Kapitel 3 ✅




Den Rest der Nacht konnten sich meine Augen nicht von den Geheimnissen des Buches lösen und als mich völlig überraschend der Wecker aus meinen Gedanken riss, versteckte ich es unter meinem Bett. Schnell bürstete ich mir meine störrischen dunkelbraunen Wellen und machte mich fertig. Binnen Sekunden hatte ich mir mein Pausenbrot geschnappt und wollte gerade die Haustür zuziehen, als ein Schrei ertönte: „Maamaaa! D-das Buch ist w-weg!" Levin stapfte die Treppe hinunter. Die linke Hand am Geländer und in der Rechten sein Schnuffeltuch, das er zur „Unterstützung" überall hin mitnehmen musste. Ich schloss die Tür und atmete erleichtert aus. Dann wollte ich den Weg zur Bushaltestelle einschlagen, als mich ein einfaches „guten Morgen" aufschrecken ließ.

Aus eisblauen Augen sah mich mein Nachbar an und lächelte freundlich. „Guten Morgen", sagte ich etwas überrascht. „Ich bin Liam." Er streckte mir seine Hand hin, die ich freundlich schüttelte. „Mona", murmelte ich. Ich sah an Liam vorbei zu seinem Motorrad, das er am Straßenrand geparkt hatte. Er sah meinen Blick. „Soll ich dich mitnehmen?", schlug er vor und ich musste grinsen. Schüttelte aber den Kopf. „Ich muss noch eine Freundin abholen." Außerdem würde mein ich-bin-Hirnamputiert-und-möchte-nur-das-Beste-für-dich-kleiner-Monabär Stiefvater mich umbringen, wenn ich mich auch nur auf so ein „Gefährt des Todes" setzen würde, fügte ich in Gedanken hinzu.

„Hast du dir mal überlegt, was alles passieren kann, Em? Sie könnte von einem Eichhörnchen abgelenkt werden, und würde gegen einen Baum fahren!" Das hatte er letztens meiner Mutter –die Emily und nicht „Em" hieß!- erzählt. Dass ich ritt stört ihn aber nicht im Geringsten. „Dann ist sie mal an der Luft!" meinte er. Dabei verunglückten von zwei millionen Menschen, die ritten jährlich dreiundneunzigtausend. Dazu sagte er, dass man Statistiken keinen Glauben schenken sollte.

„Schade", riss mich Liam aus meinen Gedanken. „Vielleicht morgen?", fragte er beinahe hoffnungsvoll. „Vielleicht", sagte ich und setzte mich in Bewegung. Dieser Typ war mehr als nur komisch. Aber für Christina wahrscheinlich genau das richtige. Ein Opfer, über das sie recherchieren konnte. So wie sie es gerne tat.

Die Verkehrsmittel waren hierzulande mehr als eingeschränkt. Das Dorf in dem ich wohnte lag abgegrenzt von allem was man auch nur im Entferntesten als Kleinstadt bezeichnen konnte. Ein Highlight in Fieldsburg: Eine Tankstelle an der es sogar Süßigkeiten und Zigaretten gab. Die Schule wollte ich wirklich nicht besser reden als sie war. Ein Gebäude, das von außen vor Trostlosigkeit und Langeweile nur so strahlte. Auto fuhr man hier nur um von diesem Ort weg zu kommen. Alles andere würde sich nicht lohnen. Jedes Nachbardorf konnte man zu Fuß erreichen ohne länger als zehn Minuten zu brauchen. Die anderen Orte boten Busse an, die gnädiger Weise auch durch unser Dorf mussten und uns zur Schule brachten.

Unsere Schule wurde von allen Kindern rund um die nächsten dreißig Kilometer besucht. Eine andere gab es nicht. Auf dem Weg zu besagter Haltestelle kam ich wie üblich an unzähligen kitschigen Vorgärten mit abenteuerlich bemalten Gartenzwergen vorbei. Christina und ich hatten ihnen im Laufe der Zeit Namen gegeben. Ich begrüßte also Seppi und Brummfisch während ich die alte Mrs.Jallys umrannte. Sie grüßte dann immer in verstellten Stimmen für die Gartenzwerge zurück und lächelte. Mrs.Jellys war im Gegensatz zu all den anderen älteren Damen hier eine wirklich angenehme Bekannte. Sie hatte zwar ein Fable für Katzen und violette Kniestrümpfe und roch immer nach trockenem Haarspray, aber sie war freundlich. Die Anderen schleiften morgendlich ihre Hunde, die aussahen wie Fleichklöpse über die unzähligen Wiesen und Felder. An solch einer Oma lief ich gerade vorbei und lächelte freundlich mein Mädchen-vom-Dorf-Lächeln.

Im Klischee hätte ich ihr jetzt über eine Straße geholfen oder ihr Einkaufstüten abgenommen. Nur, dass es in unserem Dorf weder einen Supermarkt, noch Straßen aus Asphalt gab. Ich wartete darauf, dass das villaartige Haus meiner besten Freundin Christina Mellony endlich am Straßenrand erschien und ich sie abholen konnte. Hier ähnelte beinahe jedes Haus einer Bonzen Villa. Die Einwohner dieses Dorfes investierten lieber in ihre Häuser als uns eine Möglichkeit des elektronischen Zeitvertreibs anzubieten. Ich wünschte mir einfach nur ein Handy. Allerdings bezweifelte ich, dass man hier auch nur ansatzweise Netz haben würde.

