Kapitel III

Ich gehe aus dem Zimmer und setze mich in den Wohnraum.
Dort lese ich in dem Geschichtsbuch, welches ich in den nächsten Tagen lesen soll, damit ich dann im Unterricht mit Sally weiterarbeiten kann. Den Nachmittag verbringe ich mit Lesen und Lernen.

Sally unterrichtet mich in Mathe, Geschichte, Chemie und Physik. Englisch, Wirtschaft und Informatik lerne ich eigentlich bei Daven, wenn er aufnahmefähig ist.
Im Notfall übernimmt Sally das auch immer noch.

Mehr Fächer habe ich nicht, Sally und Daven finden, mehr Fächer brauche ich auch nicht, Hauptsache ich bin grundgelehrt.

Irgendwann soll ich dann studieren oder eine Ausbildung anfangen. Ich weiß noch nicht, was ich werden will, am liebsten etwas mit Sprache und Literatur.
Mich interessiert Sprache und ich schreibe gerne Texte.
Crest wird vermutlich, wie sein Vater, Arzt und Sophia will etwas mit Musik machen. Sie spielt Klavier, Querflöte, Gitarre und Bratsche und singt wie ein Engel.

Gegen Abend höre ich Poltern aus dem Schlafzimmer und schaue nach, was passiert ist.
Daven scheint aus dem Bett gefallen zu sein, er liegt am Boden.
Er zuckt und zittert, seine Augen sind aufgerissen und glasig, sein Mund ist geöffnet.

Er sieht mich nicht, obwohl ich direkt vor ihm stehe. Ich stürze zu ihm und rüttel ihn wach. Er windet sich, versteift sich, dann entspannt er und nach kurzer Zeit richtet er sich auf: „Vinia, ich meine Lara, was ist passiert?"

Ich schaue ihn, immer noch panisch, an: „Du hast gekeucht und lagst zitternd und mit aufgerissenen Augen am Boden."
Er fährt sich nachdenklich mit der Hand über die Stirn: „Merkwürdig, ich habe nichts bemerkt, bis du mich geweckt hast."

Unsicher mustere ich ihn: „Willst du nicht doch lieber für längere Zeit ins Krankenhaus?
Sie könnten dir besser helfen und dich schützen, ich und Sally sind doch auch nicht immer da!"

„Und wenn ich im Schlaf und bei meinen Fieberträumen spreche?
Eher müsstet ihr mich umbringen, ich wäre eine Gefahr für euch. Niemand darf wissen, was im Hinterhaus ist, wer uns besucht und was unsere Pläne sind. Wir müssen-" „-schweigen, ich weiß!", ich bin immer noch nicht beruhigt und helfe ihm zurück ins Bett.

„Hallo Lara, bist du da?", Sally ist nach Hause gekommen.
„Ja, ich bin hier bei Daven", antworte ich. Sallys Schritte nähern sich, dann steht sie in der Tür: „Gleich ist die Übertragung der Interviews."

Sie zieht die Augenbrauen zusammen, sie merkt, dass eben etwas passiert ist, fragt aber nicht nach.
„Schauen wir im Wohnzimmer?", versucht Daven es zu überspielen. Sally nickt und holt den Rollstuhl. Zusammen hiefen wir ihn rein und schieben ihn in das Wohnzimmer.
Er bleibt in seinem Rollstuhl sitzen, ich und Sally setzen uns auf das Sofa. Wir schalten den Fernseher ein und sind gerade noch rechtzeitig.

Ceaser Flickermann, mit sonnengelben Haaren und Anzug, ist gerade bei seiner Begrüßung:„...Hungerspielen. Ich bin so gespannt, liebes Publikum, es wird einzigartig. Wie immer starten wir mit dem Mädchentribut aus Distrikt eins.
Darf ich vorstellen, Loona Gilberth, eine Freiwillige mit, wie man mir bereits verriet, gutem Modegeschmack, hoffen wir, sie ist auch nach eurem Geschmack, liebe Sponsoren."

Das Publikum lacht über diesen leicht billigen Witz und klatscht, als Loona die Bühne betritt.
Sie hat die caramellfarbenden Haare hochgesteckt bekommen und trägt ein knielanges, tiefblaues Kleid.
Sie schwebt nur so zu Ceaser und reicht ihm die Hand, er führt sich ins Rampenlicht und ruft: „Die Stylisten hatten auch Geschmack! Ein Applaus für den Stylisten dieses wunderbaren Kleides." Alles klatscht und ein Mann mit grüngefärbten Haaren und bläulicher Haut wird eingeblendet, der sich verbeugt.

