Kapitel 6
Kapitel 6
Ich brach zusammen. Ich war überfordert mit der ganzen Situation. Ich wusste, dass meine gesamte Welt, alles was ich zu kennen geglaubt hatte, zu Luft geworden war. Ich musste neu anfangen. Mich neu orientieren. Neue Prioritäten setzen. Langsam konnte ich die Welt um mich herum wieder sehen. war ich wieder zu Hause? Hatte ich nur geträumt? Nein, vor meinem Gesicht schwebte das Ding rum, und fächelte mir nervös mit einem Blatt, das größer als sie selbst war, Luft zu. Erschöpft ließ sie das Blatt fallen und sank auf meinen Schoß. „Puh, du lebst noch! Zum Glück, sonst hätte ich ein riesen Problem. Ich würde vorschlagen, wir fangen noch mal neu an. Hallo, ich bin Felicity. Wie darf ich dich nennen, Nachkommin Evas?" Sie streckte mir ihre Hand entgegen. Ach was soll's? Dann würde ich eben noch mal komplett neu anfangen: „Ich heiße Mona." Ich reichte ihr meinen Hand, den sie übermütig zu schütteln begann. „Also Mona, ich denke, ich habe dir einiges zu erzählen. Dafür gehen wir am Besten, an einen anderen Ort." Sie entfaltete ihre kleinen Flügel, die aussahen, wie aus Spinnenweben gemacht, und flog voraus in Richtung lila Wald. Mir war bewusst, dass Oma Frieda den Namen Felicity erwähnt hatte und, dass sie mich gefragt hatte, ob ich ein Wesen mit diesem Namen kannte. Damals hatte ich mir nichts dabei gedacht. Doch. Ich hatte gedacht, sie sein verrückt.
Felicity flog den Weg entlang, zu einem Wald. Manchmal, stellte man sich einen Wald ja eher gruselig und düster vor, doch dieser Wald, warf alles, mir bekannte, auf den Kopf. Die Bäume hatten keine grünen Blätter, sondern rosa-lilafarbene. Und so, wie bei uns Äpfel und Birnen an den Bäumen hingen, waren hier Blüten zu sehen. An den Bäumen hingen Blüten in allen Tönen, die es zwischen rosa und lila gab. Manche leuchteten von Innen, als würde dort eine Kerze brennen. Einige waren geöffnet, andere wiederum geschlossen. Mir fiel vor Allem auf, dass die Bäume gigantisch groß waren, und ihre Blüten mindestens so groß, wie mein Zimmer zu sein schienen. Felicity führte mich an allen vorbei zu einem alten Baum, der wie das Zentrum der anderen Bäume wirkte. Er war größer, älter und mächtiger als die Anderen. Sie hielt endlich an. „Gibst du mir bitte den Schlüssel?" „Den Schlüssel? Ich habe keinen Schlüssel!" Sie drehte sich genervt zu mir um. „Du bist ein Mensch, du kannst in die andere Welt reisen. Du bist unser Retter, auf den wir seit etlichen Monden warten. Du musst den Schlüssel haben. Sonst wärst du jetzt nicht hier. Ohne Schlüssel: kein Welten wechseln."
Unschlüssig schaute ich an mir herunter. In meinen Taschen war auch kein geheimnisvoller Schlüssel, der plötzlich zu mir gekommen war. Da entdeckte ich die einzige Möglichkeit. Ich nahm die Kette ab und trat zum Baum hervor. Felicity deutete auf das Schlüsselloch und als sich der kleine Schmetterling dem magischen Baum nährte, verbogen sich die Drähte, die zuvor als Fühler gedient hatten, zu einem kleinen Schlüssel, der tatsächlich in das Schlüsselloch passte. Vom Schlüsselloch aus, wuchs eine funkelnde goldene Linie, den Baum entlang bis hin zur Krone. Von dort aus ging sie einen Ast entlang, und wurde zu einer seltsamen, goldenen, riesigen Frucht. Sie fiel vom Baum und Felicity fing sie mit ihrem ganzen Körper auf. Mit aller Kraft, hievte sie das apfelartige Etwas vor meine Füße, ich berührte es und es wurde so groß, wie meine Hand. Felicity entspannte sich etwas. Ich wurde dafür umso nervöser. Was machte ich überhaupt hier? Anstatt irgendetwas zu hinterfragen wollte ich die Frucht essen? Vielleicht war sie ja vergiftet? Ein bisschen mehr Vorsicht Mona! Aber dieses Gefühl sagte mir, dass es richtig war. Und Oma hatte gesagt, ich solle auf meine Gefühle hören.
