Drahtesel und Drahtschlaufen
Sie lächelt mich an. "Hi." Ihre Stimme klingt gedämpft durch meine Kopfhörer, aber ich kann sie trotzdem hören. Während ich die Kopfhörer eilig aus den Ohren nehme, tippt sie mich mit der Hand auf die Schulter und sagt noch einmal "Hi", diesmal aber in einer derartigen Lautstärke, dass meine Mutter neidisch wäre, offenbar in dem Glauben, ich könnte sie nicht hören. "Hey", antworte ich und lächele schwach zurück. Ich fühle mich zwar gar nicht mehr so müde, aber irgendwie trotzdem fertig. "Was hast du jetzt vor?" Sie klingt ernsthaft interessiert. Ich zucke die Schultern und das Lächeln verschwindet aus meinem Gesicht. "Meine Mutter denkt, dass ich bei ner Freundin bin Mathe lernen." Für einen kurzen Moment verfluche ich mich dafür, die Wahrheit gesagt zu haben, denn das klang wirklich nicht besonders cool, aber erstens fehlt mir die Energie zum Lügen und zweitens glaube ich irgendwie nicht, dass sie so oberflächlich ist. Jedenfalls schließe ich das aus dem Gespräch im Skatepark, denn danach haben wir nur noch vereinzelt ein paar Worte gewechselt, wenn wir uns in der Schule auf irgendeinem Gang begegnet sind. "Hi" und "Wie geht's dir?" und "Nachmittagsunterricht ist scheiße", dann ein flüchtiges Lächeln und weitergehen, weil ich es eilig hatte und weil sie es offensichtlich auch eilig hatte.
Das erste Mal, als ich sie auf dem Schulhof erspäht habe, habe ich mich ernsthaft gefragt, warum ich sie noch nie gesehen habe, warum sie mir offensichtlich vorher noch nie aufgefallen ist, aber eigentlich ist das logisch, wenn man bedenkt, dass ich nach vier Jahren vielleicht zehn Leute aus dem Jahrgang namentlich kenne. Trotzdem, seltsam. Sie ist dann später an mir vorbei gelaufen, in ein Gespräch vertieft mit irgendeinem Mädchen aus meinem Biokurs, aber dann hat sie mir zugenickt und kurz "Hi" gesagt und ist dann weitergegangen. Ich habe mich irgendwie gefreut, weil ich sie nett fand und weil ich mir nicht sicher war, ob sie mich grüßen würde. Margos helles Lachen reißt mich aus meinen Gedanken. "Mathe lernen, hier? Am Freitag?" War ja klar, dass das komisch rüberkommt. Ich nicke, kann den missmutigen Ausdruck auf meinem Gesicht nicht unterdrücken. Margo grinst und lässt den Blick demonstrativ über die menschenleere Straße wandern. "Okay. Cool. Mal was anderes, auch wenn ich noch nichts von der Freundin sehe. Vielleicht ist sie unsichtbar?" "Nur schüchtern." Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Wenn sie ein Spiel spielen will, spiele ich mit.
Verständnisvolles Nicken, toternste Miene, die fast überzeugend wäre, wenn ihre Augen nicht weiterhin lächeln würden. Sie sind grau und erinnern mich ein bisschen an Berge und Gletscher. Freiheit. Ich weiß nicht, wieso ich überhaupt darauf achte, aber sie hat schöne Augen und ein schönes Lächeln und schöne Haare. Und eine schöne Stimme, geht mir durch den Kopf als sie zu einer Erwiderung ansetzt. "Dann sollte sie ihre Schüchternheit bald mal ablegen und dich nicht länger warten lassen." Sie hebt eine Augenbraue. "Wie heißt sie denn, das schüchterne Mathegenie?". "Kaja." Ich kann ein kurzes Lachen nicht unterdrücken, bei der Vorstellung wie Kaja auf diese Ansprache reagieren würde. Positiv jedenfalls nicht. Mit einer einzigen fließenden Bewegung klappt Margo den Ständer ihres Rads auf und lehnt es an eine Laterne neben uns, als es trotzdem Anstalten macht umzukippen. "Kaja? Kaajaa?", ruft sie, die Hände zu einem Trichter um den Mund geformt. Für eine Sekunde lang will ich sie bitten, nicht so laut zu sein, dass könnte die Nachbarn stören, aber ich lasse es, den irgendwie will ich sie nicht aus ihrem Spiel reißen. Dafür macht es viel zu viel Spaß. Ich folge ihrem Blick zu einem Fahrradfahrer, der auf der anderen Straßenseite vorbei fährt, wahrscheinlich ein Student auf dem Weg zu irgendeiner Party.