„Liebe Loona, du hast dich freiwillig gemeldet, warum?", holt Ceaser die Aufmerksamkeit zurück.
Loona wirft eine Kusshand ins Publikum und lächelt dann charmant: „Weil ich unbedingt einmal mit Ihnen sprechen wollte, Ceaser, das ist gerade der schönste Moment meines Lebens. Getoppt wird er nur, wenn ich als Siegerin ein zweites Mal mit Ihnen spreche." „Oh, danke", Ceaser macht eine Geste, als wolle er schauen, ob er vor Charme rot angelaufen sei.

So ähnlich geht es den ganzen Abend. Ein Tribut kommt, Ceaser albert herum, der Tribut geht, Applaus für den oder die nächste.

Es ist langweilig, finde ich, deswegen suche ich als Zeitvertreib im Publikum nach Olivia. Sie sitzt wirklich in der dritten Reihe und hat ihre Haare orangeglitzernd gefärbt, passend zu ihren Tätowierungen und dem orangem Minikleid. Sie ist voll begeistert, lacht, ruft Kommentare rein und klatscht.
So leicht kann man glücklich sein...

Sally fängt an zu stricken, Daven schläft ein, ich flechte kleine Zöpfchen in meine Haare. Endlich ist Distrikt zwölf durch und wir können ausmachen.

Sally reckt sich auf dem Sofa: „Lara, mach du schon mal Trinken und Snacks bereit, ich bringe Daven schon in den Keller."
Wie mir gesagt laufe ich in die Küche und hole Schüsseln und Gläser aus den Regalen. Sally weckt ihren Mann und schiebt ihn in Richtung Keller, dort finden die Treffen statt. Ich tue Trauben, Apfelringe und Chips in die Schüsseln. Gleich werde ich bei meinem ersten Treffen sein, ob ich schon eine Aufgabe bekomme?
Ich hoffe nicht.

Es klingelt.
Sally läuft und kommt mit den ersten Rebellen ins Haus. Ich kenne sie vom Sehen, weiß aber ihre Namen nicht. Wieder klingelt es, diesmal an der Hintertür.
Diesmal muss ich wohl öffnen, denn Sally ist noch mit den ersten beschäftigt.

Ich lasse Tristan, Kathryn und Peter herein. Sie waren auch schon mal bei uns, als meine Eltern noch lebten. Immer abwechselnd klingelt es an den Türen oder klopft an den Glastüren im Wohnzimmer.
Sally und ich lassen um die zwanzig Rebellen herein.

Als letztes kommen Sophia, ihre Eltern, Crest und sein Vater. Ich begleite sie in den Keller, wir reden nicht. Dazu ist die Stimmung zu angespannt.

Im Besprechungsraum steht ein langer Tisch mit etwa vierzig Stühlen. Einige sind frei, sie stehen für gestorbene Mitglieder des engsten Rebellenkreises.

Crest, Sophia und ich setzen uns nicht, wir haben noch keine Plätze.
Daven lächelt uns aufmunternd zu: „Liebe Freunde, hier kommt unser jüngster Zuwachs. Crest, Sophia und Lavinia können uns große Hilfen sein, sie sind diejenigen, denen ich den Auftrag übertrage, über den wir beim letzten Mal diskutiert haben."
Ängstlich werfe ich meinen Freunden einen Blick zu, beide sehen begeistert aus, sie denken nict an die Gefahren. Gerade einen Auftrag kriegen, wollte ich nicht und jetzt ist es doch der Fall! Bei Aufträgen kann soviel passieren, so viel schief gehen, wir könnten sterben!

Daven zeigt auf drei Stühle, ihm gegenüber. Wir setzen uns, noch während ich mich niederlasse, weiß ich schon wessen Stuhl das war. Das macht mich noch mehr fertig, ich bin kurz davor, meine Kontrolle über die Angst in mir zu verlieren.

Sally lächelt traurig: „Die Stühle von Alexis, Flora und Desmond."
Flora-Meine Mum.
Desmond- Mein Vater.
Alexis- Meine Tante.

Ich sitze auf dem ersten, dem meiner Mutter, Crest auf dem meines Vaters und Sophia sitzt auf Alexis Stuhl. Es ist schrecklich ihre Plätze einzunehmen.
Es ist, als würde man sie ersetzen wollen und die Vorstellung tut weh. Sie ließen ihr Leben, aber es ist jetzt wichtig, die Lücken wieder zu füllen, über den Schmerz hinwegzukommen.

