Kapitel II

„Lari, ich rede mit dir", Sophia wackelt mit ihrer Hand vor meinen Augen hin und her. Ich schrecke hoch und schaue meine beste Freundin an: „Tut mir leid, war in Gedanken."
„Ich habe dich gerade gefragt, ob du wieder Albträume hattest", lacht diese.
Ich nicke: „Besonders in der Zeit der Hungerspiele ist es schwerer."
„Können wir dir irgendwie helfen?", will Crest neben mir wissen, der mir einen Arm um die Schulter legt.

„Lenkt mich einfach ab", ich bin ihnen vor allem dankbar, dass sie da sind, das reicht für mich.

Sophia lächelt aufmunternd, schon das heitert mich auf und ich erwidere das Lächeln zaghaft.

„Heute sind die Interviews", Crest starrt in die Ferne und beobachtet etwas, was nur er zu sehen scheint. Das macht er immer, wenn er über etwas nachdenkt.
Ich schlucke und gucke zum Bildschirm, der gut sichtbar für den ganzen Platz an der Wand des Schulgebäudes hängt. Übertragen wird eine Zusammenfassung über die diesjährigen Tribute.
Sie zeigt, wie die Tribute aufgerufen wurden oder sich freiwillig gemeldet haben, wie sie bei der Eröffnungsparade aussahen, was ihre Namen und Alter sind und welche Punktzahl sie von den Spielmachern für ihr Einzeltraining bekommen haben.

Bald wird nur noch einer oder eine von ihnen leben, dann sind sie fast alle tot. Und warum?
Sophia schüttelt sich und wispert dann: „So viel Tod, so viel Grausamkeit für nichts. Es ist schrecklich."

„Was ist schrecklich?", Olivia Daisys, ein Mädchen aus Sophias Klasse, tritt neben sie. Wenn jemand die Hungerspiele ganz ohne die Grausamkeit sieht, dann die Familie Daisys. Sie sind das Gegenstück der Rebellen, sie wetten, schicken Sponsorengeschenke und sind vor allem dem Kapitol und dem Präsidenten voll ergeben.
Bei ihnen muss man vorsichtig sein, was man sagt.

Olivia hat ein junges Gesicht, blondgoldene schulterlange Locken, verschönerte Haut mit orangen Tätowierungen, wie zum Beispiel Ranken und Blüten, und falsche, unnatürlich lange Wimpern, an deren Enden winzige Strasssteinchen kleben. Bei jedem Wimpernschlag funkeln die Steinchen und lenken die Aufmerksamkeit auf sich.
Olivias Lippen sind künstlich geschwungen und blutrot, nicht durch Lippenstift, sondern durch Operationen.
Heute trägt sie ein dunkelrotes Kleid mit viel Tüll.
Ihre Eltern erlauben ihr alles und so ist sie trotz jungem Alter schon ein perfektes Beispiel für die Mode des Kapitols. Früher war ich auch begeistert, besonders weil alle immer so bunt und fröhlich aussehen.
Daven und Sally haben mir immer verboten, etwas an mir ändern zu lassen. Inzwischen bin ich ihnen unfassbar dankbar. Ich will keine Puppe auf zwei Beinen sein.
Sophia schaut Olivia skeptisch an, aber sie ist weise genug, nichts gegen die Hungerspiele in ihrem Beisein zu sagen: „Das Lara heute sich nicht mit uns treffen kann, damit wir zusammen die Interviews schauen können. Aber leider ist im Anschluss ihr Familienrat mit Festessen, deswegen muss sie zu Hause gucken."
„Schade", flötet Olivia, sie klimpert mit ihren Wimpern Crest an. „Ich bin heute im Publikum selbst. Wir sitzen in der dritten Reihe, ich lasse mir noch vorher die Haare passend färben, schließlich ist man nur alle paar Tage im Fernsehen."
Damit schreitet sie davon, nicht ohne Crest zu zuzwinkern.

Der lächelt kurz und verdreht dann die Augen, als sie wegguckt: „Wie kann man nur so hohl sein?"
„Naja, wir wären es auch, wenn Lari nicht wäre", verteidigt Sophia ihre Cousine. Sie und Olivia können sich nicht ab, aber Sophia ist es wichtig, immer alle fair zu behandeln.

Ich schaue nach rechts und links und sage dann leise: „Ich wäre auch so, wenn nicht ständig meine Familie mit mir zum Krankenhaus gehen würde..."
Das ist die Ausrede, beziehungsweise der Erkennungsatz für uns, wenn wir über die Rebellen sprechen.
Wir gehen zwar nicht davon aus, belauscht zu werden, sonst würden wir weniger kritisch dem Kapitol gegenüber sprechen, trotzdem sprechen wir nie außerhalb der Besprechungsräume über die Rebellen. Einige Ärzte sind tatsächlich Rebellen, doch der Deckname ist eher sarkastisch.

Offiziell bin ich nämlich mental schwach und kann deswegen nicht in die Schule gehen, unterrichtet werde ich zu Hause.
Wenn Leute kommen, um mich zu begutachten, breche ich immer auf Kommando in Tränen aus und so darf ich seit Jahren zu Hause bleiben.
Der echte Grund sind meine Angstanfälle und dass ich Botschafterin der Rebellen bin.

Ausgesucht habe ich es mir nicht, aber früher wollten die Rebellen umgehen, dass ich mich in „kindlichem" Übermut verplappere. Erst seit zwei Jahren darf ich mit anderen, fremden Menschen reden, erst seit zwei Jahren vertrauen sie mir und ich darf ein eigenes Leben führen.
Ich tue es weiter, für meine Eltern, für meine Adoptiveltern. Wüsste ich nicht, dass sie es für das Richtige hielten, beziehungsweise halten, würde ich niemals die ganze Zeit erdulden, eingesperrt zu sein.

