Regel Nummer Eins
Dorian steht vor mir und strahlt mich an. "Schön, dass du das bist" und ich weiß, dass das nur eine Floskel ist, etwas, das er wahrscheinlich immer sagt, wenn jemand Neues zu Besuch kommt, aber bei ihm klingt es so verdammt ehrlich, dass ich es fast glauben will. "Hallo", ertönt eine gelangweilt klingende Stimme aus einer Ecke und im nächsten Moment kommt Oskar um eine Ecke und ich traue meinen Augen nicht, weil er steht, auf zwei Beinen lässig auf mich zugelaufen kommt. Zum ersten Mal erkenne ich, wie klein er wirklich ist. Er geht mir gerade mal bis zur Schulter. Ich stehe jetzt nicht mit offenem Mund da oder so, aber die Überraschung auf meinem Gesicht ist trotzdem nicht zu übersehen. Er hebt das linke Bein seiner verwaschenen hellblauen Jeans ein Stück an, etwas metallisch glänzendes blitzt daraus hervor und während der ganzen Sache bleibt sein Gesichtsausdruck genauso neutral gelangweilt, als wäre das hier gar nichts und weil er es wie gar nichts behandelt, beschließe ich das selbe zu tun, lächele ihm bloß zu und sage "Cool", bemüht genauso gelangweilt zu klingen wie er gerade. Margo umarmt die beiden auch kurz, dann folge ich den dreien durch eine wild mit Farbe bespritzte Tür und dann auf einen winzigen Balkon hinaus.
Auf ihm hat gerade mal kleiner Tisch mit einem halb gefüllten Aschenbecher, ein zwischen ihm und der grauen Wand eingequetschter Stuhl und ein von Rissen durchzogener Blumentopf mit irgendeiner Pflanze, große Blätter und kleine rote Blüten, die einen intensiven Duft nach Sommer verströmt, Platz. Umso mehr überrascht es mich, als wir es wirklich irgendwie schaffen, uns alle zusammen auf den Balkon zu quetschen. Auf den kleinen Stuhl Oskar, der sich trotz seiner Schmächtigkeit ziemlich klein machen muss, Dorian im Schneidersitz auf dem wackeligen Tisch, den Aschenbecher irgendwo ganz in eine Ecke geschoben und Margo mit verschränkten Armen gegen die Brüstung gelehnt, während ich mich neben die Pflanze stelle, ein paar Blätter werden mir vom schwachen Wind ins Gesicht geweht. "Sorry dafür", bemerkt Dorian wage in Richtung der Balkontür gestikulierend, "Aber drinnen wirst du irre vor Hitze." Er hat vermutlich Recht, aber selbst wenn es hier draußen kälter ist fühle ich mich immer noch als würde ich gekocht. Die Sonne knallt unbarmherzig auf uns herunter und die Wolken von heute morgen sind wie vom Erdboden verschwunden.
"Immerhin ist da Schatten", murmelt Oskar so leise, dass nur ich ihn hören kann. Ich nicke und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. "Wenn mir noch heißer wird, explodiere ich", fügt er in normaler Lautstärke hinzu, zieht einen kleinen Zettel aus der Tasche und starrt ihn kurz an. "Glaubt ihr, der hier funktioniert als Fächer?" Ein weiterer prüfender Blick in Richtung Zettel. "Niemals", schaltet Margo sich ein, "Weil der erstens zu klein und zweitens zerknittert ist." Oskar turnt auf seinem Stuhl hin und her, offensichtlich auf der Suche nach einer bequemeren Sitzposition, wobei sein Metallbein ein paar Mal gegen den Stuhl schlägt und jedes Mal einen scheppernden Ton von verursacht. Für den Bruchteil einer Sekunde huscht ein seltsamer Ausdruck über sein Gesicht, doch er ist genauso schnell wieder weg wie er gekommen ist, verschwunden hinter einem Vorhang aus braunen Haaren. Die nächste halbe Stunde verbringen wir größtenteils redend und lachend und die Zeit verfliegt, weil das hier so einfach und ungezwungen ist und weil das Gespräch nie richtig zum Stillstand kommt. Bis das schrille Klingeln eines Handys in der Morgenluft erklingt, Margo nach etwas in ihrer Tasche kramt und dann mit einem entschuldigenden Blick in unsere Richtung irgendwo in den Tiefen der Wohnung verschwindet.
Es bleibt noch kurz still, nachdem sie weg ist und ich frage Dorian nach der Toilette. Er zeigt in irgendeine vage Richtung aus der ich absolut nicht schlau werde, bis Oskar sich erbarmt und mir den Weg ordentlich erklärt. Ich stapfe durch den Flur und lasse den Blick über die Regale an den Wänden schweifen, die allesamt ziemlich leer sind, bis auf die Schränke in Dorians Zimmer, in denen ein heilloses Durcheinander herrscht. Das Badezimmer ist weniger ein Zimmer als ein Loch in der Wand, die Tür schließt nicht richtig und ich bekomme sie nur mit Gewalt zu. An einer wackeligen Stange hängen zwei Handtücher, eins dunkelblau und sauber und eins hellrot und voller Erde, vor der Toilette auf den nackten, erfrischend kühlen Fliesen steht eine kleine Wasserlache. Ich gehe auf Toilette und sehe wahrscheinlich aus wie ein jämmerlich schlechter Ballettänzer in meinem wahnsinnigen Versuch dem Wasser auszuweichen, bei dem ich mir den Kopf an einer Ecke stoße und am Ende trotzdem nasse Socken bekomme. Als ich die Tür hinter mir schließe, stoße ich im Flur fast mit Oskar zusammen, der schmerzerfüllt das Gesicht verzieht und seltsam unrund läuft, bis er meine Anwesenheit realisiert und ein ziemlich gequält aussehendes Lächeln aufsetzt.