Daven beginnt nun offiziell die Versammlung: „Schön, dass alle da sind. Ihr seid Teil einer guten Sache. Zuerst, gibt es irgendwelche drastischen Neuigkeiten?"
Niemand sagt etwas, Daven fährt fort: „Da sonst nichts auf dem Plan steht, wenden wir uns direkt dem Auftrag zu. Crest, Sophia und Vinia, ihr seid nun Teil der Rebellen und werdet nun eure erste Aufgabe bekommen, sie ist nicht groß, aber ein Anfang. Im Grunde ist es nicht sehr gefährlich, es ist eine kleine Spionage Aufgabe. Ihr müsst nicht viel tun, außer unauffällig ein paar Leute zu belauschen. Am Freitag ist eine Besprechung einiger oberer Friedenswächter im „Fireworker", dem Lokal in der Tempelsmith- Allee. Ihr geht getarnt dorthin und tut, als wärt ihr normale Gäste. Wenn ihr das Gefühl habt, ihr habt genug gehört, geht ihr wieder."

Das klingt nicht zu gefährlich, ich bin beruhigt und meine Anspannung und Angst lassen etwas nach.
Crest und Sophia sind Feuer und Flamme, sie wirken nicht die Spur besorgt, das macht mich noch ruhiger.

Daven sieht uns der Runde nach an und wir nicken zustimmend.
Ich streiche mit meinen Fingerspitzen über die Stuhllehne und habe das Gefühl, dass meine Eltern stolz auf mich wären, ich führe jetzt ihr Ziel weiter.
Sie sind nicht umsonst gestorben.

„Gut, dann haben wir nicht mehr viel", stellt Sally fest.
Plötzlich donnert es oben an der Tür, wir erstarren.
Sofort springt Sally auf und legt den Finger an die Lippen. Sie und ich laufen nach oben, Sophia und Crest folgen uns. Wir machen die Tür vom Keller zu und schieben einen Schrank davor, schließen die anderen ein, um sie zu schützen.
Sie sind nicht bewaffnet und eine Flucht wäre unmöglich, ihre einzige Chance ist, nicht entdeckt zu werden.

Wir haben nichts besprochen, trotzdem rennen wir gleichzeitig in den Wohnraum, während Sally zur Tür eilt und öffnet: „Verzeihung, ich war noch mit Stricken beschäftigt!" Ihre Stimme ist kontrolliert und fröhlich, niemand könnte bei ihrem Theaterspiel Verdacht schöpfen.
Sie hat viel Übung.

Eine tiefe Männerstimme erklingt: „Wir haben die Information, das sich bei ihnen illegale Treffen bilden." „Wie? Das ist nicht möglich", immer noch ist Sally nach außen hin entspannt.

Ich komme ganz gemächlich in den Flur geschlendert: „Was ist denn los? Was für illegale Treffen?" Hoffentlich klinge ich nicht zu scheinheilig.
„Spiel nichts vor, Mädchen. Du und alle, die im Haus sind, gehen mit erhobenen Armen aus der Wohnung", der Friedenswächter zeigt mit dem Gewehr auf meine Brust.

Panisch schaue ich zu Sally, die zieht die Augenbrauen zusammen: „Das gehört sich aber nicht. Wir wollten gerade einen Spieleabend zur Feier der Hungerspiele machen. Crest, Sophia, kommt doch mal her."
„Mit erhobenen Armen!", erinnert der Friedenswächter an der Tür.

Er richtet sein Gewehr auf die Wohnzimmertür.
Crest und Sophia haben überraschte Gesichtsausdrücke, in Lebensgefahr werden wohl alle zu guten Schauspielern.
Sally sieht mir direkt in die Augen: „Geht ihr drei doch nochmal spazieren, bis wir es hier geklärt haben."

Wir sollen fliehen, ich schüttel den Kopf. Sie kneift befehlerisch die Augen zusammen: „Keine Widerrede. Das tut dir auch gut, mit deiner mentalen Schwäche." Ich spiele mit und rufe sofort Tränen in die Augen: „Das ist mir hier zu viel Stress, können Sie uns nicht einfach in Ruhe lassen?" „Nein. Geh, Mädchen."

Anscheinend geht der Friedenswächter davon aus, das wir drei zu jung und unschuldig sind.
Wir verlassen mit gehobenen Händen das Haus und marschieren langsam die Straße entlang. Den Hauseingang lasse ich nicht aus dem Blick. Während wir hier gehen, durchsuchen die Friedenswächter das Haus und töten vielleicht meine zweite Familie.

Eine Straße weiter, bekomme ich Angst. Die Angst kommt in mir hoch, fesselt meine Gedanken und schnürt mir die Kehle zu.

Ich stürze zu Boden und kralle meine Fingernägel in mein Gesicht. Ich höre nichts, sehe nichts und spüre nur die Kälte in meinem Herzen.

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