"Das ist nicht zufällig Kaja?" Ich schüttele den Kopf und mir ist schon wieder zum Lachen zumute, weil der Vielleichtstudent viel älter ist als sie und lange rotbraune Haare hat, die ihm bis kurz über die Hüfte gehen, während Kaja ihre Haare schon kurz geschnitten hat, seit ich sie kenne und das ist eine lange Zeit. "Oh, schade." Margo verzieht das Gesicht zu einer Grimasse, die wahrscheinlich betreten wirken soll, aber mehr wirkt wie die Imitation eines weinenden Kleinkinds. "Naja, ich fürchte, sie hat dich sitzen lassen. Kann man nichts machen." Sie hält einen Moment inne, wie um zu überlegen. "Und weil diese Matheaufgaben bestimmt furchtbar wichtig und nicht verschiebbar sind, werde ich wohl ihren Job übernehmen müssen." Breites Lächeln, fragender Ausdruck in den Augen. Ich sehe sie kurz verständnislos an, während mein müdes Gehirn versucht, diesen Code zu entschlüsseln, bis sie mich erlöst. "Heißt im Klartext, du steigst jetzt hinten auf und wir fahren irgendwo hin und dann werden wir natürlich ganz brav lernen", erklärt sie und deutet mit einem Nicken in Richtung ihres Fahrrads, das so aussieht, als hätte es seine beste Zeit längst hinter sich gelassen. "Da drauf?" Die Skepsis in meiner Stimme ist offensichtlich. Sie nickt. "Korrekt. Auf den Beifahrersitz." Sie zeigt auf den leicht rostigen Gepäckträger. "Ein Fahrrad hat keinen Beifahrersitz", murmele ich, obwohl ich mich eigentlich längst entschieden habe (und mich damit selbst überrascht habe). "Ist das ein Ja?". "Ich schätze schon."
Ohne ein weiteres Wort mit mir zu wechseln greift sie nach ihrem Lenker und schwingt ein Bein elegant über das Fahrrad. Ihr aufmunternder Gesichtsausdruck führt dazu, dass ich meine leichte aufkommende Angst herunterschlucke und hinter ihr vorsichtig auf den Gepäckträger steige, der von Nahem zu meiner Erleichterung stabiler aussieht, als ich erwartet hatte. "Bereit?" Ich nicke und das ist eine verdammte Lüge, weil mich die Angst jetzt doch etwas überwältigt und mir plötzlich unangenehm bewusst macht, wie schmal dieses Stück Metall ist und wie schnell so ein Fahrrad eigentlich wird. Sie scheint mein Zögern zu bemerken, lächelt mir ein weiteres Mal aufmunternd zu und platziert meine Hände so auf ihren Schultern, dass ich mich gut festhalten kann. Sie schaut mir nochmal in die Augen mit diesem fragenden Blick , als wolle sie sich vergewissern, dass das hier okay ist. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter und nicke. Was soll den schon passieren. Margo nimmt die Füße von oben und plötzlich setzt sich das Fahrrad in Bewegung, sehr wackelig erst, mit zunehmender Geschwindigkeit jedoch immer sicherer. Die Häuser sausen an mir vorbei und ich weiß, dass das eine optische Illusion ist, dass ich mir etwas vormache, dass wir eigentlich gar nicht so schnell sind und an dieser Gewissheit halte ich mich fest. An dieser Gewissheit und an Margos Schultern.
Ich kann ihre Knochen spüren und vielleicht klammere ich mich zu fest, aber ich traue mich nicht, meinen Griff zu lockern. Nachdem der erste Schock überwunden ist, habe ich mich langsam beruhigt. Das hier ist gar nicht so anders als Skateboardfahren. Okay, ich sitze und Margo lenkt an meiner Stelle, aber der Fahrtwind im Gesicht ist wunderbar kühl und die Straße saust fast unmerklich unter unseren Füßen vorbei, während wir den Hügel in leichten Schlangenlinien herunterrasen, während Margo mit konzentriertem Gesichtsausdruck die Bremse betätigt, den Kopf schüttelnd um die Haare aus ihren Augen zu bekommen. Erst stört es mich, dass sie lenkt, dass ich ihr die Kontrolle überlassen muss, doch das schwindet mit jeder Minute, die wir fahrend verbringen. Sie lenkt und bremst und manövriert uns um alle Hindernisse herum, sodass ich mich schon nach kurzer Zeit seltsam sicher fühle. Als wir schließlich behutsam zum Stehen kommen, bin ich fast traurig, dass es vorbei ist und steige nur widerwillig ab, sehe mich dann in der Straße um, nur um zu bemerken, dass sie mir völlig unbekannt ist, dabei können wir unmöglich so weit gefahren sein. Kurz bin ich besorgt, weil ich absolut keine Ahnung habe, wo es nach Hause geht und weil ich Margo eigentlich gar nicht richtig kenne. Das ungute Gefühl in meinem Bauch verstärkt sich, als sie das Fahrrad an einem windschiefen Bauzaun anschließt und näher an den Eingang der Bauruine tritt, den er umschließt.