Kurz will ich ihn fragen, ob alles okay ist, überlege es mir dann anders, weil er ja offensichtlich nicht, will, dass ich etwas mitkriege und vielleicht ist ihm das aus irgendeinem Grund unangenehm. Er verschwindet im Bad und zieht die Tür mit einem Ruck hinter sich zu, sodass ich sowieso keine Gelegenheit bekomme ihn darauf anzusprechen. Ich mache mich wieder auf dem Weg zum Balkon, aber auf halbem Weg stehe ich plötzlich Margo gegenüber, die ihr Handy in einer Hand hält und mit der anderen wild gestikuliert. Ihr Mund bewegt sich, formt Wörter, doch es bleibt mucksmäuschenstill als telefoniere sie mit einer Toten. Sie hat die Augen zusammengekniffen, sieht konzentriert aus, lächelt dann warm in ihr Telefon. Plötzlich hebt sie den Blick und bemerkt mich, wirft mir einen undeutbaren Blick aus ihren grauen Augen zu und wendet sich dann wieder dem Handy zu. Ich nehme das als Zeichen, sie nicht länger zu stören und trete einen Moment später wieder auf den Balkon hinaus, wo Dorian immer noch auf dem Tisch sitzt und in die Weite starrt. Er nimmt meine Anwesenheit mit einem knappen Nicken zur Kenntnis, doch wendet den Blick nicht einmal vom Horizont, bis Margo wieder kommt und er plötzlich aus seiner Starre erwacht. "Alles gut bei ihr?"
Ich weiß nicht, wer sie ist, vielleicht Margos Freundin oder ihre Mutter oder wer auch immer, aber in Dorians Stimme schwingt eine Behutsamkeit mit, die ich ihm gar nicht zugetraut hätte. Knappes Nicken von Margo, dann wieder Schweigen, bis Dorian erneut die Stimme erhebt. "Deine Schwester ist toll." Schon wieder erscheint mir seine Aussage völlig zusammenhanglos, aber Margo scheint zu wissen, was er damit sagen will, denn ihr Gesicht verfinstert sich merklich. Schwester also. Kurz durchflutet mich Glück, weil es nicht ihre Freundin ist, was idiotisch ist, weil sie vielleicht trotzdem eine hat und überhaupt. Ich interpretiere vermutlich einfach mal wieder zu viel in etwas komplett unnötiges. "Du hast eine Schwester?", frage ich unnötigerweise, einfach um die unangenehme Stille zu brechen. Sie nickt. "Wie alt?" Irgendetwas ist komisch, ich weiß nur nicht was. "12." Sie antwortet nur widerwillig. "Schön." Meine Stimme klingt seltsam, hoch und unsicher. "Versteht ihr euch gut?", füge ich hinzu, weil mich diese verdammte Stille einfach fertig macht und weil sich das für mich wie eine logische Frage anfühlt. Margo hält inne, ihr Gesicht eine starre Maske, die Lippen zu einem harten Strich verzogen. Ich hätte einfach die verdammte Klappe halten sollen. Scheiße. Ich werfe Dorian einen hilfesuchenden Blick zu, aber der starrt betreten die Wand an und ist dementsprechend keine große Hilfe.
"Sorry", stammele ich, in dem verzweifelten Versuch die Situation irgendwie noch zu retten, aber sie wendet sich ab, die Hände in ihren Schoß gekrallt. Sie springt unvermittelt auf, flüstert irgendwas von "Ich muss kurz..." und "Raus" und im nächsten Moment ist sie schon weg, erneut in den Tiefen der Wohnung verschwunden. Dorians Hand drückt mich wieder auf den Stuhl und ich realisiere erst in diesem Moment, dass ich ebenfalls aufgestanden sein muss. "Lass sie. Das hat keinen Sinn jetzt." Er hat einen sanften Tonfall aufgesetzt, als wäre ich diejenige, die sich beruhigen müsste und nicht Margo. Ich spüre Wut in mir hochkochen. Wut auf Margo, weil sie einfach aufgesprungen ist und Wut, weil ich nur eine Frage stellen wollte und Wut auf mich selbst, weil ich es mal wieder vermasselt habe. Frustriert balle ich meine Hände zu Fäuste, bis meine Finger von dem Druck schmerzen. "Ich hätte einfach die Klappe halten sollen." Die Frustration in meiner Stimme ist nicht zu überhören. "Jap." Ich habe keine Ahnung, wie seine Stimme so ruhig klingen kann. "Ist aber nicht deine Schuld." Ich schlucke und wende den Kopf ab. Er greift in seine Tasche, holt etwas hervor und ein paar Sekunden später hat er eine brennende Zigarette in der Hand, die er jetzt bedächtig zum Mund führt und einen tiefen Zug nimmt. Der beißende Rauchgeruch vermischt sich mit dem süßlichen Geruch der Pflanze und ergibt zusammen einen Cocktail, der sich Übelkeit erregend auf dem ganzen Balkon verteilt.
Meine Kehle beginnt zu kratzen und ich kann ein kurzes Husten nicht unterdrücken. "Sorry." Er klingt ehrlich betroffen. "Muss jetzt sein. Ich würde dir ja eine anbieten, aber wäre schade um deine Lungen." Er pafft seelenruhig weiter und pustet den Rauch über die Brüstung hinweg, wo er diesige Schwaden bildet. Als er nach ein paar stillen Minuten das Schweigen bricht, klingt er ungewöhnlich ernst. "Regel Nummer Eins, wenn du hier niemandem auf die Füße treten willst: Lass das Familienthema aus dem Spiel."
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