Zu Sophia und Crest habe ich allerdings schon länger Kontakt.
Crest Vater gehört zu den Ärzten, die auch Rebellen sind, Sophias Eltern sind beide Spitzel in Form von engeren Beratern von Präsident Snow.
So erfuhren die beiden schon früh von mir und wir verbündeten uns, daraus entstand schon bald eine tiefe Freundschaft.

Seit ich auch allein das Haus verlassen darf, treffe ich mich mit ihnen, wenn sie Pause haben und vor der Schule auf dem Platz auf die nächsten Stunden warten.

Vorher trafen wir uns immer nur, wenn unsere (Adoptiv-) Eltern bei Besprechungen waren. Crest und ich sind jetzt seit einem Jahr zusammen, er und Sophia sind eher geschwisterlich befreundet.

Die Schulglocke klingelt und die zwei müssen wieder in das Gebäude.
Ich hauche Crest einen Kuss auf die Wange, umarme Sophia und schaue ihnen zu, wie sie ihre Taschen packen und sich dann abwenden.

Da fällt mir noch etwas ein, was ich sagen muss, auch wenn mir eher unwohl dabei ist: „Sally sagt, ihr seit jetzt Familie genug, um nach dem Interview an unserem Familientreffen teilzunehmen."
„Das sagst du jetzt?", Crest fährt herum und sieht mich mit geöffnetem Mund an. Familientreff ist natürlich die Bezeichnung für Rebellenversammlung.

Bis jetzt durften wir drei nicht bei den geheimen Treffen dabei sein. Das meiste erfuhren wir natürlich auch so, gerade ich, aber dabei sein ist etwas ganz neues. Besonders Crest und Sophia brennen darauf, endlich Teil der Rebellen zu werden.
Ich habe für meinen Teil eigentlich genug und finde, unsere Familien sind schon gefährdet genug, aber gut... Interessieren tut es mich schon auch, wie es dort abläuft.

Crest grinst und rüttelt dann an Sophias Schulter, reißt sich aber bei der Wortwahl zusammen: „Wir werden nun wirklich Geschwister. Ich bin dein älterer Bruder!"
„Vergiss es, ich bin weiser als du und deutlich reifer." „Reifer? Niemals!", lacht Crest und zusammen gehen sie nun wirklich rein, um nicht zu spät zum Unterricht zu kommen.

Allein laufe ich die Straße lang und zu unserem Anwesen, im reicherem Teil des Kapitols. Daven und Sally sind beide Erben gutverdienender Familien und haben selbst gut bezahlte Jobs. Sally arbeitet als Leiterin in einem medizinischen Labor, Daven ist Stylist von seiner eigenen Modemarke. Es läuft gut dafür, dass es ihm gesundheitlich nicht gut geht. Er entwickelt neue Kleidung auf einem Computer vom Bett aus, ich und Sally machen den Dokumentenkram.

Die Umsetzung und andere Entwürfe erledigen seine Mitarbeiter und Auszubildenen. Sämtliche Stylisten der Spiele haben bei ihm angefangen Erfahrung zu sammeln und sich einen Namen zu machen.

Das Anwesen ist groß und mamorfarbend. Im Gegensatz zu den Nachbarvillen ist es schlicht und einfach. Es ist groß, hat riesige Fenster und zwei mit Runen verzierte Säulen vor dem Eingang.

Ich laufe um das Haus herum und gehe durch die Hintertür rein.
Dort ist theoretisch der Bereich der nicht existierenden Avoxe.
Daven und Sally würden es nie über sich bringen, Leute, die vom Kapitol bestraft wurden, für sich arbeiten lassen zu müssen.
Der hintere Teil des Hauses dient allein Rebellen, die mal eine Nacht bleiben müssen. Es sind mehr, als man denkt. Ich gehe durch die winzige Küche und öffne dann die Tür zum Wohnbereich von uns.

Zuerst schaue ich nach Onkel Daven. Er schläft, Schweiß rennt ihm von der Stirn, sein Gesicht ist schneeweiß.
Im Raum stinkt es nach Krankheit und Schweiß, ich mache eines der Fenster auf.

Auf dem Nachtisch steht ein Tablett mit einer Teekanne, einer Tasse, einem Glas Wasser und Medizin. Sofort wird mir unwohl, er hat seine Tabletten noch nicht genommen, dann kann es natürlich auch nicht besser werden. Ich nehme das Tablett mit und stelle es in der Küche ab.
Dort koche ich neuen Tee, fülle das Wasserglas auf, wasche die Tasse aus und schneide Äpfel und Birnen und schäle eine Orange. Vitamine helfen immer, sagt der Arzt, also sorge ich dafür, dass Daven viel Obst isst.

Ich trage das Tablett zurück und lege meinem Adoptivvater einen kalten Lappen aus dem Bad auf die Stirn.
Er stöhnt erleichtert, wacht aber nicht auf, so sehr nehmen ihn die Fieberträume ein.

Es ist traurig mitanzusehen.
Seit dem Tod von Mutter und Vater sind er und Sally wirklich wie Eltern für mich und ich liebe sie auch so.

Niemand weiß, was Daven hat, die Krankheit macht ihm jetzt seit drei Jahren zu schaffen.

Es fing mit großer Erschöpfung an, führte sich weiter zu Husten, der nicht mehr verschwand, zu emotionalen Abwesenheiten, zu Fieber und Schüttelfrost bis zu so einer Schwäche, dass er kaum das Bett verlassen kann. Wir haben einen Rollstuhl für ihn, die Ärzte forschen und geben ihr bestes, es bringt alles nichts!

Womöglich wird es so bleiben, bis er dann einen frühen Tod stirbt...

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