Mit einem Seufzer führte ich das Etwas zum Mund. Aus den Blüten an den Bäumen waren inzwischen einige Wesen gekommen, die im Prinzip aussahen, wie Felicity. Erwartungsvoll schauten sie mich an. Ich zögerte kurz, dann biss in den goldenen Apfel. Ich spürte einen unbeschreiblichen Schmerz in meinem Rücken und mir wurde schwarz vor Augen. Aber nur für einen kurzen Moment, denn direkt danach wurde ich von einem Gefühl erfüllt, dass es mir unmöglich machte, ohnmächtig und unaufmerksam zu werden. Ich fühlte, wie sich etwas in mir ausfüllte. Etwas, das schon mein ganzes Leben gefehlt hatte. Ich konnte es einfach nicht beschreiben. Weil ich aber nicht Supergirl war und jeden Schmerz aushielt ohne erschöpft zu sein, sackte ich auf dem Boden zusammen. Dort blieb ich erst einmal liegen und sammelte meine Kräfte. Ich fühlte mich, als hätte jemand mehrere Schalter in meinem Kopf umgelegt. Als hätte mein Leben nun einen Sinn.
Langsam stand ich auf. Ich hob den Kopf und blickte in verschiedene Gesichter. Einige waren mit purem Glück und Vertrauen gefüllt. In Anderen sah ich Ungläubigkeit und Entsetzen. Bei wieder Anderen entdeckte ich Mitgefühl. Doch das alles, änderte nichts daran, dass ich mich wie die Verkörperung des Glücks fühlte. Während ich in meinen Gedankenschwall vertieft war, knieten die Wesen ehrfürchtig vor mir nieder. Völlig überfordert verneigte ich mich kurz, wobei ich an mir herunterblickte. Und ich traute meinen Augen nicht. Ich war nackt! Vollkommen entblößt stand ich vor einer riesigen Menge von Wesen, die sich vor mir verbeugten, und ich war nackt?!Ich musste träumen. Bisjetzt war es sogar ein relativ schöner Traum gewesen. Mal eine Abwechslung zusprechenden Büchern und leuchtenden Runen. Aber dieser Teil war typisch fürmeine Träume. Egal ob ich gerade mit dem hübschesten Jungen der Schule redeteoder im Schwimmunterricht meinen Badeanzug vergessen hatte. Immer war ichnackt. Jetzt würde ich hoffentlich bald aufwachen. Aber anstatt meine gewohnte Umgebung zu sehen, spürte ich, wie mir unbeschreiblich viel Blut in die Wangenschoss. Doch die anderen Feenwesen, schien dies nicht im Geringsten zu stören, sie schauten wie gebannt auf meinen Rücken. Hilflos sah ich umher, da kam mir Felicity entgegen. Sie reichte mir ein weinrotes Kleid. Es war wunderschön. Es hatte einen kleinen Gürtel in der Taille, der aussah, als wäre er aus hellbraunen Zweigen geflochten. Der Ausschnitt war tief, wirkte aber genau angemessen. Eine andere der Wesen gab mir silberne Stiefelletten, die, wie ein Regenbogen, schimmerten. Ich dachte gerade, wie sehr sie mich an meine Schmetterlingskette von Oma erinnerte, als mir bewusst wurde, dass ich die Kette gar nicht trug.
Felicity sah meine Blicke: „Du wirst sie gleich, aus dem Schlüsselloch ziehen." Sie zwinkerte mir zu. Ich nahm die Kleidung und zog mich um, während Felicity eine Art Sichtschutz aus Sonnenlicht vor mir errichtete. „Diese Wesen haben also auch noch Zauberkräfte." Dachte ich mir, während ich das unbeschreiblich schöne Kleid anzog. Es passte wie angegossen. Die Stiefelletten waren wunderschön und es fühlte sich an, als liefe ich auf Wolken. Sie waren sogar bequemer, als meine Sneakers zu Hause. Zu Hause... Hatte ich überhaupt noch ein zu Hause? Oder lebte ich jetzt hier? Ich beschloss, diese Frage später noch einmal aufzugreifen. Eines der Wesen hatte mir einen Spiegel gebracht, in dem ich mich nun betrachtete. Um Himmels Willen! Was war mit mir passiert? Verstehe mich nicht falsch, das Kleid und die Stiefelletten sahen super an mir aus. Aber aus karamellbraunen Augen schaute mich eines der Wesen an.