Ich sprang elegant über den kleinen Zaun des hübsch gepflegten Vorgartens – in dem glücklicherweise keine Gartenzwerge hausten – und lief begleitet von Chucks schallendem Bellen zur Haustür. Im Gegensatz zu den Fleischklöpsen war Chuck ein richtiger Hund. Einer, der mir wenigstens bis zum Oberschenkel reichte, den er nun hechelnd abschleckte. Er begleitete mich bis zum Eingang und machte es sich genau zwischen mir und der Haustür bequem. Mit dem Drücken der Klingel öffnete sich die Haustür und ich wurde vom Wirbelsturm erfasst: „Hey Mona, heute ist Dienstag, weißt du, was das heißt? Ich sag's dir: Wir haben Physik bei Herr Älmeyer!" Sie sprang über den blonden Riesen-Labrador und brauste an mir vorbei. Sie rannte vorbei an der Kreuzung, an der wir früher immer gespielt hätten, dass sie in eine andere Welt führen würde. Und es war deine Entscheidung, welchen Weg du einschlagen würdest. Diese »Andere Welt« war für uns die Schule. Wie naiv wir doch waren...

Ich rannte ihr hinterher. „Super! Eine Stunde, in der du zu nix zu gebrauchen bist. Kein Wunder, dass der Typ Sicherheitsabstand zu dir hält, so wie du dich an den ranschmeißt. Du brauchst dringend Hilfe, Chris!" „Ja, die Hilfe von Amor!" Sie schwebte an mir vorbei in den Bus, der gerade ratternd vor unseren Füßen hielt. Chris hatte schulterlange Locken, die dunkelrot gefärbt waren. Wie fast immer trug sie ihr Lieblingsoutfit: einen dunkelroten Rock und das schwarze Coca-Cola T-Shirt. Im Sommer mit einer Lederjacke und zu dieser Jahreszeit mit einem kurzen schwarzen Mantel im Marinestyle. Sie hatte die Ohren komplett durch gepierct und mit kleinen Silbersteinchen geschmückt. Und was natürlich nie fehlen durfte: Die schwarzen Lederboots! Egal bei welchen Temperaturen. Als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte (das war im Kindergarten gewesen. Schon damals hatte sie, nunja, außergewöhnlich ausgesehen), hatte ich gedacht, sie wäre eine Figur aus Alice im Wunderland. Aber nun, wo sie meine beste Freundin war, wusste ich, dass sie einfach nur verrückt war und somit ein idealer Ausgleich zu meinem langweiligen Leben. Der einzige Ausgleich zu diesem Leben.

Wir saßen wie gewöhnlich ganz hinten. Dort, wo in anderen Staaten immer die Coolen saßen. Aber hier war es einfach der Platz, auf dem man sich am wenigsten bei einem ruckartigen Stopp verletzen konnte. Aufgrund des Zustands unserer Transportmittel, war dies keine Seltenheit. Mit einem Lächeln fuhr ich über unsere Namen, die wir Anfang der ersten Klasse in die Sitzlehnen eingeritzt hatten. Das »a« von »Mona« war spiegelverkehrt und Chris hatte um ihren Namen bunte Aufkleber drapiert.

Chris redete bereits von irgendwas. Wahrscheinlich ging es wieder um karierte Hemden und das sie das Klischee schlechthin waren. Und dass meine beste Freundin dennoch drei von diesen Kleidern besaß.

Sie holte ihren Hefter raus und kritzelte geübt die Unterschrift ihrer Eltern auf ihre Klausur. Sie wusste, dass ich es hasste, wenn sie Leute betrug. Und, dass ich es hasste, wenn sie schummelte um sich rauszureden. Entschuldigend sah sie mich an. Ich seufzte.

Sie stopfte das Papier wieder in ihren karierten Rucksack, den sie mit bunten Buttons zugekleistert hatte. Der Bus ratterte und ächzte, als wir ruckartig vor einer älteren Dame mit Fleischklops anhielten, die die unebene Landstraße überqueren wollte. Sie winkte dem Busfahrer in aller Seelenruhe zu. Dann widmete sie sich ihrem hundeähnlichen Wesen, das inzwischen eingenickt war und zog es auf die andere Straßenseite. Winnie der Busfahrer, der schon mindestens neunzig Jahre alt sein musste, weil er sogar schon meine Großmutter zur Schule gefahren hatte, trat gehetzt aufs Gaspedal und setzte uns unverletzt in der Schule ab. Er nahm einem Klassenkameraden die unbenutzte Zigarette aus dem Mund und steckte sie ein. »Rauchen ist ungesund«, meinte er und der Junge nickte lachend. Winnie war hier sowas wie ein Mann für alles. Vor allem, weil er alles und jeden hier kannte und mit großgezogen hatte. Ich fragte mich, was er mir wohl über meine Mutter erzählen konnte. Ob sie schon immer so ignorant wie jetzt gewesen war?

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