzlich laut, aggressiv, mit einem gefährlichen Unterton, der mich den Kopf einziehen lässt für das was kommen wird. "Weißt du eigentlich, was für Sorgen ich mir gemacht habe? Es ist mitten in der Nacht-" Jetzt reicht es mir. "Es ist nicht mitten in der Nacht. Sondern halb eins. Und Freitag." Ich bete, dass nur ich die dezente Angepisstheit in meiner Stimme bemerkt habe. Fehlanzeige. Die Falten in ihrer Stirn haben einen gefährlichen Punkt erreicht der impliziert, dass ich schleunigst aufhören sollte so mit ihr zu Reden, überhaupt irgendetwas zu tun. Also rudere ich zurück. "Tut mir wirklich Leid. Wir haben beim Lernen total die Zeit vergessen." Schwache Ausrede, ich weiß, aber eine bessere habe ich nicht auf Lager, außer alternativ "Ich habe mich mit einer Fremden getroffen und wir sind verbotenerweise auf ein Hochhausdach geklettert und haben die Zeit vergessen und außerdem mussten wir uns noch vor dem Hausmeister verstecken und das hat alles etwas länger gedauert, sorry" und das wäre zwar die Wahrheit, aber ziemlich kontraproduktiv.
Glück für mich, dass sie das wenigstens ein bisschen zu besänftigen scheint, Pech, weil sie bestimmt auf das Lernthema zurückkommen wird, irgendwann. Aber für den Moment ist die Situation einigermaßen gerettet, das sehe ich an ihren zusammengekniffenen Augenbrauen, die sich jetzt ein kleines Stück entspannen und an den Falten auf ihrer Stirn, die schon nicht mehr ganz so tief aussehen. "Wehe du bleibst nochmal so lange weg, ohne Bescheid zu sagen. Dann gibt es richtig Ärger." Sie dreht sich demonstrativ um und stolziert den Flur hinauf, ohne mir gute Nacht zu sagen. Ich warte mit dem erleichterten Seufzer, bis meine Zimmertür hinter mir ins Schloss gefallen ist und lasse mich dann mit müden Gliedern und einem müden Kopf auf mein wunderbar weiches Bett sinken. Nur widerwillig kämpfe ich mich nochmal hoch, um mir schnell im Bad auf dieser Etage meine Zähne zu putzen (nicht ohne zu bemerken, wie fertig ich eigentlich aussehe und meine Zahnbürste fallen zu lassen), dann streife ich schnell die verschwitzten Klamotten ab und mein Schlafshirt an (zweimal versuche ich den Kopf durch das falsche Loch zu stecken, bevor ich aufgebe und nochmal von vorne anfange) und lasse mich dann endlich endgültig erschöpft ins Bett fallen. Ich bin so müde, dass ich eigentlich sofort einschlafen müsste, aber die Ereignisse des Tages spuken in meinem Kopf herum und lassen mich nicht zur Ruhe kommen. Die Fahrradfahrt, das Hochhausdach, der Sonnenuntergang, die Lichter der Stadt, das dunkle Versteck und Margo, immer wieder Margo.
Meine Hände auf ihren Schultern und ihre Hand in meiner und ihr Atem an meinem Hals und einfach so Margo wie sie dasteht im Licht der untergehenden Sonne, wie sie im Schneidersitz dasitzt und verträumt in Richtung Horizont schaut, wie sie mich anlächelt, wie sie einen sarkastischen Witz macht, wie sie mich zur Verabschiedung kurz umarmt, wie sie ihre Nummer in meinem Handy einspeichert mit einem (ironischen) Kussmundemoji hinter ihrem Namen und mich quasi zwingt, das gleiche bei ihr zu tun (zu dem Kussmundemoji konnte ich mich nicht durchringen, sie hat alternativ einen seltsam lächelnden Mond bekommen). Margo. Margo. Margo. Immer wieder Margo bis ich den schweren Kopf gefüllt mit Bildern von diesem Tag schließlich einschlafe und am nächsten Tag mit einem genauso schweren Kopf wieder aufwache. Diesmal ist er nicht schwer von der Müdigkeit, sondern von den vielen Gedanken, die zusammen mit mir wieder aufgewacht sind, noch hartnäckiger als gestern Abend. Ich liege einfach so da und meine Gedanken wandern wieder zu ihr, zu ihren sturmgrauen Augen und den widerspenstigen Haaren und der geschwungenen Linie ihrer Oberlippe und überhaupt, ich kann gerade keinen klaren Gedanken fassen. Wegen ihr. Ich hasse das.
