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Kiara
15:48 Uhr
"Möchtest du noch etwas essen, bevor du baden gehst?", fragt mich Manuel, nachdem er mir meine Tür geöffnet hat, sodass ich aus dem Auto aussteigen kann.
Er hält mir seine Hand hin, doch trotzdem nehme ich sie nicht.
Absichtlich nicht.
Er befeuchtet schnaubend seine Lippen und muss sich danach ein Schmunzeln verkneifen. Er weiß, dass ich seine Hand aus einem bestimmten Grund nicht genommen habe. Er gibt mir die Kontrolle, also soll er auch zu spüren bekommen, wie es ist, wenn ich sie habe.
In den vergangenen Tagen hat er mir zwar auch die Kontrolle gegeben, aber ich habe sie nie richtig angenommen.
Das ändert sich jetzt.
"Ich denke, dass ich erst Baden gehe.", überlege ich laut und schließe die Autotür, bevor er es tun kann.
Auf der Autofahrt habe ich mir überlegt, dass ich kein Mitleid mehr will. Wir sind moralisch komplett verschieden, aber das ist kein Grund meine Person nieder zu machen. Ich sollte stolz drauf sein und meine Grenzen durchsetzen.
Es gibt keinen Grund vor ihm einzuknicken, außer dass er verdammt gutaussehend ist.
Ein kleines Spiel hat außerdem noch niemandem geschadet.
Manuel läuft neben mir her zum Haus und ich merke bereits jetzt, dass diese kleinen Gesten ihn stören.
Es kratzt unglaublich an seinem Ego, dass ich seine Hand nicht genommen habe und dass ich meine Autotür selber zu geschlagen habe.
Da muss er sich wohl einfach mehr durchsetzen, denke ich mir.
Ich stelle mich direkt vor die Haustür und will die Klingel betätigen, als sich blitzartig eine große Hand um mein Handgelenk legt und es vollständig umschließt.
Er sagt nichts, sondern schiebt mich regelrecht mit seinem trainierten Körper zur Seite und steckt den Schlüssel ins Schloss, nachdem er mein Handgelenk losgelassen hat.
Es stört ihn.
Und wie es ihn stört.
Aber vermutlich hält sein Ego ihn davon ab, etwas zu sagen.
Denn wenn er etwas sagt, verrät er sich.
Und das ist der Zeitpunkt, an dem ich wirklich zum ersten Mal die Kontrolle habe.
Er hat sie mir hingehalten - die ganze Woche - aber heute, just in diesem Moment, nehme ich sie mir.
Und es fühlt sich gut an.
Manuel schiebt die Tür auf und wartet bis ich über die Türschwelle trete.
Vergeblich.
Ich schaue ihn abwartend an und signalisiere ihm, dass er eintreten soll, aber er starrt nur auffordernd zurück.
Kurz öffnet er den Mund - ganz leicht - bis er seinen rechten Arm um meine Taille legt und mich mit einer Hand kinderleicht über die Türschwelle hebt.
"Manuel!", quietsche ich erschrocken und klammere mich an seinen Schultern fest, bis er mich hinter der Türschwelle wieder absetzt. Dann tritt er ins Haus und schließt - noch immer schweigend - die Haustür.
Ohne mit mir zu reden, dreht er mich um und zieht mir die Jacke aus, um sie an der Garderobe aufzuhängen.
Eigentlich erwarte ich, dass er als nächstes seinen Mantel auszieht. Aber er tut es nicht. Stattdessen hebt er mich federleicht auf das Sideboard im Flur und geht vor mir in die Hocke um meine Schnürsenkel zu lösen.
Diesmal kratze nicht ich an seinem Ego, sondern er an meinem.
"Ich kann das selber.", beschwere ich mich, doch er denkt nicht mal daran, aufzuhören.
"Und jetzt.", gibt er nüchtern von sich und streift mir die Schuhe von den Füßen.
An seinem Tonfall erkenne ich deutlich, dass er keine Antwort erwartet.
Ich schlucke meinen Stolz herunter und schaue hilflos zu.
Meine neuen Schuhe, die mittlerweile dunkelbraun und voller Schlamm sind, stellt er an die Seite und hebt mich dann wieder vom Sideboard.
Ohne den Blick von mir abzuwenden, zieht er seinen Mantel aus und hängt ihn zu meiner Jacke.
Mit aller Kraft versuche ich seinem arroganten Blick Stand zu halten, muss jedoch meinen Blick abwenden, als er beginnt nicht nur mein Gesicht, sondern auch meinen Körper zu mustern. Hitze schießt mir in die Wangen, während ich ihn siegessicher schmunzeln sehe.
"Komm.", nickt er in Richtung Treppe und will anscheinend, dass ich ihm folge.
"Ich mache mir erst was zu Essen.", entscheide ich mich um.
"Kiara!", ertönt seine raue Stimme, während ich mich umdrehe.
Seine Anspannung ist nicht zu überhören.
"Es reicht jetzt. Hör auf damit. Du machst mich verrückt.", brummt er und kommt auf mich zu.
"Warum? Ich will eben noch was Essen.", schüttel ich irritiert den Kopf.
"Gerade wolltest du doch erst baden gehen.", runzelt er die Stirn und stellt sich dicht vor mich.
"Jetzt aber eben nicht mehr.", zicke ich ihn an.
"Kiara.", beginnt er leise und beugt sie zu mir vor.
"Nur weil ich dir die Kontrolle gegeben habe, solltest du nicht so große Töne spucken - wenn du weißt, was ich meine.", flüstert er dicht vor meinem Gesicht.
"Du solltest wissen, dass ich nicht gerne spiele.", fügt er leise hinzu und entfernt sich dann. Bevor ich etwas erwidert kann, hat er seinen rechten Arm um meinen Rücken gelegt und seinen linken unter meine Kniekehlen, bevor er mich hochhebt und die Treppen hochträgt.
"Lass mich runter.", beschwere ich mich und halte mich an seinem Nacken fest.
Der Idiot schert sich nicht einmal um meine Worte, sondern trägt mich stumm durch den Flur, durch sein Zimmer und ins Bad.
"Ich kann alleine laufen!", brumme ich und boxe ihm gegen den Arm, nachdem er mich auf dem Boden abgestellt hat.
"Das habe ich nicht bezweifelt.", geht er nicht auf meine Zickerei ein, sondern lässt das Wasser in die Badewanne einlaufen.
Weil ich nichts mehr zu erwidern habe, schaue ich ihm einfach nur zu, wie er sich auf dem Rand der Wanne abstützt und die Wassertemperatur prüft.
"Ich will immer noch was essen.", meckere ich, weil er mir keine Aufmerksamkeit gibt.
Das hat ja wunderbar geklappt mir der Kontrolle, Kiara.
"Ich möchte, heißt das.", korrigiert er mich wie ein Lehrer.
Ich kneife meine Augen wütend zusammen, was er nur mit einem Lachen quittiert.
"Ich mache dir auch was, keine Sorge."
Manuel führt seine feuchte Hand an meine Wange und streicht mit dem nassen Daumen über meine Unterlippe, bevor er meine Stirn küsst.
Ich stocke.
"Man küsst Frauen nicht einfach auf die Stirn. Das ist ein Versprechen.", nuschel ich.
"Ich weiß.", erwidert er lediglich und verlässt dann das Bad.
Mein Herz rast.
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