Im Spiegel sah ich ein Gesicht, immer noch mein Gesicht, nur mit einer kleineren Stupsnase und vor Staunen großen Augen. Meine dunkelbraunen gewellten Haare waren geblieben, waren aber um einiges länger geworden. Sie gingen mir nun bis zum Ellenbogen. Vorher waren sie Schulterlang gewesen! Ich hatte einen kleinen Hals, darauf folgte mein Körper. Ich sah unmenschlich schmal aus. Elfengleich...Das Kleid ging mir bis zur Mitte des Oberschenkels. Meine Beine waren dünn so dünn, wie man es bei einer Fee erwartete. Meine Füße steckten in den tollen Stiefelletten. Ich drehte mich um und mir entfuhr ein kleiner Schrei. Auf meinem Rücken waren Flügel. Pechschwarze Flügel. Das war also der Schmerz auf meinem Rücken gewesen. Mir waren Flügel gewachsen. Mit dem Gedanken, sie zu entfalten, breiteten sie sich aus und ich sah sie in ihrer ganzen Pracht. Sie waren etwa so groß wie mein gesamter Körper und gigantisch breit. Nicht etwa so winzig, wie die von Felicity. Sie waren leicht durchsichtig und hatten die Form des schönsten Schmetterlings der Welt. Wie kleine Adern bei einem Blatt, waren sie von silbern schimmernden Linien durchzogen. Dieses Silber, schimmerte so, wie meine Stiefelletten und die Schmetterlingskette.
Hinter mir war Felicity aufgetaucht. „Sie sind wunderschön." Vorsichtig führte sie ihre Fingerspitzen an meinen Flügeln vorbei. „Ja. Ich habe nie etwas Schöneres gesehen." Sie ließ die Hand sinken. „Es ist so weit. Du musst den Schlüssel aus dem Schloss ziehen. Wenn du es schaffst, wird es ein großes Fest geben. Zu dem alle Feen eingeladen werden. Auch die Königin der Feen, Silvana, wird kommen." Ich schluckte. „Und was ist, wenn ich es nicht schaffe?" Felicity senkte den Blick und grübelte vor sich hin. Eine andere Antwort, bekam ich nicht. Also ging ich durch den Lichtschwall und näherte mich dem Baum. Die komischen Wesen starrten mich an. Ich war eines dieser Wesen. Ich-war-eine-Fee! Inzwischen schien sich das gesamte Dorf der Feen vor dem Baum platziert zu haben. Einige saßen auf Baumstämmen, Andere auf dem Boden. Ich sah sowohl alte, als auch junge Feen, nur keine Baby-Feen. Das wäre auch zu süß gewesen.
Bis vorhin schienen noch Gespräche geführt worden sein, doch als ich wieder in ihrem Blickfeld war, war alles Reden verstummt. Eine unbehagliche und angespannte Stille folgte, in der ich mich ängstlich vor den mächtigen Baumstamm stellte. Doch das Schlüsselloch befand sich nun beinahe unter der Baumkrone. Wie sollte ich dort nur dran kommen? In die Stille hinein räusperte sich Felicity: „Mona, das ist die nächste Prüfung. Du musst fliegen." Flüsterte sie mir zu. „Ich kann nicht Fliegen!" Ich bekam panische Angst. Zuerst wurde ich – unfreiwillig! – in diese Welt geschickt und zur Fee und jetzt sollte ich auch noch fliegen? Vor unzähligen Feen? Das ging nicht! Beruhige dich sammele deine Kräfte! Zischte mir eine Stimme in meinem Kopf zu. Ok. Sie hatte Recht. Ich sammelte also meine Kräfte und versuchte, mich zu beruhigen. In Gedanken betete ich: „Bitte! Ich weiß nicht, wo ich hier gelandet bin. Nur, dass sie mich für ihren Retter halten. Ich weiß nicht, ob ich diejenige bin, die sie erwarten. Aber um das herauszufinden, muss ich fliegen. Ich muss den Schlüssel holen, sonst passiert, weiß Gott was, mit mir. Also bitte, bitte, lass mich fliegen!" Und ich atmete aus und stoß mich mit aller Kraft vom Boden ab. Zuerst dachte ich, ich würde nur springen und gleich wieder auf dem Boden aufkommen, doch im selben Moment, sammelten meine Flügel die Luft und stießen sie mit unmenschlicher Kraft von mir weg.
Ich flog tatsächlich! Es fühlte sich wunderschön an. Noch schöner, als Reiten! Ich näherte mich der Kette. Sie baumelte in dem Schlüsselloch verführerisch hin und her. Ich streckte meine Hand nach dem Schmetterling aus und berührte den Regenbogen-Schimmer-Flügel. Jetzt erleuchtete er den ganzen Wald, mit allen Farben, die man im Regenbogen erkennen konnte.Er fiel schon fast von alleine aus dem Schlüsselloch, das allmählich im Baum zu verschwinden schien. Schnell erfasste ich die Kette und zog sie mir über den Kopf. Unter Jubelrufen und wildem Geklatsche, landete ich wieder auf dem Boden. Ich grinste wie ein Honigkuchenpferd, als sich das Dorf in eine lange Schlange stellte, um mir zu gratulieren.
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