Ich hasse, dass sie mich so sehr fasziniert und ich hasse, dass ich sie nicht mehr aus dem Kopf bekomme und ich hasse, dass ich das hasse. Ich hasse, dass ich sie nach so kurzer Zeit schon so gerne mag und ich hasse, dass ich es nicht schaffe mir einzureden, ich fände sie einfach freundschaftlich ganz nett. Es ist irgendwie seltsam. Ich weiß zwar schon länger, dass ich wahrscheinlich bi bin oder pan oder omni und das habe ich daraus geschlossen, dass es mir im Prinzip egal ist, welches Geschlecht und dass ich Mädchen in der Theorie auch attraktiv finde. In der Theorie, und genau da liegt das Problem, Ich habe zwar kein Problem damit, eigentlich, aber so wird es irgendwie plötzlich so real. So echt. Ist nicht länger nur ein Konstrukt aus Was-wäre-wenns und Vielleichts. Einerseits ist das gut, weil es die Zweifel beiseite räumt. Andererseits kann ich es jetzt nicht mehr ignorieren, verdrängen, aus dem Kopf verbannen. Vielleicht waren mir die Was-wäre-wenns und Vielleichts doch lieber.
Mein Handy vibriert auf dem Nachttisch und ich strecke träge einen Arm danach aus. Ich habe 23 neue Instagram-Benachrichtigungen, die ich erstmal wegwische, zum später anschauen, dann eine neue Nachricht von Kaja, in der sie fragt, wie es mir geht und ob alles okay ist und wie mein Urlaub ist (Zwinkersmiley). Meine Augen wandern ein Stück weiter und ich schaue zweimal hin, um mich zu vergewissern, ganz sicher zu sein und im nächsten Moment setzt mein Herz einen Schlag aus. Ich habe drei neue Nachrichten. Von Margo. Ich halte einen Moment inne, den Finger genau über der Nachricht schwebend erstarrt und dann kann ich es plötzlich nicht mehr erwarten. Will endlich wissen, was sie schreibt und verfluche mein Herz gleichzeitig dafür, dass es einfach nicht stillhalten will. Dann lese ich die Nachrichten. "Hey. Ich fands echt schön gestern, auch wenn wir ihn glaube ich geschrottet haben :)". Dazu schickt sie ein Bild von ihrem rostigen Fahrrad, eines der Räder ist platt wie ein Pfannkuchen und sie hat dem Rad mit vier Strichen ein todtrauriges Gesicht verpasst. Irgendwie bin ich froh, dass sie mein idiotisches Grinsen gerade nicht sehen kann. Die Info unter Margos Namen springt von "Zuletzt online 10:23" auf "online" und erhöht den Druck zu antworten damit imens. Nicht, dass ich nicht antworten will, aber ich will es auch nicht vermasseln und irgendetwas komisches schreiben.
Ich brauche Zeit. Nachdenken, Anya, versuche ich meinen nutzlosen Kopf anzuspornen, beginne ein paar mal zaghaft zu tippen und höre dann schnell wieder auf, bis ich mich schließlich für eine Antwort entschieden habe (nachdem ich sie mehrmals nach Rechtschreibfehlern überprüft habe). "Hi. Ich fands auch echt schön. Armes Fahrrad, er/sie/sier (???) hat die Fahrt anscheinend nicht so genossen :(" Ich drücke auf Senden und wünsche mir im nächsten Moment, ich hätte es nicht getan, auch wenn ich mit der Antwort eigentlich ganz zufrieden bin. Ich bilde mir ein, dass sie nach mir klingt. Margo antwortet sofort, als hätte sie nur an ihrem Handy gesessen und auf meine Antwort gewartet. Was natürlich völlig lächerlich ist, sie hatte ihr Handy halt irgendwo neben sich liegen und vielleicht schreibt sie nebenbei mit 10 anderen Typen. Oder Mädchen. Ich hoffe ein bisschen, dass auch Mädchen dabei sind, bis mir auffällt, dass das meine Chancen nicht gerade verbessern würde. (Nicht dass ich überhaupt eine Chance hätte, aber trotzdem.) "Ich glaube es ist ein er, aber ich habe noch nicht nachgeschaut :)" und dann "Ich frag bei Gelegenheit mal nach." Ich lächele und antworte "Gute Idee. Nur für den Fall, dass du Hilfe brauchst: Ich spreche fließend Fahrradisch :)" Es ist seltsam, aber plötzlich fällt es mir gar nicht mehr so schwer, ihr zu antworten, und, habe ich ihr gerade wirklich meine Hilfe angeboten?
Zwar nur ironisch, aber verdammt, das ist ein Anfang, (oder nicht?). Sie antwortet "Ich komm drauf zurück" und ich habe ihr Lächeln plötzlich so klar vor Augen, als stünde sie vor mir. Es wird kurz still und das ist seltsam, sich beim Schreiben anzuschweigen, weil ich sie nicht vor mir sehe und gar nicht einschätzen kann, welche Art von Schweigen das ist. Es könnte ein Wir-haben-uns-nichts-zu-sagen-und-das-ist-awkward-Schweigen sein aber auch ein Friedliches-zusammen-Schweigen sein. Warum gibt es bloß so endlos viele verschiedene Arten zu schweigen?
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