Es ist ein Hauskomplex oder zumindest das Grundgerüst von einem, vier Stockwerke und schätzungsweise fünfzehn Meter hoch, umgeben von hohen Bäumen, deren efeubedeckte Äste sich teilweise schon einen Weg durch die Fensteröffnungen gebahnt haben und Hinweis darauf geben, wie lange an diesem Haus schon nicht mehr gebaut wird. (Ziemlich lange.) "Kommst du?" Sie sieht mich mit fragendem Blick an. "Wohin?" Ich hasse, wie nervös ich klinge. "Da rein?", füge ich hinzu, in der Hoffnung diesmal etwas souveräner zu wirken. Es klappt nicht. Ihr Nicken überrascht mich überhaupt nicht, obwohl ich insgeheim gehofft hatte, dass ich ihre Zeichen falsch gedeutet habe und sie vielleicht das Haus daneben meint oder so, aber Fehlanzeige. "Ist das schlimm?" Sie klingt plötzlich unsicher, als wäre ihr gerade erst aufgefallen, dass ihr Vorschlag etwas ungewöhnlich ist. Ich mache eine vage Bewegung mit dem Kopf, die von Ja und Nein zu Auf keinen Fall alles bedeuten könnte. "Also, ich bin eigentlich mit Dorian da verabredet und wir treffen uns da öfters, ich schwöre das nichts einstürzen wird oder so." Ich suche nach Spuren von Sarkasmus oder versteckter Ironie in ihren Worten, doch da ist nichts außer der aufrichtigen Ehrlichkeit, die in ihrer Aussage mitschwingt. "Wir können sonst auch hier bleiben, wenn du willst."
Ich hebe den Blick und betrachte das Hausgerippe erneut mit prüfendem Blick, auf der Suche nach Rissen oder Spalten im Beton, irgendetwas eben, dass eine Einsturzgefahr implizieren würde, aber da ist nichts, natürlich nicht. Beton ist schließlich stabil und dieses Haus deswegen höchstwahrscheinlich auch. Trotzdem muss ich mich vergewissern, um meinen Alarm schlagenden Kopf zu beruhigen. Ja, sie ist sich sicher, dass alles stabil ist und nein, da kann nichts passieren und ja, sie kann gerne vorgehen, damit wenn überhaupt sie diejenige ist, die einen qualvollen Tod stirbt (das Letzte habe ich nicht gefragt, dass hat sie einfach so hinzugefügt, ihr verschmitztes Lächeln auf den Lippen, das ein paar kleine Grübchen um ihre Mundwinkel entstehen lässt. Es kostet zwar Zeit, aber sie denkt gar nicht daran, aufzugeben und nach ein paar Minuten hat sie mich davon überzeugt, dass das Haus mich nicht umbringen wird. Den Fakt, dass die leeren Balkon- und Fensterrahmen im Nichts Meter über einem Schuttberg enden und damit durchaus eine potentielle Gefahr darstellen, habe ich in den hintersten Winkel meines Hirns verbannt und versuche mit aller Kraft, ihn zu ignorieren.
Ich kann es selbst kaum glauben, aber eine halbe Minute später klettern wir über eben jenen Schuttberg, vom dem ich mir gerade noch ausgemalt habe, wie er sich anfühlen würde, wenn ich runterfalle, falls ich runterfalle und halten dabei immer ein paar Zentimeter Sicherheitsabstand zu dem rostigen Draht, der zu tückischen Schlaufen verflochten ist und hier überall rumliegt. Sie geht vor, weist mich hin und wieder auf ein Loch im Boden oder eine tückische Drahtschlaufe hin und es scheint sie überhaupt nicht zu stören, dass ich meine Schritte übervorsichtig setze. Eine weitere halbe Minute später stehen wir am Eingang, jeweils mit einem Fuß im hellen Tageslicht auf einer in blaue Plastikfolie eingewickelten Badewanne, die mehr schlecht als Recht vor den Eingang geschoben wurde und mit dem anderen Fuß im zwielichtigen Inneren des Hauses. Margo zögert keine Sekunde und betritt das Haus mit einem kleinen Hüpfer. Ich hole noch einmal tief Luft und folge ihr.
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